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Es gibt ein merkwürdiges Syndrom, das auftreten soll, wenn man für längere Zeit auf der Straße und ohne Obdach gelebt hat. Wird einem nach dieser Zeit das Glück zuteil, in einem richtigen Bett, unter einem Dach und von vier Wänden umgeben zu übernachten, kann man plötzlich nicht mehr schlafen. Die Wände scheinen immer näherzukommen, die Luft wird dünn und stickig, die Decke, zu der man aufsieht, zu einer klaustrophobischen Last, die jederzeit auf einen niederbrechen könnte. Wer eine Zeit lang obdachlos war, für den könnten die ersten Nächte in einer richtigen Unterkunft ganz schön unangenehm werden. So lauten jedenfalls die Ergebnisse einer Studie.
Dass man ungern zu den Holzbalken einer Zimmerdecke anstatt zur Milchstraße hochblickt, ist ja auch nachvollziehbar, wenn es sich um eine laue Sommernacht handelt. Selbst der spießigste Bourgeoise möchte dann das Sirren der Mücken in der schwülen Zimmerluft mit dem Zirpen der Grillen im Freien ersetzen. Obdachlosigkeit deluxe könnte man das nennen. Anders sieht es aus, wenn die Außentemperatur nahe am Gefrierpunkt liegt. Ich zweifle, ob das Ergebnis der Studie auch dafür gilt.
Da ich ein warmes Bett sehr zu schätzen weiß, war es eigentlich nie mein Wunsch, diese Art von Obdachlosigkeit zum Repertoire meiner Erfahrungen zu zählen. Letztendlich kam es doch anders. Es war ein grauer Tag Ende Oktober in den Nebeln Amsterdams, wo ich gerade mein Erasmus-Semester absolvierte. Mit einer Kaltfront aus Nordwesten war polare Luft eingebrochen, als ich mich daranmachte, selbst aufzubrechen. Ziel war die Provence in Südfrankreich, wo ein Freund studierte. Da ich schon seit langem diese Sache mit dem Hitchhiken probieren wollte, hielt ich das für eine gute Gelegenheit, es endlich einmal zu versuchen. Und so stand ich einige Stunden später bereits in der Peripherie Brüssels, an einer Autobahnauffahrt in Richtung Luxemburg, mit einem Karton in der Hand, auf dem „SUD“ stand (französisch für „Süden“).
Kurz zuvor hatte ich entschieden, nur im äußersten Notfall ein Hotel aufzusuchen. Aber eigentlich wusste ich, dass so ein äußerster Notfall gar nicht existiert.
Es ging schon gegen Abend und ich hatte keine Ahnung, wo ich übernachten wollte. Kurz zuvor hatte ich entschieden, nur im äußersten Notfall ein Hotel aufzusuchen. Aber eigentlich wusste ich, dass so ein äußerster Notfall gar nicht existiert. Schließlich hatte ich einen Schlafsack dabei. Die Autos fuhren vorbei, ohne anzuhalten – ausnahmslos. Nach jedem Auto kam ich mir mit meinem verschmierten Schild ein bisschen lächerlicher vor. Naja, wenigstens nicht allein. Ein paar Schritte neben mir stand ein bärtiger Mann um die 60, der mit seinem Schild derselben Hoffnung wie ich nachging. Wie es sich herausstellte, war es ein Obdachloser, der von hier nach Rumänien wollte. Warum? „Einfach so“, sagte der Obdachlose, der offenbar auf Geselligkeit gut verzichten konnte. Er betrachtete mich vermutlich eher als Konkurrenten.
Schließlich war es fast völlig dunkel. Ich verließ meinen Posten und machte mich auf die Suche nach einem geschützten Ort. Wo der Obdachlose übernachtete, weiß ich nicht. Es war verdammt kalt draußen, und er hatte nicht so ausgesehen, als hätte er mehr als eine Decke bei sich gehabt. Ich für meinen Teil fand eine große, gut besuchte Sporthalle, die recht warm und einladend aussah. Mit meinem roten Tramper-Rucksack brachte ich es irgendwie zustande, mich am Portier unbemerkt vorbeizuschleichen und schlug in einem relativ ungestörten Winkel mein Nachtlager auf. Am nächsten Morgen, als die Halle wieder aufgesperrt wurde, spazierte ich mit einem freundlichen „Bonjour“ am Stirnrunzeln des Portiers vorbei wieder ins Freie. Die erste Nacht war überstanden.
Obdachlosigkeit kann vieles bedeuten: auf einem verlassenen Bahnhof zwischen den Güterwaggons zu schlafen, aber auch an einem leeren Strand oder über den Ruinen von Delphi die Sternbilder am Himmel zu zählen.
Auch in der zweiten Nacht hatte ich Glück, da wurde ich von einer französischen Familie aufgenommen. Die dritte Nacht endete tatsächlich im Bahnhofspark einer mittelalterlichen ville der französischen Voralpen. Die Lufttemperatur sank unter 5 Grad Celsius. Einmal bellte ein Hund von rechts, dann raschelte es verdächtig von links. Bestimmt alles nur Gewöhnungssache, aber an tiefen Schlaf war in dieser Nacht kaum zu denken. Mit akutem Schlaf-, Wärme- und Duschmangel kam ich am nächsten Tag bei meinem Freund in der Provence an.
Auf Reisen ist es mir noch ein paar Mal untergekommen, die Nacht plötzlich ohne Dach verbringen zu müssen – manchmal mehr, manchmal weniger freiwillig. Obdachlosigkeit kann dann vieles bedeuten: wie ein Straßenhund auf einem verlassenen Bahnhof zwischen den Güterwaggons zu schlafen, aber auch an einem verlassenen Strand oder über den Ruinen von Delphi die Sternbilder am Himmel zu zählen. Dann stellte ich mir vor, wie Menschen im antiken Griechenland – zwei beste Freunde oder ein Liebespaar möglicherweise – als erste mit dem Spiel anfingen, in den selben Sternen, die man heute noch sieht, vertraute Figuren und Tiere zu erkennen.
Heute bin ich froh über jedes Mal, wann immer mir der Komfort eines Daches abhanden gekommen ist. An ein Hotel könnte ich mich niemals so lebendig erinnern. Aber auch das war, wie die Sommernacht im Garten, im Grunde Obdachlosigkeit in Luxusversion. Denn richtige Obdachlosigkeit kann, wie alles andere auch, genauso zur ernüchternden Routine werden, aber am Rand des menschlichen Zusammenlebens. Jetzt ist die Zeit für freiwillige Nächte im Freien definitiv vorbei. Die Tage sind kurz, die Sonnenstrahlen schwach, an den Fenstern klirrt morgens der Frost. Auch wenn ich mich oft nach jenen obdachlosen Nächten der Freiheit zurücksehne, freue ich mich über mein Bett. Gleichzeitig ist es leichter, sich in die Situation derer zu versetzen, die dieses Glück nicht haben.
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