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Das Südtiroler Netzwerk für Sportpsychologie schlägt Alarm: Die Pandemie-bedingten Einschränkungen für sportliche Aktivitäten haben fatale Folgen für die psychische, körperliche und kognitive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Die Sportpsychologin Monika Niederstätter erklärt, warum gemeinsame Bewegung vor allem im Kindes- und Jugendalter essenziell ist und erläutert die schon jetzt absehbaren Konsequenzen des Sportstopps. Im Frühjahr und Sommer sieht die ehemalige Leistungssportlerin eine Chance, bereits existierende Vereinsaktivitäten im Freien wiederaufzunehmen und neue Angebote zu schaffen.
Sie sind als Sportpsychologin für Leistungssportler tätig. Wie wirkt sich die Pandemie auf die Anfragen an euch Sportpsychologen aus?
Die Anfragen sind deutlich gestiegen. Vor allem Kinder und Jugendliche suchen direkt oder über ihre Eltern Hilfe. Vor der Pandemie kamen junge Sportler hauptsächlich deshalb zu uns, weil sie ihre Motivation nicht zügeln konnten oder allzu nervös waren. Jetzt stehen viele vor dem entgegengesetzten Problem: Sie sind traurig, fühlen sich nicht gut und können keine Motivation für den Sport aufbringen. Bei den Hobbysportlern, die seit beinahe über einem Jahr stillstehen, haben sich viele vom Sport abgewandt. Eltern wissen vielfach nicht mehr, wie sie ihre Kinder dazu motivieren können, sich überhaupt noch zu bewegen. Aber auch für die Leistungssportler, die teilweise trainieren dürfen, ist die Situation nicht leicht; Distanz halten, Angst, sich anzustecken… Das ist kein unbeschwertes Training.
Dabei ist der Bewegungsmangel vor allem für Kinder und Jugendliche fatal: Übergewicht, Stoffwechselstörungen, Bluthochdruck, aber auch Schäden am Knochen- und Gelenkapparat können entstehen.
Die körperlichen Folgen sind gravierend. Sport wird aber nicht nur für den Körper getrieben. Vor allem bei Kindern geht das Bewegungsbedürfnis viel weiter. Durch Bewegung lernen sie sich selbst und ihren Körper kennen und bauen Selbstbewusstsein auf. Sie sehen, dass sie etwas schaffen und sich das auch zutrauen können. Gleichzeitig lernen sie, wo ihre Grenzen liegen: Im Kindergarten glauben Kinder, alles zu können, irgendwann merken sie aber, dass ein Baum vielleicht zu hoch zum Hinaufklettern ist. Jedes Kind hat ein angeborenes Bewegungsbedürfnis. Weil Kinder aber viel flexibler sind als wir Erwachsene – sie wehren sich nicht gegen Abstandsregeln und Maske – riskieren sie, ihre Grundbedürfnisse zu verlernen. Wenn eine Familie nicht auf regelmäßige Bewegung achtet, verschwindet dieses Bewegungsbedürfnis. Langfristig bringt das gravierende Folgen für ihre motorische, kognitive und emotionale Entwicklung mit sich.
Bewegung und Sport spielen aber nicht nur für Kinder, sondern auch für Jugendliche eine wichtige Rolle. Warum?
Vor allem in der Pubertät sind der Rückhalt und die Anerkennung, die junge Menschen im Sport finden, essenziell. Ich war selbst Leistungssportlerin und weiß, wie befriedigend es sein kann, etwas zu schaffen, was man sich nicht zugetraut hätte. Nicht nur alleine, auch als Gruppe oder Mannschaft. Natürlich gilt dies nicht ausschließlich für den Sport. Die Musik beispielsweise kann ähnliche Genugtuungen mit sich bringen. Durch die Bewegung werden zusätzlich Stresshormone abgebaut und Glückshormone ausgeschüttet. Auch die kognitiven Fähigkeiten werden gestärkt und regeneriert. Viele Jugendliche leben für den Sport. Wird ihnen diese Leidenschaft genommen, fühlen sich viele hilflos und überfordert.
Eltern berichten, dass sich ihre Kinder gar nicht mehr über die Schulöffnung freuen, weil sie sich daran gewöhnt haben, das Haus nicht zu verlassen.
Die geltenden Restriktionen schränken vor allem Mannschafts- und Vereinstätigkeiten ein. Warum sind genau diese für Kinder und Jugendliche so wichtig?
Vor allem Jugendliche haben wenig Lust, mit ihren Eltern spazieren oder wandern zu gehen. Sie benötigen dringend ihre Gleichaltrigen. Sie brauchen die Gruppe, um Vergleiche zu haben, sich messen zu können, aber auch um Spaß zu haben und gemeinsam erwachsen zu werden. Die Schulöffnungen sind ein wichtiger Schritt, um Kinder und Jugendliche mit Gleichaltrigen zusammenzuführen. Viele empfinden die Schule aber als Pflicht; ihre Leidenschaft leben sie hingegen im Fußballtraining oder beim Sport. Hier hätten sie die Möglichkeit, unbeschwert zu sein.
Andere sind erleichtert, sich nicht mehr beim Schul- oder Vereinssport unter Beweis stellen zu müssen. Könnten sich die Einschränkungen für diese Kinder und Jugendlichen positiv auf ihr Wohlbefinden auswirken?
Im Endeffekt nicht. Das Problem liegt eher darin, dass in Südtirol der Schul- und Vereinssport noch sehr leistungsorientiert sind. Während manche Kinder und Jugendliche sich gerne messen, schrecken andere vor diesem Vergleich zurück. Vor allem bei jugendlichen Mädchen wird das Problem deutlich: Viele haben traumatische Erinnerungen an den Schulsport, weil sich herausgestellt hat, dass sie ungeschickt oder “nicht gut genug” sind. Als Reaktion darauf haben sie den Sport aufgegeben. Diese Erfahrungen riskieren sie ein Leben lang mitzutragen. Hier gibt es Handlungsbedarf, um Angebote zu schaffen, die nichts mit Leistung zu tun haben. Das Wegbrechen von Schulsport und Vereinstätigkeiten kann das Problem nicht lösen.
Welche langfristige Folgen können die momentanen Einschränkungen für Kinder und Jugendliche haben?
Wie aus deutschen Studien hervorgeht, haben schon jetzt viele den Vereinssport aufgegeben. Die Motivation, Kraft und Anstrengung für den Sport aufzubringen, ist vielfach verloren gegangen. Wir beobachten, dass sich immer mehr junge Menschen in ihre Zimmer zurückziehen und sich sozial isolieren. Vor allem der exzessive Gebrauch der Mediengeräte fördert ein passives Verhalten, an das sich Kinder und Jugendliche schnell gewöhnen. Eltern berichten, dass sich ihre Kinder gar nicht mehr über die Schulöffnung freuen, weil sie sich daran gewöhnt haben, das Haus nicht zu verlassen. Langzeitlich können so körperliche, aber auch psychosomatische Probleme entstehen, Depressionen und depressive Phasen, Schwierigkeiten, Herausforderungen anzugehen. Zudem beobachten wir schon jetzt, dass die Übergewichtigkeit unter jungen Menschen wächst.
Es sollte um die Freude an der Bewegung und am Sport gehen, nicht darum, wie viele Tore ein Kind schießt.
Wie können Kinder und Jugendliche zu Hause motiviert werden, sich wieder mehr zu bewegen?
Die Eltern müssen mit gutem Beispiel vorangehen. Hat sich die Trägheit in eine Familie eingeschlichen, so kann gemeinsam versucht werden, etwas daran zu ändern und sich wieder mehr zu bewegen. Vor allem gilt, den Leistungsgedanken zu vermeiden. Es sollte um die Freude an der Bewegung und am Sport gehen, nicht darum, wie viele Tore ein Kind schießt. Hier ist aber nicht nur die Familie gefordert. Vereine und Trainer müssen neue Angebote zu schaffen, um Kinder und Jugendliche über den Leistungsgedanken hinaus zu motivieren. Workouts im Internet sind auch deshalb erfolgreich, weil sie ohne den Vergleich, ohne das Sich-messen-müssen auskommen. Es bietet sich jetzt eine Möglichkeit, junge Leute durch neue Angebote aus ihrer Höhle zu locken.
Familien, Vereine und Trainer sind aber nur Teil der Rechnung. Was muss die Politik jetzt tun, um die gravierenden Folgen von Bewegungsmangel für Kinder und Jugendliche zu verhindern?
Der Vereinssport muss wieder zugelassen werden, und zwar nicht nur für Leistungssportler, sondern auch für jene, die sich zum Spaß körperlich betätigen möchten. Kinder und Jugendliche wissen, wie sie sich verhalten müssen. Sie haben sich ans Abstandhalten gewöhnt. Vor allem im Frühjahr und Sommer könnten viele Aktivitäten nach draußen verlegt und so das Ansteckungsrisiko eingeschränkt werden. Für Kinder und Jugendliche, deren Lebenserfahrung noch beschränkt ist, dauern die Pandemie und die Einschränkungen, die dadurch entstehen, viel länger als für Erwachsene. Für einen Fünfjährigen ist ein Jahr ein Fünftel seines Lebens. Im Leben einer Fünfzigjährigen entspricht diese Erfahrung zehn Jahren ihres Lebens. Umso wichtiger wäre es für Kinder und Jugendliche, durch gemeinsame Bewegung und Sport einen Hauch Normalität zurückzugewinnen.
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