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Ende November in der Bozner Innenstadt: Black Friday. Schaufenster und Vitrinen locken mit Rabatten: „-20% auf alles“ im großen Sportgeschäft. „50% auf Weihnachtsdeko“ gleich nebenan. Unzählige Menschen tummeln sich, mit Einkaufstaschen bepackt, in den Gassen. Schon vor Wochen habe ich beim Blick in den Kleiderschrank überlegt, ob ich für den Winter gerüstet bin: Stiefel, Mantel, Mützen, warme Pullis und dicke Strümpfe – alles da! Und dennoch: Beim Durchqueren der Laubengasse überkommt mich ein merkwürdiges Gefühl der Unruhe. Die Stimmung schwappt auf mich über. Vielleicht brauche ich ja doch was? Heute wäre die optimale Gelegenheit. Schon übermorgen ist die Rabattaktion vorbei. Also: Nur kurz schauen!
„Die Kollegen in der Marketingpsychologie wissen ganz genau, welche Areale des menschlichen Gehirns sie mit ihren Botschaften ansprechen, um uns zum Kauf zu verführen“, sagt der Psychologe Edmund Senoner vom Therapiezentrum Bad Bachgart (siehe Kasteninterview). Der Wolkensteiner hat es täglich mit Menschen zu tun, die abhängig sind – von Alkohol und Drogen, aber auch vom Mobiltelefon, vom Glücksspiel oder von einer Sache, die wir alle tun: Einkaufen. Michaela*, 32, hat ihr Kaufverhalten nicht mehr unter Kontrolle. Wirklich bewusst darüber wird sich die Eisacktalerin erst, als sie wegen ihrer Essstörung und Depressionen beim Aufnahmegespräch im Therapiezentrum sitzt. „Shoppen war zwar auch eines meiner Probleme, aber ich hatte keinen Namen dafür“, sagt sie. Dabei erfüllt ihr Kaufverhalten alle Kriterien einer Suchterkrankung: Sie tut es, ohne es zu wollen und leidet darunter. Mit der Zeit steigerte sich die Dosis und wenn sie nicht einkaufen kann, geht es ihr schlecht.
„Jede Sucht ist der Versuch, ein Problem zu lösen. Das Kaufen dient hier der Gefühlsregulation und der Selbstwerterhöhung.“ (Psychologe Edmund Senoner)
„Jede Sucht ist der Versuch, ein Problem zu lösen. Das Kaufen dient hier der Gefühlsregulation und der Selbstwerterhöhung“, erklärt Senoner. Michaela kauft ein, um sich besser zu fühlen. Wenn sie traurig ist, sich langweilt oder einsam fühlt, greift sie zum Handy und scrollt durch die Online-Stores. Es sind die Glücksgefühle, der Nervenkitzel und die Vorfreude auf das Päckchen, die Michaela immer wieder auf „kaufen“ klicken lassen – ob sie will oder nicht. „Leider halten diese Gefühle nicht lange an und schon bald muss ich wieder etwas Neues kaufen“, sagt sie. Laut einer österreichischen Studie im Auftrag der Arbeiterkammer gilt jede vierte Person als kaufsuchtgefährdet. Dennoch ist diese Suchterkrankung vergleichsweise unbekannt. Sie wurde bisher in kein offizielles Diagnosehandbuch aufgenommen. Dabei scheint Kaufsucht bereits 1909 als „Oniomanie“ in einem psychiatrischen Lehrbuch auf. Auf der Webseite des Wiener Anton-Proksch-Institutes – eine der wenigen Einrichtungen, die eine eigene Therapiegruppe dafür hat – wird Kaufsucht als „heimliches Leiden“ beschrieben.
Das Leid der Betroffenen bleibt meist lange Zeit unbemerkt, wird nicht diagnostiziert. Vom persönlichen Umfeld werden Kaufsüchtige als „Shoppingqueens“ belächelt, oder als verschwenderisch und eitel verurteilt. Weil das Ausmaß unterbewertet und das Phänomen wenig bekannt ist, ist die Krankheit sogar stärker mit Scham besetzet als andere Abhängigkeiten. Kaufsüchtige verheimlichen, lügen und isolieren sich, um ihre Sucht zu verstecken. Sie leiden im Stillen. In Michaelas Kindheit war Geld Mangelware. Sie trug Kleider, die ihr Verwandte weitergaben und wurde in der Schule dafür gemobbt. Den Lohn ihres ersten Sommerjobs investierte sie dann ausschließlich in Klamotten.
„Endlich gehörte ich dazu, endlich bekam ich Anerkennung“, erinnert sie sich. Später im Berufsleben ging es weiter: Oft hatte sie schon Mitte des Monats ihr ganzes Geld ausgegeben. Dass sie sich noch nicht verschuldet hat, verdankt sie ihrem Partner, der Einkäufe und Rechnungen für die Familie übernimmt, wenn Michaela wieder knapp bei Kasse ist. Obwohl der finanzielle Aspekt in Michaelas Familie nicht so schwer wiegt, leidet ihre Partnerschaft darunter. Probeweise überlies sie die Kreditkarte ihrem Partner. „Als ich nicht mehr einkaufen konnte, wurde ich zur Furie“, sagt sie. Sie fand alle möglichen Ausreden dafür, einkaufen zu müssen: Weihnachten, Schlussverkauf, Sachen für das Kind, Geschenke. Was sie rückblickend am meisten schmerzt, ist der Vertrauensverlust: „Als ich einmal versprach, weniger zu kaufen, merkte ich, dass mein Freund mir nicht mehr glaubte.“
„Als ich nicht mehr einkaufen konnte, wurde ich zur Furie.“
In Michaelas Wohnung gibt es ein eigenes Zimmer nur für ihre Kleidung. Anfangs ordnete sie ihre Stücke noch liebevoll, später blieben schon mal die Preisschilder dran und die Klamotten ungetragen. Der Kick und die Freude beim Kauf hält nur mehr ganz kurz an. Heute packt sie ein geliefertes Päckchen oft gar nicht mehr aus. Im KleiderZimmer herrscht Chaos. „Es kommt dem Messie-Syndrom, einem Sammelzwang, sehr nahe“, sagt Edmund Senoner. Auch der Aspekt der Nachhaltigkeit liegt Michaela eigentlich am Herzen. Berichte über die Auswirkungen der Kleidungsindustrie machen sie betroffen. „Ich bin mir auch bewusst, was ich mit dem Geld stattdessen tun könnte: verreisen, schöne Momente mit der Familie erleben, aber kaum stehe ich im Geschäft oder klicke durch Zalando, ist alles vergessen“, sagt sie. Manchmal schafft sie es, ein Geschäft ohne Einkauf zu verlassen. Aber dann, zuhause, holte sie die Sucht ein und sie kann dann an nichts Anderes mehr denken.
Eine Stimme in ihrem Kopf sagt ihr zwar, dass sie diese fünfte Winterjacke gar nicht braucht, die andere aber ist lauter: „Nur noch diese eine Jacke, dann ist Schluss!“ Und sie kauft das Teil dann doch. „Danach aber kommt der Absturz, das schlechte Gewissen, die Selbstvorwürfe und die Scham“, beschreibt sie. Wer es schafft, sich seine Abhängigkeit einzugestehen und sich in Therapie begibt, steht bald vor der nächsten Besonderheit dieser Sucht: Abstinenz ist keine Option. Auf das Einkaufen kann nicht gänzlich verzichtet werden. „Das Ziel der Therapie ist es deshalb, die Kontrolle wiederzuerlangen und Alternativen zur Gefühlsregulation zu finden“, erklärt Edmund Senoner. Im Therapiezentrum hat Michaela viel Zeit, um herauszufinden, welche Tätigkeiten und Dinge ihr statt des Einkaufens ein gutes Gefühl geben. Sie arbeitet aktiv daran, ihren Selbstwert neu zu definieren. Sie will ihre Probleme und die Sucht in den Griff bekommen und bald zu ihrer Familie zurückkehren.
„Ich möchte ihr unbedingt zeigen, dass es viel Wichtigeres gibt, als das Aussehen und schöne Kleider und ihr mitgeben, wie wertvoll sie als Mensch ist.“
Besonders der Gedanke an ihre Tochter spornt Michaela an. Sie weiß, wie groß ihr Einfluss als Vorbild auf sie ist „Ich möchte ihr unbedingt zeigen, dass es viel Wichtigeres gibt, als das Aussehen und schöne Kleider und ihr mitgeben, wie wertvoll sie als Mensch ist.“ Michaela hat die ersten Hürden geschafft und auch auf einer anderen Ebene tut sich etwas: Im vergangenen September veröffentlichte ein deutschaustralisches Forschungsteam rund um die Medizinische Hochschule Hannover die Ergebnisse einer Umfrage unter 138 Expert*innen aus 35 Ländern, die krankhaftes Kaufverhalten erforschen. Daraus wird nun ein diagnostischer Kriterienkatalog erstellt, der dazu beitragen soll, Kaufsucht als psychische Störung in das international anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen der WHO aufzunehmen. Dies wäre ein erster großer Schritt weg von der Stigmatisierung hin zu einem breiteren Umgang mit dem Phänomen als das, was es ist: eine Krankheit. Die diagnostiziert, behandelt und geheilt werden kann.
Text: Lisa Frei
Dieser Text ist erstmals in der Ausgabe Nr. 71 der Straßenzeitung “zebra.” erschienen.
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