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Eigentlich sollte Lamins Geschichte eine Erfolgsgeschichte sein. Vor zehn Jahren kam er aus Gambia nach Italien und übernachtete bis vor zwei Jahren als Obdachloser am Eisackufer in Bozen. Wie so viele andere obdachlose Migranten musste er zusehen, wie seine persönlichen Gegenstände, Kleidung und Schlafsack, von der Stadtverwaltung als Müll entsorgt wurden. Doch Lamin hielt durch. In Südtirol hat er Freunde gefunden, Einheimische, die ihm in jener schwierigen Zeit geholfen haben. Nachdem er endlich seinen Aufenthaltstitel bekam, fand er rasch eine Arbeit – und eine Wohnung in einer Berggemeinde in der Nähe von Bozen.
Lamins Geschichte könnte hier als Beispiel dafür stehen, wie durch individuellen Willen und durch Unterstützung aus der einheimischen Zivilgesellschaft Integration gelingt. Doch Lamins Geschichte zeigt auch etwas anderes: dass es ein Maß an Integration gibt, das in Teilen der Gesellschaft unerwünscht ist; dass es möglicherweise Menschen gibt, die ihre Position nutzen, um diese Integration zu behindern.
Der hier geschilderte Vorfall ist aus Lamins Sicht beschrieben. BARFUSS hat die Carabinieri in der zuständigen Gemeinde zwei Mal, zuletzt am 30. Oktober auf schriftlichem Wege um eine Stellungnahme zu den Vorwürfen gebeten. Bis zum Tag des Abschlusses dieses Berichts gab es keine Reaktion.
Es ist ein Tag im April, als Lamin an seinem neuen Wohnort von zwei Carabinieri auf offener Straße aufgehalten wird. Die Gesichter der Carabinieri kommen ihm bekannt vor. Zwei oder drei Mal haben sie ihn in der Vergangenheit bereits angehalten und ihn gefragt, was er hier zu suchen habe. „Ich wohne hier“, hat Lamin dann geantwortet und seine Papiere vorgezeigt. Ob er Arbeit habe? „Ja“, hat Lamin gesagt und Position und Arbeitsgeber genannt.
Doch dieses Mal lassen die beiden Ordnungshüter nicht locker. Sie scheinen Lamin nicht zu glauben und fordern ihn auf, sich zu seiner Wohnung begleiten zu lassen. Halb empört, halb verängstigt fragt Lamin: Warum? Habe ich etwas verbrochen?
Die Carabinieri wiederholen, er dürfe nicht hier sein.
Lamin fragt: Warum? Ich habe einen italienischen Aufenthaltstitel. Ist das hier etwa nicht Italien?
Er erinnert sich, dass die Carabinieri ihm geantwortet hätten: Das ist ein Touristenzentrum, Leute wie du gehören hier nicht hierher, die gehören nach Bozen.
Die Beamten bestehen darauf: Lamin müsse das Gemeindegebiet verlassen oder sie zu seiner Wohnung führen. Doch das verweigert er, er weiß, dass sie nicht das Recht dazu haben, erzählt er. Nun bekommt er Angst. Er befürchtet, dass es sich um eine Strategie handelt. Er soll in die Enge getrieben werden, er soll so lange belästigt werden, bis er die Geduld verliert und etwas Falsches sagt oder tut. Lamin bemüht sich also, ruhig zu bleiben. Aber er will sich die Traktierung auch nicht gefallen lassen. Er sagt Dinge wie: „Ich wohne hier, lasst mich gehen“ oder „Was, wenn ich selbst ein Tourist bin? Darf ich dann auch nicht hierbleiben, nur weil ich schwarz bin?“
Schließlich nehmen die Carabinieri Lamin auf ihre örtliche Gemeindestation mit. Drei Stunden muss er dortbleiben und warten. Lamin sieht, wie die Beamten gleichgültig an ihm vorbeigehen, sieht, wie sie vor dem Gebäude rauchen. Sie wollen ihn mit Absicht lange warten lassen, ist er überzeugt. Endlich stellen sie ihm ein paar Fragen, schreiben etwas auf und legen ihm ein Papier vor, eine Darstellung der Tatsachen aus ihrer Sicht. Für Lamin ist die Darstellung „Nonsens“. Entweder er unterschreibt oder er braucht einen Anwalt, warnt ihn der Beamte. Lamin weigert sich, zu unterschreiben, am Ende lässt man ihn doch gehen.
Auch ohne eine Gegendarstellung wirft Lamins Geschichte dringende Fragen auf: Wie verbreitet ist Rassismus unter den Ordnungshütern? Was wird intern dagegen getan, etwa mit entsprechenden Schulungen? Und welche Möglichkeiten haben Menschen wie Lamin, sich dagegen zu wehren?
Tatsächlich wurde 2010 der Osservatorio per la sicurezza contro gli atti discriminatori (OSCAD) als gemeinsames Organ von Polizei und Carabinieri eingerichtet, um Opfern von Diskriminierung durch staatliche Ordnungskräfte beizustehen. Fälle von Racial Profiling oder besonders offensichtlicher rassistischer Diskriminierung, wie jener von Lamin sein könnte, können hier gemeldet werden. Auf Grundlage der Meldungen sollen auf lokaler Ebene „gezielte Interventionen“ initiiert werden. OSCAD führt auch regelmäßig Schulungen mit Polizisten und Carabinieri durch, in denen auf Rassismus und Racial Profiling sensibilisiert wird.
Der Rechtsanwalt Alberto Guariso koordiniert einige dieser Kurse, die der Verein für die Studien im Immigrationsrecht (ASGI) gelegentlich für den OSCAD durchführt. Guariso findet die Kurse an sich wichtig und qualitativ gut, auch jene, die der OSCAD in Eigenregie durchführt, er kritisiert aber, dass nur wenige Kurse von unabhängigen, externen Organisationen durchgeführt werden. Der größte Schwachpunkt: Die Kurse sind fakultativ. Ob ein Angehöriger der Carabinieri jemals einen solchen Kurs besucht, hängt von seinen lokalen Vorgesetzten ab. „Es gibt zum Teil ganze Regionen, wo Polizei und Carabinieri nie in Bezug auf Rassismus und Diskriminierung sensibilisiert wurden“, sagt Guariso.
Auch mangelt es an rechtlichen Mitteln, mit denen Opfer sich wehren und die Täter oder Täterinnen zur Rechenschaft ziehen können. Lamin will seinen Fall nicht zur Anzeige bringen, zu groß ist die Angst, dass ihn dies noch mehr in die Bredouille bringen könnte – zumal die Diskriminierung von den Ordnungskräften selbst stammt. Warum also sollten ausgerechnet sie ihn nun schützen?
Rassistische Diskriminierung durch Sicherheitsbeamte kann bei den Betroffenen bleibende psychische Schäden hinterlassen. Diese sind, wie eine Studie der Heinrich Böll-Stiftung zu rassistischer Polizeigewalt in Deutschland aufzeigt, teils noch viel stärker, als wenn die Diskriminierung auf privater Ebene erfolgt wäre. Dazu gehört nicht nur das Misstrauen gegen staatliche Behörden, sondern auch ein tiefsitzendes Ohnmachtsgefühl durch mangelnde Handlungsmöglichkeiten, das Gefühl, ein unerwünschter Fremdkörper in einem feindlichen Staat zu sein, und die Angst, sich an bestimmten Orten aufzuhalten. Im Falle von Lamin ist es sogar sein eigener Wohnort.
Dringend notwendig wäre deshalb die Möglichkeit, Diskriminierungsfälle an unabhängige Organe zu melden, die die Täter oder Täterinnen auch juristisch belangen können. Diese Möglichkeit besteht für Betroffene aktuell nicht. Auch die Antidiskriminierungsstelle der Volksanwaltschaft in Bozen, die in diesem Jahr ihre Arbeit aufgenommen hat, bietet zwar Beratung und Unterstützung, kann aufgrund gesetzlicher Vorgaben jedoch keine Vertretung vor Gericht führen.
Lamin, der Protagonist dieser Geschichte, heißt eigentlich anders. Er wollte seinen Klarnamen nicht in den Medien sehen, weil er Angst vor den Konsequenzen hat, vor noch mehr Problemen mit den Behörden, falls seine Identität herauskäme. Seine Geschichte hätte er weiterhin nur mit sich herumgetragen und allenfalls privat weitererzählt. Aber sie hätte kein öffentliches Gehör gefunden und würde nicht hier auf BARFUSS stehen, wenn Lamin keine einheimischen Freunde mit Kontakten zu den Medien gehabt hätte. Dass man von seiner Geschichte weiß, ist also Zufall. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich bei ihm um mehr als nur einen Einzelfall handeln könnte.
Ihm gehe es gut in seiner neuen Südtiroler Heimatgemeinde, erzählt Lamin mit einem Lächeln. Nach vielen Jahren in der Obdachlosigkeit habe er sich endlich ein Leben aufgebaut. Das macht ihn stolz und gibt ihm Mut. Aber seit seiner letzten Begegnung mit den Carabinieri begleitet ihn eine gewisse Unruhe, wenn er sich draußen auf der Straße aufhält. Es könnten jederzeit dieselben Beamten wieder auftauchen, die ihn damals auf die Station mitgenommen haben.
Deshalb bleibt Lamin wachsam, wenn er an seinem Wohnort unterwegs ist, er will ihnen auf keinen Fall wieder begegnen. Ein paar Mal hat er sie von weitem erkannt, er machte dann einen weiten Bogen und verspürte ein merkwürdiges Zittern in sich. Ob es aus Aufregung oder Angst oder Wut war, kann er nicht mehr genau sagen.
Hier können Betroffene Unterstützung bekommen und Diskriminierungen seitens der Ordnungskräfte melden.
Servizio Giuridico antidiscriminazioni des Vereins ASGI:
Tel: 0039 351 554 2008
E-Mail: antidiscriminazione@asgi.it
Webseite: www.asgi.it
Anwältin Dr. Chiara Bongiorno: bongiorno.chiara@gmail.com
Osservatorio per la sicurezza contro gli atti discriminatori (OSCAD)
E-Mail: oscad@dcpc.interno.it
Webseite: www.carabinieri.it/arma/partners/osservatorio-per-la-sicurezza-contro-gli-atti-discriminatori-oscad
Antidiskriminierungsstelle der Volksanwaltschaft in Bozen
E-Mail: info@antidiskriminierungsstelle.bz.it oder info@centrotuteladiscriminazioni.bz.it
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