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Es ist Mittwoch, der 17. September 2008, gegen 22 Uhr. Auf etwa 700 Metern Meereshöhe befindet sich die Villa Traversa, ein großes, gelbes Haus, durch einen Scheinwerfer beleuchtet, ein Parkplatz davor, Bäume rechts und links, keine Gitter oder hohe Mauern, frische Bergluft und ein klarer Sternenhimmel. Ich atme kurz auf, bevor ich an die Betreuer der Therapiegemeinschaft übergeben werde. Ich verabschiede mich von der netten Gefängniswärterin und dem Fahrer, die mich hierher gebracht haben und schicke Grüße an die „Hochsicherheitsfrauen“ hinterher. Meiner letzten Zellnachbarin hat es nicht gefallen, dass ich ging. Sie hatte schon eine Therapiegemeinschaft erlebt und bevorzugte das Gefängnis, was ich nicht verstehen kann. Hauptsache raus aus den vergitterten Zellen, es wird wohl keinen schlimmeren Platz geben.
Wieder werde ich durchsucht, diesmal von den Betreuern. Nicht einmal eine Briefmarke oder ein Dokument vom Gericht darf ich behalten. „Du brauchst dich um nichts zu kümmern. Wenn gerichtliche Angelegenheiten anfallen, bekommst du Bescheid“, sagt man mir. Sie verlangen eine Urinprobe. Eine Betreuerin begleitet mich ins Klo und gibt mir einen kleinen Behälter. Ich soll das vor ihren Augen verrichten. Das ist fast unmöglich.
Bald darauf werde ich in ein einfaches, kleines Zimmer in einem zweistöckigen Gebäude etwa dreißig Meter nebenan gebracht, welches „Häuschen“ genannt wird. Darin sind fünf Zimmer, insgesamt sieben Betten, ein Aufenthaltsraum und eine kleine Küche untergebracht, die wir nicht benutzen dürfen. Vor dem Häuschen stehen zwei kleine Bänke aus Holz und in meinem Zimmer zwei kleine Stühle und ein Tischlein, solche, wie sie in den Kindergärten die Kinder haben. Ein 20-jähriges Mädchen wird mir für die erste Zeit als sogenannte „Schwester“ zugeteilt, welche die Aufgabe hat, mir Schritt für Schritt alles zu erklären. Sie ist meine Zimmergenossin und auch in Hausarrest. Gleich stellt sie mir einige Frauen vom Häuschen vor. Alle reden so viel. Das meiste geht bei mir bei einem Ohr rein und beim anderen raus. Ich habe den Kopf voll, bin es gewohnt um 21 Uhr mit Ohrenstöpseln schlafen zu gehen und muss erst einmal realisieren, wo ich bin. Am liebsten wäre ich jetzt alleine in der freien Natur, unter dem Sternenhimmel.
Sie hätten mich schon lange erwartet, sagen die Frauen. „Wir müssen in der Früh immer um 7 Uhr aus dem Bett sein, auch am Sonntag, sonst bekommen wir keinen Kaffee, weniger Zigaretten oder eine andere Strafe. Alle Zimmer werden kontrolliert. Um Punkt halb acht Uhr müssen wir zum Frühstück im Speisesaal in der Villa sein, um 12 Uhr gibt es das gemeinsame Mittagessen, um 16 Uhr die Marende und um 19 Uhr das Abendessen. Außerhalb dieser Zeiten dürfen wir nichts essen und nichts vom Speisesaal mitnehmen“, erklärt die „Schwester“. In der gesamten Struktur sind etwa zwanzig Frauen im Alter zwischen 18 und 53 Jahren untergebracht, darunter auch Mütter mit Kindern, Singles und Paare, deren Männer einige hundert Meter entfernt in einer eigenen Struktur untergebracht sind. Zu dritt sind wir in Hausarrest, alle anderen sind freiwillig hier, um von Drogen-, Tabletten- oder Alkoholsucht loszukommen.
In der Nacht werde ich aus dem Tiefschlaf gerissen: Carabinieri-Kontrolle. „Kommen sie mich holen?" frage ich mich erschrocken, während die Erinnerung an meine Verhaftung wieder erwacht. Schnell anziehen, die Treppe runter, unterschreiben. „Das war’s schon. Die kommen oft drei Mal am Tag und zwei Mal in der Nacht“, erklärt die ältere Frau, die uns in der Nacht bewacht. „Dann haben wir immer Besuch“, erwidere ich ihr. „Gute Nacht!“ Sie ist sehr sympathisch.
Ich genieße es, keine Gitter und schwere Eisentüren zu sehen und zu hören, in der Früh ins Freie zu gehen, endlich Bäume und den offenen Himmel anzuschauen und auf Schotterweg zu gehen. Das Landschaftsbild ist wirklich traumhaft hier, ringsum sind Hügel mit Feldern, Wiesen und Wälder. Am zweiten Tag stellen sich mir nach und nach die anderen Frauen vor. Die Stimmung unter ihnen ist sehr komisch. Ich dachte, im „Sorriso“ lächelten alle. Aber nein, sie wirken so, als würde ihnen alles zum Hals raushängen – lustlos, gelangweilt und irgendwie gestresst. Das finde ich schade.
Beim Frühstück herrscht schreckliche Unruhe. Der Speisesaal hat auffallend leere Wände. Zwischen den lauten Frauenstimmen höre ich eine Männerstimme. Woher kommt die, frage ich mich. Da sind doch nur Frauen an der Tafel. Und wieder höre ich sie. Neugierig schaue ich alle Frauen durch. Ich finde sie dann, eine blonde Frau mit Männerstimme. „Von wo bist du?“, frage ich sie später. „Aus Florenz“. Sie ist in meinem Alter, nett und redet ganz offen: „Ich bin schon fast zwei Jahre hier. Ich bin eine Trans, das heißt ich bin als Mann geboren, bin aber eine Frau, fühle mich als Frau und stehe auf Männer, habe meinen Namen ändern lassen und nehme weibliche Hormone zu mir, damit meine Brust wächst. Ich könnte mich umoperieren lassen, aber es geht mir auch so gut. Ich war auch im Gefängnis in Bologna.“ „Und wo warst du da, in der Männer- oder Frauenabteilung?“ frage ich. „In keiner von beiden, sie wussten nicht, wohin sie mich sperren sollten und ließen mich in der Krankenabteilung“, erzählt sie.
Mit ihr kann ich am besten über das Gefängnisleben sprechen, was mir guttut. Später erklärt sie mir: „Unser ‚Häuschen’ war ursprünglich nur für die Transsexuellen gedacht, jedoch ist kaum Nachfrage da, so sind jetzt auch die Singles darin. Ich bin zurzeit die einzige Trans hier. Die Mütter mit den Kindern sind alle in der Villa untergebracht. Eine junge Frau mit einem zweijährigen Sohn aus Südtirol ist auch hier.“ Da kann ich meine Muttersprache auffrischen, freue ich mich gleich. Die Betreuer verbieten uns aber sofort, uns auf Deutsch zu unterhalten. Wir müssen italienisch reden, damit uns jeder versteht, keiner darf Geheimnisse haben. Wir befolgen alles fleißig und da, wo uns keiner hört, reden wir natürlich tirolerisch.
Nach dem Frühstück stehen alle in der Schlange vor dem Büro. Auf der Tür ist ein Schild angebracht mit der Aufschrift: „In diesem Haus sind wir alle nervös, auch die Katze!“ Darunter ist eine kleine Katze abgebildet. Das ist die einzige Aufschrift, die man in diesem Haus findet. Die Räume sind alle auffallend leer, ohne Bilder, Kruzifix oder Vorhänge. Im Büro werden Zigaretten, Methadon und die verschiedensten Medikamente von den Betreuern ausgegeben. Jeder bekommt bis zu eine Packung Zigaretten, ausschließlich Diana rot, womit er einen Tag durchkommen muss. Wehe dem, der jemandem eine Zigarette anbietet, eine bettelt oder nur einen Zug von jemand anderem macht, der wird bestraft, so dass er am nächsten Tag ohne Kaffee bleibt oder nur die Hälfte seiner Ration Zigaretten bekommt. Wer nicht alle raucht, muss am Morgen darauf die übrigen abgeben, er darf sie auf keinen Fall ansammeln. Alle Frauen rauchen hier. Die Betreuer auch, aber andere Sorten. Viele Medikamente wie Valium, Tabor usw. werden hier konsumiert, was mich irgendwie erschreckt, und die meisten sind methadonabhängig. Ich bin sehr froh, diese Geschichten hinter mir zu haben.
Das Therapieprogramm ist folgendermaßen aufgebaut: drei Monate Aufnahmephase, drei Monate Motivationsphase, acht Monate klinische Phase, zehn Monate Eingliederung in die Gesellschaft. Insgesamt soll es zwei Jahre dauern. Für jede Phase ist ein anderer Betreuer zuständig. Jede Woche ist ein persönliches Gespräch mit dem jeweiligen Betreuer vorgesehen, ein Gespräch mit der Gruppe, in der man sich gerade befindet und ein Gespräch mit der Selbsthilfegruppe, bei dem alle zusammenkommen. Es wird immer wieder betont, dass es sich um eine Therapiegemeinschaft und keine Arbeitsgemeinschaft handelt, dass wir also nicht arbeiten sollen. Dennoch wird jeder Frau eine Arbeit zugeteilt, welche jeden Monat wechselt: Zwei Frauen in der Küche für acht bis neun Stunden am Tag, zwei in der Waschküche für drei Stunden täglich und für die übrigen fallen kleinere Putzarbeiten an, wie Abfall entsorgen oder Auto putzen. Diese Arbeiten sind unentgeltlich und werden als Beitrag für die Therapiegemeinschaft geleistet, so die Betreuer. Beschäftigung tut ja gut, denk ich mir.
Ich will meinen Leuten von diesem schönen Ort hier schreiben: Bitte? Nur zwei Briefe in der Woche darf ich verschicken, die muss ich in Italienisch schreiben und gelesen werden sie auch, erklärt man mir. Die sind total verrückt, ich schreibe normalerweise fünf Briefe an einem Tag. Die sind ja schlimmer als im Gefängnis, denke ich mir. „Meine Leute zu Hause, meine Verwandten in der Schweiz, meine Freundinnen in Österreich und in Deutschland sind alle deutschsprachig, ich kann ihnen doch nicht in Italienisch schreiben!“ erkläre ich meinen Betreuern. „Das sind hier die Regeln, die musst du befolgen“, ist ihre Antwort. Ich merke, dass die Betreuer keine anderen Sprachen sprechen und kein Verständnis für meine Situation haben. Ich nehme mir vor, ihre Regeln genauestens zu befolgen und mich gut aufzuführen.
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