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Ich sitze in meiner Küche und blicke über die Dächer. Draußen färben sich die Bäume langsam münsterfarben. Ein paar Gassen weiter spielt eine Drehorgel. Menschen wuseln auf und ab. Manche eilen geschäftig voran. Andere üben sich in der Kunst des Flanierens. Süße Düfte dringen aus den Patisserien. Ich seufze. Tausend Liebeserklärungen würden nicht ausreichen. S-t-r-a-s-b-o-u-r-g. M-o-n a-m-o-u-r. Wieder und wieder verzauberst du mich. Bis ich sag zum Augenblick: Verweile doch! Du bist so schön!
Vergnügt neige ich den Kopf aus dem Fenster. Gleich gegenüber wohnte er einst, der Herr Goethe. Eine Plakette zeigt es an. Ob er es wohl genauso genossen hat, von seiner guten Stube aus das rege Treiben da unten zu beobachten?
Und da, urplötzlich, rieche ich, taumle gar: Heiße Kastanien. Daheim. Noch bevor mein Geist die Worte „Kastanien“ findet, bin ich dort. Meine Madeleine de Proust. Herbstlicht glänzt im Garten. Schwarz sind unsere Finger. Bald auch die Apfelsaftgläser. Wir führen Gespräche über die Nachbarn. Und Berge.
Hier wie dort. Bunt schillernde Farben, warme Gesichter, vertrautes Lächeln. Ich finde mich wieder. C’est bien de partir parce que c’est bien de revenir. Gedankenverloren schau ich hinab. Weiß sind die Blumen auf meinem blauen Wollpullover. Weiß. Edel – weiß. Wie der Schnee auf dem Tschigat. Oder der Nebel um die Cathedrale.
Was ist ein Ort, oder what’s in a place? würde Shakespeare fragen. Orte. Ich meine das große WO, die geographische Komponente, die Lokalität, die Koordinaten. Nicht irgendeinen Ort, sondern das, was man gängig – oder wohl etwas veraltet – auch „Lebensmittelpunkt“ nennt. „Wo lebe ich?“ oder besser „Wo will ich leben?“ sind Fragen, die sich privilegierte Menschen wie ich irgendwann im Leben stellen. Anderen stellt sich die Frage schlichtweg nie. Luxusprobleme. Wer unter der ständigen Bedrohung von Bombenangriffen lebt. Wer dabei zusehen muss, wie sein Zuhause durch den steigenden Meeresspiegel in den Wogen verschwindet. Wer mit 14 Jahren zwangsverheiratet wird oder wer in einem entlegenen Dorf im globalen Süden die väterliche Landwirtschaft übernehmen muss, weil sie die einzige Existenzgrundlage bietet.
Für sie alle gibt es keine Wahl zwischen „Hierbleiben“ oder „Weggehen“. Die (Un)Freiheit der Ortswahl ist nur ein Aspekt der weltweit wachsenden Ungleichheit. Urteilt man nach der Generation meiner finanziell abgesicherten, europäischen Gleichaltrigen, so lautet das neue Glaubensbekenntnis hingegen Bewegungsfreiheit – Niederlassungsfreiheit – Mobilität. Manche wagten schon in Schulzeiten Auslandsaufenthalte. Für die große Mehrheit meiner Freunde und Bekannten hieß es mit Studienbeginn: Good bye sweet home, hello Vienna, London or Rome. Ein paar Jahre Bachelor hier, ein paar Jahre Master dort, vielleicht noch ein fancy internship in einer hippen europäischen Hauptstadt dranhängen. Für die ganz Wissbegierigen noch ein Doktorat an einer renommierten Alma Mater. Etwas weiter nördlich. Oder süd-westlich.
Für die große Mehrheit meiner Freunde und Bekannten hieß es mit Studienbeginn: Good bye sweet home, hello Vienna, London or Rome.
Einige wählen das Nomadendasein zum neuen Lifestyle. Sie stellen sich die Frage nach dem Wo erst gar nicht. Es ist ein ständiges Wohin. Für viele aber kommt er früher oder später, der Moment des „irgendwo Ankommens“. Spätestens am Tag der ersten Steuererklärung drängt sich die Frage auf: Wo? Das Sesshaftwerden ist heute etwas aus der Mode gekommen. Zu oft wird aus Coolness abgewunken: „Vielleicht zieht’s mich in ein paar Jahren wieder weg aus der Stadt, mal sehen.“ Diagnose Bindungsangst? Was treibt uns?
Vielleicht ist es weniger die Angst vor dem Wurzelschlagen. Sondern ganz einfach: Wir ziehen weiter, weil wir es können. Weil das neue Jahrtausend es uns erlaubt, uns geographisch auszutoben und alle paar Jahre die Zelte von neuem ab- und woanders wieder aufzubauen. Wir sind die neuen Kosmopoliten. Digital vernetzt sind wir ohnehin. Macht man mit dem Freundeskreis in der alten Stadt halt künftig Skypeparties. Easy. Und die Familie? Es gibt ja Weihnachten.
Das Weggehen finde auch ich sehr wichtig. Unsere Jugend soll uns hinaustreiben. Abenteuer erleben. Auf die Nase fallen. Spüren, wie es ist, sich mal allein durchschlagen zu müssen. Wir lernen andere Lebensweisen kennen. Sehen die Dinge aus neuen Perspektiven. Uns selbst inklusive. Und ganz nebenbei wird man erwachsen (ein bisschen zumindest). Jeder, der sich hinauswagt, sich dem Fremden, Unbekannten stellt, trägt dazu bei, unsere Gesellschaft resilienter zu machen. Was aber vielen nicht bewusst ist, ist die Bedeutung des Ortes. Über all das habe ich in den letzten Jahren viel nachgedacht: Ist es mehr das Wo oder das Mit wem, das unser Glück maßgeblich ausmacht? Kann man glücklich sein, an einem wunderschönen Ort, umgeben von Oberflächlichkeiten und fern von allen lieben Menschen? Aber genauso: Kann man glücklich sein, in einem von Tristesse triefenden Kaff, aber getragen von engen, wertvollen menschlichen Beziehungen?
Jeder wird antworten, die Balance ist ausschlaggebend. Doch ich sage: Es ist unsere Beziehung zum Ort. Sie ist es, die eine der ersten Geigen in der Symphonie des glücklichen Lebens spielt. Es kommt auf den einzigartigen genius loci an, der sich nur dir offenbart, wenn du die Gassen deiner Stadt oder die Wege deines Dorfes entlanggehst. Es sind die Erinnerungen und tief verankerten Emotionen, die jene Straßenecke, jenes Brückengeländer, jene Bordsteinkante oder jener Baumstamm in dir hochkommen lässt. Wenig Genüsse im Leben kommen dem gleich, finde ich: dem Gefühl, an einem Ort durchatmen und sagen zu können: Hier bin ich Mensch, hier darf ich‘s sein.
Mehr noch: Es gibt die fanatische Liebe zu einem Ort. Oder die nostalgische Verehrung eines Ortes. Oder Orte, die uns deshalb so viel bedeuten, weil wir an ihnen gewachsen sind, zu den Personen geworden sind, die wir heute sind. Weil wir an ihnen unsere Träume verwirklichen konnten. All das sind gute Gründe, für eine bedachte, nachhaltige Ortswahl. Andere Orte lösen auch Jahre, nachdem wir sie verlassen haben, noch unvermeidliche Beklemmung in uns aus. Auch wenn wir uns noch so sehr bemühen, an manchen Orten fühlen wir uns schlicht dépaysé (fremd). Orte sollten nicht beliebige Vorhänge oder Bilderrahmen sein, die wir alle paar Jahre austauschen. Unseren Ort sollten wir nicht aus Gleichgültigkeit wählen. Sondern uns bewusst werden, wie dieser oder jener Ort unser Selbst und unser tieferes seelisches Wohlbefinden prägt. Denn, ich fühle, ich bin nicht dieselbe, je nachdem ob ich gerade frisch ausgeschlafen die Maria-Theresienstraße, den Universitätsring, die Laubengasse oder die Grand’Rue entlanggehe. Oder durch die Apfelwiesen streife.
Wir sollten irgendwann wirklich den Mut aufbringen, zu befinden: Hier ist es gut. Hier bleibe ich.
Ich könnte auch fragen: Was ist Heimat? Aber: Den Glückseligkeitsort eines jeden einzig an seinem Heimatort verorten? Das wäre ganz schön langweilig. Heimat kann man auch anderswo finden. Sich aufbauen. Es reizt doch gerade die Suche danach. Gerade die Suche lässt uns tausend neue Entdeckungen machen. Und wer weiß, ob wir unterwegs Lust bekommen, an einem der schönen, entdeckten Orte zu bleiben. Bleiben ist das Stichwort. Ein Plädoyer auf das Bleiben! Wir sollten irgendwann wirklich den Mut aufbringen, zu befinden: Hier ist es gut. Hier bleibe ich. Und zwar nicht nur für ein Semester. Auch wenn der nächste Dampfer (oder der nächste TGV) verlockend scheint. Zumindest versuchen sollten wir es. Manche werden ihr Glück in der Ferne finden. Andere kehren zurück. An einen Ort. Oder zu bestimmten Menschen. Oder Bergen.
Wenig später schlendere ich vorbei an Fachwerk und Vogesensandstein. ¿Qué pasa? ¿Quieres otra foto con el canal? Vale! Ein paar Schritte weiter. It’s just amazing, you’ll see. Let’s go to La Petite France! Von einer Seitengasse tönt es: Mamma, vieni, hai visto come sono belle le cicogne? Gespräche im Vorbeigehen. Hier lebt Europa! Ein kalter Windstoß bäumt sich vor mir auf. Und doch hüpft mein Herz. Dreh mich nach links und rechts: Wo wartet die nächste Überraschung? Alle Sinne sind gespannt. Ich grabe die Fäuste in meinen Wintermantel. Was knistert da? Ganz unten in meiner Manteltasche. Ich halte inne und zerre es hervor. Ein Zuckerlepapier. Ein Zuckerlepapier? Da ist sie: Die Erinnerung an einen Januartag. Mit dir. Wo du jetzt wohl gerade bist? Ich lächle. Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust! Meine Finger spielen mit dem goldglitzernden Fetzchen. Meine Finger spielen Mistral Gagnant. Leise Klaviermusik in meinen Ohren. Hier wie dort?
Text: Anna Wolf
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