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An Hannes‘ Rucksack hängt ein Armband mit einem silbernen Stern und drei gelben Perlen. Seine Frau Karin trägt dasselbe am Handgelenk. Es handelt sich um ein sogenanntes Sternenband, ein Erkennungszeichen für Sternenkindeltern. Ein Symbol, das dem Paar mit unerfülltem Kinderwunsch Kraft schenkt. Und Kraft benötigen die beiden nach wie vor, denn der Blick zurück fällt ihnen jedes Mal aufs Neue schwer.
Drei Jahre leben die Leiterin eines Fitnessstudios und der kaufmännische Leiter in Leipzig, bevor sie sich im September 2020 das Ja-Wort geben. Schon von Beginn ihrer Beziehung an ist ihnen klar: Sie möchten gemeinsame Kinder. Tatsächlich scheint das Glück auf ihrer Seite zu sein, denn nur zwei Monate nach der Hochzeit wird Karin schwanger – die Freude der frisch Verheirateten ist groß. „Es war kurz vor Weihnachten und wir beschlossen, unseren Familien von den Neuigkeiten zu erzählen, sobald wir nach Hause kommen – auch wenn die ersten drei Monate noch nicht vorbei waren“, erzählt Hannes.
„Ich dachte dauernd nur, ich hätte irgendetwas falsch gemacht.“
Beim ersten Besuch bei der Frauenärztin schien alles in Ordnung zu sein, beim zweiten hingegen nicht mehr. „Die Ärztin war völlig unklar und meinte, wir müssten in ein paar Tagen nochmal nachschauen“, erinnert sich Karin traurig zurück. „Bei der dritten Untersuchung sprach sie davon, dass sie keinen Herzschlag mehr vernehmen und ich auswählen könne zwischen einem natürlichen Abgang oder einer Ausschabung. Ich hatte mich bis dahin noch nie wirklich mit diesem Thema auseinandergesetzt und war darauf nicht vorbereitet. Ich verstand nicht, was mit mir und meinem Kind passierte.” Am Boden zerstört verließ Karin an jenem Tag die Praxis – und hatte statt eines Mutterpasses Broschüren über Fehlgeburten in der Hand. „Als ich Hannes anschließend gegenüberstand, konnte ich nur den Kopf schütteln. Er verstand sofort.“
„Ich dachte dauernd nur, ich hätte irgendetwas falsch gemacht“, erzählt die 35-Jährige. „Hab ich zu viel Sport getrieben? Hab ich ein Glas Wein getrunken, als ich noch nicht wusste, dass ich schwanger war? Ich schämte mich fürchterlich und fühlte mich schuldig.“ Was dem Paar damals fehlt: ausreichende medizinische Aufklärung, Empathie und Vorbereitung auf eine Zeit, die für Betroffene äußerst belastend sein kann.
Zuerst Freudenschimmer, dann Fremdkörper
Weil ein natürlicher Abgang zwischen einigen Tagen und Wochen dauern kann, entscheidet sich Karin für eine Ausschabung. Sie erträgt es nicht, dass ihr Körper noch im Babymodus arbeitet, obwohl das Baby tot ist. Der abgestorbene Embryo fühlt sich für sie „wie ein Fremdkörper im Bauch“ an.
„‚Bitte mach, dass ich nichts mehr spüre‘, habe ich ihn angefleht.“
Karin ist alleine, als sie für den Eingriff in ein Leipziger Krankenhaus fährt. Es ist die Zeit des zweiten Lockdowns während der Coronapandemie – Männer dürfen ihre Partnerinnen nicht begleiten. Vor der operativen Entfernung bekommt die Eppanerin unerträgliche Unterleibschmerzen, die Operation wird vorverlegt. Die chirurgische Kürettage ist zwar ein Routineeingriff, birgt aber immer Risiken mit sich – z. B. kann die Chance auf eine zukünftige Schwangerschaft vermindert werden. Das erfährt Karin aber erst, als sie schon im OP-Saal liegt. „Ich hatte so große Angst. Ich lag da, halb nackt, mit gespreizten Beinen, und ich dachte, die Schmerzen bringen mich um. Ich wollte nur, dass das alles vorbei ist. Ich weiß noch, wie ich den Anästhesisten darum bat, dass er mich endlich einschlafen lässt. ‚Bitte mach, dass ich nichts mehr spüre‘, habe ich ihn angefleht.“
Auf verschiedenen Ebenen
Jede Frau erlebt eine Fehlgeburt anders, physische und psychische Folgen sind völlig individuell – die Aussage aus dem näheren Umfeld „A Fehlgeburt isch net so schlimm, es kennts es jo nomoll probieren“ ist für Karin, die gerade versucht, mit den seelischen und körperlichen Schmerzen klarzukommen, wie ein Schlag ins Gesicht. Nach der Ausschabung ist sie für einige Tage krankgeschrieben. Sie bleibt Zuhause, eigentlich, um sich zu erholen, doch sie fällt in ein Loch.
Das Ehepaar merkt, wie gut es tut, darüber zu reden – miteinander, aber auch mit anderen. Und sie erfahren auch: Mit ihrem Schicksalsschlag sind sie nicht alleine.
Hannes – zu der Zeit im Homeoffice – sieht, wie seine Frau leidet. „Ich war zwar auch traurig, konnte aber, weil es mich körperlich nicht betraf, schneller mit der Fehlgeburt abschließen. Ich konnte nicht wirklich nachvollziehen, was Karin fühlte und was sie durchmachte“, erzählt der 36-Jährige. Er habe zwar gesehen, wie schlecht es ihr ging, konnte es aber in dem Moment nicht verstehen. Eine Zeit lang seien sie nicht mehr auf einer Ebene gewesen, sagt er. Erst, als er sich in das Thema eingelesen habe und die beiden wieder mehr miteinander sprachen, habe er ein Gefühl für ihr Befinden bekommen.
Das Ehepaar merkt, wie gut es tut, darüber zu reden – miteinander, aber auch mit anderen. Und sie erfahren auch: Mit ihrem Schicksalsschlag sind sie nicht alleine. Je mehr sie sich mit anderen austauschen, desto mehr treffen sie auf Menschen, die ebenfalls eine oder mehrere Fehlgeburten hatten. „Es ist wirklich wahnsinnig, wie viele in unserer unmittelbaren Umgebung direkt oder indirekt betroffen sind“, sagt Hannes. „Noch mehr erstaunte es uns, wie viel man uns Verständnis entgegen brachte, gleichzeitig aber auch, wie wenig öffentlich darüber gesprochen wird, wenn es doch ein so präsentes Thema ist. Wir fragten uns, warum das so ist.“
Unausgesprochen und doch allgegenwärtig
Egal, ob die eigene Schwester, Mama, Tante, Freundin oder man selbst: Fast alle von uns kennen Frauen, die schon mal eine Fehlgeburt hatten. Das Landesinstitut für Statistik ASTAT verzeichnet hierzulande allein im Jahr 2021 rund 525 Fehlgeburten – dabei zählen nur jene Abbrüche, die eine Einlieferung in eine öffentliche oder private Krankenanstalt erforderlich machten. Das sind 2,3 % mehr als noch 2020. Die Abbruchziffer beträgt 4,7 Fehlgeburten je 1.000 Frauen im gebärfähigen Alter, das Durchschnittsalter betroffener Frauen liegt bei 33 Jahren. Die meisten Fehlgeburten, 64,2 %, finden in den ersten Schwangerschaftswochen statt, durchschnittlich verlieren Frauen ihr Baby zwischen der 10. und 11. Woche.
Jedes achte bis zehnte Paar gilt zudem als unfreiwillig kinderlos. Klare Zahlen, die unterstreichen: Fehlgeburten und Kinderlosigkeit sind bei Weitem keine Einzelfälle und sollten demnach schon lange kein Tabuthema mehr sein.
Für Karin und Hannes, die mit ihrer ersten Fehlgeburt gar nicht zu dieser Statistik dazugehören, weil sie nicht in Südtirol leben, bleibt es nicht bei einem Schicksalsschlag. Auch die zweite Schwangerschaft im Juni 2021 endet wieder in einem Abort. „Wenn du einmal eine Fehlgeburt hattest, dann freust du dich nicht mehr über einen positiven Schwangerschaftstest. Du bist einfach nur vorsichtig mit deinen Gefühlen“, sagt Karin und berichtet davon, wie sie – aus Selbstschutz und Angst – völlig emotionslos die Frauenärztin aufsuchte. „Ich funktionierte wie eine Maschine und nahm die Info, dass die Schwangerschaft auch dieses Mal relativ unsicher ist, genauso auf. Ich ließ keine Emotionen zu, sonst hätte ich das ganze Prozedere nicht überlebt. So habe ich alle Tests, Bluttest, HCG-Test usw. über mich ergehen lassen – kurze Zeit schaute es sogar gut aus, aber es sollte wieder nicht sein.“
„Wenn du einmal eine Fehlgeburt hattest, dann freust du dich nicht mehr über einen positiven Schwangerschaftstest. Du bist einfach nur vorsichtig mit deinen Gefühlen.”
Noch immer lässt Karin keine Gefühle zu. Ausschabung möchte sie dieses Mal keine mehr, sie entscheidet sich dafür, „ihren Körper einfach machen zu lassen.“ Inzwischen ist es Juli und kurz vor einem Besuch in der Heimat, als Karin nachts mit stechenden Schmerzen erwacht. Sie bekommt starke Blutungen, in der Dusche stößt ihr Körper das Schwangerschaftsgewebe aus. Nach kurzer Zeit geht ein schleimig-blutiger Pfropf ab. „Und ja, dann war es vorbei, mein Körper regelte das relativ gut“, blickt Karin zurück. „Diese Schwangerschaft und der Abbruch zogen sich generell nicht so lange raus.“ „Karin hatte auch nicht mehr so starke Schuldgefühle und da wir uns ja viel informiert haben, konnten wir es zusammen besser durchstehen“, ist Hannes überzeugt. Trotzdem verharrt die junge Frau weiter in einer Art emotionaler Starre. Am nächsten Tag fährt sie – noch immer blutend – zur Arbeit und schockiert ihre Arbeitskollegin mit der nüchternen Aussage: „Mir geht es nicht gut, ich verliere gerade ein Kind“. Diese nimmt sie weinend in den Arm. „Erst dann fing ich gefühlsmäßig an zu realisieren, dass ich wieder in einer echt beschissenen Situation war. Ich setzte mich ins Auto und telefonierte mit einer Freundin aus der Heimat. Sie sagte mir, ich solle zur Ärztin fahren. Das tat ich dann auch.“
Eine Reise ohne Ziel?
Karin und Hannes entscheiden sich, ihren Weg weiterzugehen, nun zusammen mit einer Kinderwunschklinik. Im Januar 2022 bekommt Karin einen Termin für eine Bauchspiegelung, um eine mögliche Endometriose abklären zu lassen. Diese Diagnose vermutet die Eppanerin bereits seit ihrer Jugendzeit und tatsächlich: Eine Endometriose-Herde wird im Beckenboden gefunden und entfernt. Karin hofft nun zum einen auf weniger Schmerzen während der Periode und zum anderen auf eine erhöhte Chance schwanger zu werden – und zu bleiben. „Diese OP, bei der alles ‚durchgeputzt‘ und kontrolliert wird und alle Organe im Bauchraum hin- und hergeschoben werden, dauerte bei mir ungewöhnlich lange. Dementsprechend rebellierte mein Körper anschließend – er benötigte Wochen, um sich wieder zu erholen. Das war echt heftig“, berichtet sie. Hannes lässt inzwischen sein Sperma untersuchen. Die Ärztinnen und Ärzte sind sich alle einig: Beide sind kerngesund und einer Schwangerschaft steht nichts im Wege. „Die Nachricht war zwar eine gute, aber irgendwie fragt man sich: Warum klappt es dann nicht, wenn körperlich alles ok ist?“ Denn es bleibt nicht bei zwei Fehlgeburten.
Immerzu auf den Körper achten zu müssen, ständig Sex nach Termin zu haben und von einem Arzt zum nächsten zu laufen, ermüdet die Zwei
Im März 2022 unternimmt das Paar eine Reise nach Schottland, dort erfahren sie von der dritten Schwangerschaft. „Es passierte relativ schnell nach der Bauchspiegelung, vielleicht zu früh. Außerdem erkrankten wir nach der Reise beide an Corona. Vielleicht begünstigten diese Umstände die Fehlgeburt nochmal zusätzlich.“ In der achten Schwangerschaftswoche verliert das Pärchen sein drittes Kind. „Ich lag bei meiner neuen Frauenärztin auf dem Untersuchungsstuhl und konnte nicht auf den Monitor blicken. Die Ärztin hat nachgeschaut und sagte lange nichts. Dann spürte ich, wie sie mich tröstend streichelte“, erinnert sich Karin mit Tränen in den Augen zurück. „Der HCG-Wert war unverändert, der Embryo entwickelte sich nicht weiter.“
Trotz Rückschläge hören die Zwei nicht auf ihr Leben als Paar zu zelebrieren – gemeinsame Unternehmungen, wie Urlaube, Konzerte, Abendessen schenken ihnen Kraft. Aber: Immerzu auf den Körper achten zu müssen, ständig Sex nach Termin zu haben und von einem Arzt zum nächsten zu laufen, ermüdet die Zwei. „Das macht etwas mit einem und das machte etwas mit uns als Paar“, erzählt der Lananer. Darum legen sie nach der dritten Fehlgeburt eine Pause ein, was besonders Karin, die ihren Körper nach zwei Jahren im Grunde nicht mehr für sich hatte, gut tut.
Die Kinderfrage? Eine Grenzüberschreitung
Für Außenstehende mag es relativ simpel klingen, nach dem Motto: Fehlgeburten passieren eben, dann versucht man es halt weiter. Aber die Realität ist eine völlig andere. Die Hormone der Frau müssen sich nach einem Abort erst wieder umstellen. Der HCG-Wert, der während einer Schwangerschaft erhöht ist, sinkt nur langsam wieder, viele Frauen weisen noch eine ganze Weile die typischen Schwangerschaftssignale auf, beispielsweise einen Blähbauch oder empfindliche Brüste. Sprich: Der Körper ist noch im Schwangerschaftsmodus. Erst wenn dieser abgeklungen ist – und das dauert eine Weile – , ist er wieder bereit für einen Versuch. Zudem muss ein Paar – und vor allem die Frau – auch emotional wieder in der Lage dazu sein: Mit einer neuen Schwangerschaft nimmt sie auch Angst, Sorgen und Ungewissheit in Kauf – und die Gefahr, den gesamten Abbruchsprozess noch einmal durchlaufen zu müssen.
So wie Karin und Hannes ergeht es unzähligen anderen Pärchen. Sie werden im Vorfeld nicht nur zu wenig aufgeklärt, es fehlt häufig vor allem an Kommunikation, Empathie und der allgemeinen Salonfähigkeit der Themen Fehlgeburt und Kinderlosigkeit. Es betrifft einen so lange nicht, bis es einen eben trifft. Genau das wollen Karin und Hannes ändern. „Mittlerweile reden wir ganz offen über das Thema“, erklärt Hannes. „Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, klare Antworten auf oft unangemessene Fragen und Aussagen zu geben.“ Damit meint der 36-Jährige persönliche oder leichtfertig gestellte Fragen wie: „Wann ist es bei euch soweit?“ „Denkt ihr nicht so langsam an Kinder?“ „Seid ihr nicht bald zu alt für Kinder?“
Es betrifft einen so lange nicht, bis es einen eben trifft.
Aber auch bestimmte, unvermeidbare Situationen können für Betroffene schmerzhaft sein. „Immer, wenn eine Freundin von mir schwanger wurde, war das für mich fast unerträglich – nicht weil ich mich nicht für sie freute, aber man fragt sich, warum es bei allen anderen klappt und bei einem selbst nicht … Zwischenzeitlich hatte ich das Gefühl, übrig geblieben zu sein.“ Was Karin in solchen Momenten hilft? Ein persönliches Gespräch, Offenheit und das Akzeptieren von Gefühlen – von allen Beteiligten. „Natürlich empfindet nicht jeder so wie ich, aber für mich ist Reden Therapie.“ In Südtirol herrsche diesbezüglich Aufholbedarf, ist das Ehepaar überzeugt. Emotionale Themen liege den meisten Menschen hier aber nicht so.
Karin und Hannes schweißt die mühsame Reise, die sie inzwischen wieder aufgenommen haben, zusammen. Sie lieben sich, akzeptieren, dass sie unterschiedlich mit dem Geschehenen umgehen und ihnen ist bewusst: Eine Familie sein bedeutet nicht zwangsläufig auch, Kinder zu haben. Sie sind bereits Familie füreinander … und ein Kind, nun, das wäre eben ein Plus. Ob die Insemination klappt oder nicht, und wie lange sie um jeden Preis um ein Kind kämpfen möchten, wissen sie nicht. „Vielleicht denken wir mal an eine Adoption, vielleicht auch nicht. Wir arbeiten uns einfach Schritt für Schritt vor, bis wir irgendwann sagen: ‚Jetzt ist genug,’ Womöglich bleiben wir auch nur zu zweit – das ist auch ok. Dann genießen wir eben die Vorteile, die nur kinderlose Paare haben“, lächelt Karin.
Mitleid möchten die beiden keines. Was sie sich wünschen ist ehrliches Interesse, Verständnis und eine verstärkte Thematisierung innerhalb der Gesellschaft. Und: keinen Smalltalk, kein Stammtisch-Geratsche mehr, was das Kinderkriegen anbelangt. Hannes fasst es bestens zusammen: „Ob ein Paar Kinder hat oder nicht ist entweder eine persönliche Entscheidung – oder aber ein persönliches Schicksal.“
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