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Wolfgang Mayr
Veröffentlicht
am 09.02.2023
LebenThe Others

Der Krieg geht weiter

Veröffentlicht
am 09.02.2023
In Kanada und in den USA werden zahlreiche indigene Mädchen und Frauen ermordet. Polizei und Justiz kümmern sich wenig darum.
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Indigene Frauen und Unterstützer:innen bei einer Protestaktion, damit die Morde und das Verschwinden indigener Menschen ernster genommen werden.

Eine grauenhafte Geschichte hat mit voller Wucht die Vereinigten Staaten und Kanada eingeholt. Die brutale Assimilierung von mehr als 150.000 indianischen Kindern durch die berüchtigten kanadischen Residential Schools. Indianisch war verboten, wurde kompromisslos verfolgt, viele der Kinder wurden misshandelt, missbraucht, verhungerten, wurden ermordet.

In Kanada forderte eine Untersuchungskommission nach Abschluss ihrer Arbeiten die Regierung auf, die „Arbeit“ der Residential Schools als „kulturellen Völkermord“ zu klassifizieren. Die Opfer und ihre Nachkommen sollen für das zugefügte und erlittene Leid finanziell entschädigt werden.

Die kanadische Regierung einigte sich in langwierigen Verhandlungen mit den 325 first nations auf finanzielle Wiedergutmachung, auf Entschädigungszahlungen in der Höhe von 2,8 Milliarden kanadische Dollar (1,9 Milliarden Euro). Begründung: Mit diesem Geld soll der „kollektive Schaden und der Verlust der Sprache, der Kultur und des Erbes“ repariert werden.

In den USA initiierte Innenministerin Deb Haaland, eine Laguna-Puebla, eine landesweite Untersuchung zu den Folgen der schulischen Assimilierung indianischer Kinder in 400 Internaten zwischen 1819 und 1969. Schon 1965 kam ein vom Demokraten Robert F. Kennedy geleiteter Senatsausschuss zur Erkenntnis, dass das „indianische Erziehungswesen“ eine „nationale Tragödie“ ist. 1971 geißelte Lehman Brightman von der NGO United Native Americans das Versagen der Schulen des Bureau of Indian Affairs.

Die öffentliche Diskussion über den „kulturellen Völkermord“ und seine späte Anerkennung ist eine notwendige Aufarbeitung der nordamerikanischen Geschichte. Die Geschichte der vergangenen 100 Jahre, in denen die Überlebenden der Eroberung in die weiße Mehrheitsgesellschaft zwangsassimiliert wurden.

Schüler:innen einer Residential School in Alberta, Kanada, um 1940

Im Visier Mädchen und Frauen

Das kanadische und US-amerikanische Bedauern über den Ethnozid durch Integration sind Krokodilstränen. Denn der Ethnozid ist nicht beendet: Weniger Aufmerksamkeit erfährt der lautlose Krieg weißer Männer gegen indianische Mädchen und Frauen, in Kanada wie auch in den USA.

Laut der Canadian Women’s Foundation war 2020 eine von fünf getöteten Frauen indigen. Seit 1980 gelten 1.200 indigene Frauen als vermisst gemeldet. Obwohl sie nur 4,3 Prozent der weiblichen kanadischen Bevölkerung stellen, sind 11,3 Prozent der vermisst gemeldeten Frauen indigen. Ihr Anteil unter den weiblichen Mordopfern beträgt sogar 16 Prozent.

Auch in den USA ist ein großer Teil der vermissten und ermordeten Mädchen und Frauen indianischer Abstammung.

Auch in den USA ist ein großer Teil der vermissten und ermordeten Mädchen und Frauen indianischer Abstammung. Auf den Reservaten ist die Mordrate zehnmal höher als der US-Durchschnitt. Mord ist die dritthäufigste Todesursache für indigene Mädchen und Frauen.

Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich höher, denn die kanadische Regierung und kanadische Polizei erfassen nicht die ethnische Zugehörigkeit der verschwundenen Frauen. Es ist eine vertane Chance, zuverlässige Statistiken zu erstellen. Die Folge: Mehr als die Hälfte der Verbrechen an indigenen Frauen wurde bis heute nicht aufgeklärt. Die Aufklärungsquote von Gewaltverbrechen im gesamtkanadischen Durchschnitt hingegen liegt bei mehr als 80 Prozent.

Weltweit bekannt wurde der kanadische Highway 16, der „Highway of Tears“. Am 700 Kilometer langen Highway „verschwinden“ immer wieder indigene Mädchen und Frauen, spurlos. 18 sind es nach offiziellen Polizeiangaben, 17 von ihnen Indianerinnen. Amnesty International befürchtet, dass es noch wesentlich mehr Fälle gibt. Kein Fall wurde aufgeklärt. Die Polizei gibt sich wenig Mühe, die Verbrechen aufzuklären, kommentierte „Der Spiegel“ die Verbrechen an Indianerinnen.

Abschnitt des Highway 16

Die verschwundenen Frauen – missing and murdered women – werden, wenn überhaupt, als übel zugerichtete Leichen wieder gefunden. Entführt, misshandelt, missbraucht, ermordet, meist in Nylonsäcken entsorgt auf Müllhalden oder an den Straßenrändern. Das Leben einer Indianerin zählt nichts im hohen Norden. Für Gladys Radek von Missing and Murdered Women ist klar: Die Frauen sind oft Opfer von Männern der Holzfällercamps. Radek schätzt, dass ihnen mindestens 500 Frauen zum Opfer gefallen sind.

Solche Tragödien scheinen in den beiden demokratischen Rechtsstaaten Kanada und USA zum indianischen Alltag zu gehören. Ein weiteres Beispiel in Wyoming. Zwischen 2011 und 2020 wurden mehr als 700 IndianerInnen vermisst. Mehr als die Hälfte davon Mädchen und Frauen, führte die Missing and Murdered Indigenous Task Force in ihrem Bericht an. Vermisstenanzeigen von indigenen Frauen wird kaum nachgekommen. Dies gilt auch für Montana und für viele andere westliche US-Bundesstaaten.

Der US-Filmemacher Taylor Sheridan widmete 2017 seinen Film „Wind River“ den vermissten und ermordeten indianischen Frauen. Sie sind Gewalttätern schutzlos ausgeliefert, die Vergewaltiger und Mörder fühlen sich sicher, wie schon ihre Vorfahren, Akteure von Kriegsverbrechen wie am Sand Creek, 1864 im heutigen US-Bundesstaat Colorado.

Stolen Sisters

Die Beamten stufen die indigenen Vermissten meist als drogen- oder alkoholabhängig ein, als Prostituierte. Zweifelsohne ist auf den Reservaten Gewalt an indigenen Frauen ein Problem der häuslichen Gewalt. Ein Großteil der Täter ist aber weiß, reservatsferne Menschen. Sie werden von der Polizei kaum „verfolgt“. Das ist Ausdruck des noch immer herrschenden rassistischen Siedlerkolonialismus.

Auf den Reservaten und in vielen städtischen indianischen Viertel sind die Lebensumstände für viele indigene Frauen miserabel. Sie sind oft obdach- und arbeitslos, schlecht ausgebildet. Mehr als zwei Drittel der vermissten Frauen sind Mütter.

Weißen Gewalttätern scheinen „Übergriffe“ auf Indigene weniger schlimm zu sein als auf nicht-indigene Frauen. Indigene Frauen gelten als angeblich „willig“, als Opfer sind sie schutzlos. Die Täter wähnen sich angesichts der wenigen Verurteilungen für Verbrechen an indigenen Frauen in Sicherheit.

Viele indigene Frauen wurden in den letzten Jahren vor Bars, Restaurants und auf Straßen entführt, brutal verprügelt, sexuell missbraucht und ermordet.

Viele indigene Frauen wurden in den letzten Jahren vor Bars, Restaurants und auf Straßen entführt, brutal verprügelt, sexuell missbraucht und ermordet. Diesen Krieg gegen indigene Mädchen und Frauen dokumentierte sogar die Bundespolizei RCMP.

Die schlechte Polizeiarbeit, der geringe Respekt und die niedrige Gewaltschwelle gegenüber indigenen Frauen machen es für sie dreimal wahrscheinlicher, Opfer von Gewaltverbrechen zu werden, als für Frauen anderer ethnischer Abstammungen.

Indianische Organisationen und Menschenrechtsorganisationen wie der Native Women Associaton of Canada (NWAC) und Amnesty International Kanada drängen auf bundesweite Untersuchungen der zahlreichen Fälle. Selbstorganisationen betroffener Gemeinschaften wie die No More Stolen Sisters, die Justice for Missing and Murdered Women, das Stolen Sisters Awarenes Movement sammeln Fakten und versuchen aufzuklären. Trotz zahlreicher Dokumentationen und dem jährlich am 14. Februar stattfindenden Women’s Memorial March gibt es kaum Verbesserungen.

Als Antwort auf das polizeiliche und staatliche Desinteresse an den vermissten indigenen Mädchen und Frauen, gibt es Initiativen wie Idle no More, eine Bewegung für ein souveränes indigenes Leben, oder „land back“. Der Ruf “Idle no more!” ging im November 2012 wie ein Lauffeuer durch den Norden Kanadas, schreibt der Journalist Claus Biegert: „Der Slogan sorgte für die ersten Nachrichten, als Teresa Spence von den Cree ihr Büro in der Subarktis verließ, nach Süden flog und vor dem Regierungsgebäude in Ottawa einen Hungerstreik begann.“

Für Claus Biegert ist das weibliche Profil des Protests ist kein Zufall: Für die First Nations haben die Unterjochung der weiblichen Ureinwohner und die Unterjochung der weiblichen Erde einen gemeinsamen Ursprung.

Vor zehn Jahren veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erstmals einen Report, der auf 84 Seiten belegt, dass es in Kanada bis heute lebensgefährlich sein kann, Indianerin zu sein. Zu den Tätern zählten auch Polizisten der RCMP (Royal Canadian Mounted Police). Geändert hat sich seitdem wenig. Vergewaltiger und Mörder indigener Mädchen und Frauen bleiben meist unbehelligt. Claudette Dumont-Smith, Leiterin der Native Women’s Association of Canada, erklärt: „Es ist eine Schande für Kanada, dass beinahe jeden Monat unschuldige Leben genommen werden.“

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