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Irene Kacandes (*1958) erforscht den menschlichen Zugang zu Gewalt und lädt zur Auseinandersetzung ein, um generationsübergreifende Traumata zu vermeiden. Sie studierte an der Harvard University, an der Aristoteles-Universität (Thessaloniki) und an der Freien Universität Berlin. Sie lehrt am Dartmouth College in den USA Germanistik, Vergleichende Literaturwissenschaft, Frauen-, Geschlechter- und Sexualstudien sowie Judaistik. Sie ist Autorin oder Herausgeberin von neun Büchern. Ihre Reflexion über das Schicksal ihrer Familie väterlicherseits im besetzten Griechenland, „Daddy’s War“ (2009, 2012), eröffnete für die Untersuchung von persönlichem Material ein neues Genre, das „Paramemoir“. Soeben ist der Sammelband „On Being Adjacent to Historical Violence“ (De Gruyter Verlag 2022) erschienen. Kacandes hat führende Positionen in internationalen Fachorganisationen inne, war Präsidentin der „German Studies Association“, der „International Society for the Study of Narrative“ und leitet eine Buchreihe zu “Interdisciplinary German Cultural Studies” im De Gruyter Verlag. Kacandes lebt in den USA und der Schweiz.
Erzählen Sie uns bitte von Ihrem Vater!
Irene Kacandes: Mein Vater hat den Zweiten Weltkrieg im besetzten Griechenland miterlebt. Als männliches Kind, das in einem US-Krankenhaus geboren worden war, war mein Vater im Gegensatz zu anderen christlichen, griechischen Jungs beschnitten. Mir wurde überliefert, dass seine Beschneidung als Beweis dafür verwendet wurde, dass er Jude sein musste. Soweit ich weiß, wurde er nie in ein Lager geschickt. Er wies meines Erachtens viele Symptome einer PTBS auf, hatte Schlafstörungen, litt unter Dysphorie, Angst, Wiederholungszwang. Gewöhnliche Alltagssituationen lösten starke emotionale Reaktionen bei ihm aus. Er hat seine Traumata nie verarbeitet. Ich litt deshalb lange unter großer Angst, obwohl ich spürte, dass sie nicht zu mir gehörte.
Wie haben sich die Erfahrungen Ihres Vaters auf Sie ausgewirkt?
Als ich neun Jahre alt war, war ich mir sicher, dass ich vergewaltigt werden würde. Es hat lange gedauert, bis ich herausgefunden habe, woher diese Angst kam. Ich vermute, dass mein Vater Zeuge einer Vergewaltigung geworden ist. Da ich meiner Mutter ähnlich sah, und er um sie fürchtete, gab er diese Angst an mich weiter.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Als Erwachsene hatte ich das Gefühl, dass er mir eine Erklärung schuldete. Ich wollte das verstehen, weil es mein Leben beeinflusste. Es ging Richtung Hass. Ich wollte meine Beziehung zu meinem Vater verändern.
Wie haben Sie sich damit auseinandergesetzt?
Meine Freundin Marianne Hirsch hat das Konzept der „Post-Memory“ entwickelt. Als sie mir davon erzählte, ergab es sofort Sinn: Was meinem Vater widerfahren war, hatte in mir Heimat gefunden.
Wann haben Sie begonnen, sich für Frauenrechte zu interessieren?
Ich war noch ein Kind, als die große Frauenbewegung in den Vereinigten Staaten begann. Obwohl noch ein Mädchen, war mir sofort klar, dass Frauen mehr Rechte brauchten. Mein Vater hatte zwar viele Probleme, aber er hat an uns, an seine Töchter geglaubt. Wir gingen alle aufs College. Er wollte, dass wir ein erfülltes Berufsleben haben. Ich habe mit meinem Interesse für Frauenrechte nicht gegen meinen Vater rebelliert. Es war eine Reaktion gegen die Gesellschaft als Ganzes.
Was tut Gewaltforschung?
Im Englischen wird der Begriff „Gewaltforschung“ selten verwendet. In den USA werden eher die Begriffe „War and Peace Studies“ und „Trauma Studies“ benutzt. Mein Fachgebiet der Gewaltforschung ist innerhalb der Kulturwissenschaft angesiedelt und arbeitet nach einem interdisziplinären Ansatz. Wir nutzen Erkenntnisse aus der Medizin, der Soziologie, aus der Analyse von kulturell relevanten literarischen Texten und aus Medienberichten. Grundlegend dafür waren und sind die Kultur- und Geschichtswissenschaft, besonders hinsichtlich der Holocaust-Studien. Es ist auch notwendig zu berücksichtigen, wie sich Armut auf eine Person auswirkt. Meine persönliche Forschung ist deutlich von Gender-Studien beeinflusst.
Wie haben Sie sich der Gewaltforschung genähert?
Es gibt keine Formel für die Analyse von Gewaltforschung in Bezug auf Geschlechter- oder Generationenforschung. Ich habe mich dem Thema genähert, indem ich meine Familie befragt, Interviews mit Überlebenden des Holocaust beigewohnt und mich mit der Arbeit zum 11. September beschäftigt habe.
Wer ist besonders gefährdet für Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS)?
Bei Menschen, die unter Rassismus, Armut, häuslicher Gewalt oder Inzest leiden, die eine sexuelle Identität haben, die als „nicht normal“ wahrgenommen wird, die eine Form von physischer, psychischer, sexualisierter, ökonomischer oder struktureller Gewalt erlebt haben oder erleben, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie nach einem erneuten Trauma eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Zum Beispiel haben Betroffene im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 eine PTBS entwickelt, obwohl sie nur in den Nachrichten davon gehört haben. Mehrere belastende Ereignisse (Stressoren) können Auslöser dafür sein. Von Holocaust-Überlebenden wissen wir, dass deren Kinder besonders dann Traumata erlitten haben, wenn die Eltern das Trauma nicht verarbeitet haben. Die Mechanismen dafür sind nicht ganz klar. Wer lange und viel Stress hat, ist anfälliger für die Entwicklung eines Traumas. Aber auch das Gegenteil geschieht: Menschen erleben ein schweres Trauma und entwickeln keine PTBS. Warum das so ist, wissen wir nicht.
Zum Beispiel haben Betroffene im Zusammenhang mit dem 11. September 2001 eine PTBS entwickelt, obwohl sie nur in den Nachrichten davon gehört haben.
Was raten Sie Menschen mit Posttraumatischen Belastungsstörungen?
Sie sollten sich einer Person anvertrauen, die die Informationen nicht gegen sie verwendet und sie nicht nutzt, um sich selbst als Opfer darzustellen. Dieser Mechanismus ist inzwischen weit verbreitet. Vor allem in den USA, aber nicht nur dort, beobachten wir, wie Menschen oder Gruppen plötzlich behaupten, Opfer zu sein. So hat sich etwa neben der Black-Lives-MatterBewegung (BLM), bei der gezeigt wurde, dass Afroamerikaner*innen häufiger getötet werden als jede andere Gruppe, eine Bewegung namens „Blue Lives Matter“ entwickelt. Das Blau bezieht sich auf die Polizei. Es ist interessant, welche Rhetorik entwickelt wurde, um die Opferrolle auf jemand anderen zu übertragen. Natürlich gibt es Gewalt gegen Polizei. Aber in Bezug auf Afroamerikaner*innen ist diese klar im Vorteil. Das ist die Aneignung einer Opferrolle, die ich für sehr gefährlich halte. Trump war König darin. Bei allem, was man ihm vorwarf, sagte er, er sei das Opfer. Auch in der Ukraine gibt es eine Schuldumkehr. Ja, Russland behauptet, es sei Opfer der Ukraine, die Ukrainer seien Faschisten und müssten bekämpft werden. Die Russen stellen sich als Opfer dar.
Und in Bezug auf Frauen?
In den USA hat Peggy McIntosh in der feministischen Bewegung über das Konzept des „Privilegs“ gesprochen. Menschen mit weißer Hautfarbe genießen aufgrund ihrer Hautfarbe Privilegien. Peggy McIntosh hielt es für wichtig, dass sie dieses unverdiente Privileg anerkennen. Wir wünschen uns, dass dieselben Privilegien für alle gelten, zum Beispiel Bankkredite für Wohnungen für alle Menschen. Für Weiße ist es einfacher, einen Kredit zu bekommen. Aber dann kamen Eltern, die sagten: „Hört auf, meinem Kind zu sagen, dass es schlecht ist, weil es weiß ist.“ Darum geht es in diesem Konzept nicht. Das ist ein Missverständnis.
Wie kommt die Gesellschaft aus dieser Falle raus?
Wir müssen etwas über systemischen Rassismus lernen. Wir können nicht über Details sprechen, wenn wir die Unterschiede davor nicht differenziert betrachtet haben, wenn wir nicht darüber reflektieren, wie wir gemeinsam eine gerechtere Gesellschaft entwickeln können. Infolge der BlackLives-Matter-Bewegung haben Weiße begonnen, zuzuhören als Schwarze über ihre Alltagserfahrungen berichteten, wie oft sie beispielsweise wegen eines Fahrverhaltens geschlagen oder wie oft sie beim Betreten eines Geschäfts angehalten wurden. Viele Menschen waren und sind sich dieser ungleichen Situation nicht bewusst. Die meisten weißen Amerikaner*innen denken, sie lebten in einer freien Gesellschaft.
Wie kann der Diskurs gelingen?
Man kann mit Fakten beginnen und versuchen, sie so darzustellen, dass die Menschen sie aufnehmen und nicht mehr wegschieben können. In Südtirol ist beispielsweise der Unterschied zwischen dem, was Männer und Frauen verdienen, immer noch groß. In den USA nähert er sich inzwischen immer mehr an.
Weiße Amerikaner*innen denken, sie lebten in einer freien Gesellschaft.
Was hat sich seit MeToo verändert?
Die MeToo-Bewegung hat viele positive Veränderungen gebracht. Leider gab es auch Gegenreaktionen, das Muster ist dasselbe wie eben erklärt. Es war wichtig, dass Männer erfahren haben, auf welch vielfältige und infame Weise Frauen in ihrem Alltag Gewalt erfahren. An meiner Universität haben wir viel dafür getan, dass Studenten „sexuelle Einwilligung“ verstehen. Das ist eine wichtige Diskussion, die inzwischen auch in Europa eine größere Rolle spielt. Dennoch haben wir noch einen langen Weg vor uns: bis die Menschen beispielsweise Trans* verstehen und wissen, was das bedeutet. Sexualität findet in einem großen Spektrum statt. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die völlig heterosexuell oder homosexuell sind. Die meisten liegen irgendwo in der Mitte.
Wer kann da unterstützend wirken?
Da kann die Biologie helfen. Sie kommt mit Ethik und Soziologie in Berührung. Biolog*innen können erklären, dass die sexuelle Veranlagung eines Menschen komplex ist, dass wir ein sexuelles Spektrum haben und nicht zwei Pole, wie lange Zeit geglaubt.
Was kann dagegen getan werden, dass Menschen, die „anders“ lieben, begehren oder aussehen als die normvorgebende Mehrheit, keine Angst haben müssen?
Wir brauchen mehr Menschen, die bereit sind, diese Geschichten zu hören und die Gefühle zu verstehen, die sie auslösen. Ich war auf einer Kreuzfahrt auf der Donau. Eine ältere Frau hörte, wie ich über diese Themen redete. Sie sprach mich an undsagte, dass ihre Enkelin ihr erzählt habe, dass sie ein Junge sei und sich wie ein Mann kleiden möchte. Die Frau sagte, dass sie das total verwirre. Wer noch nie eine Geschichte über eine TransgenderPerson gehört, wer noch nie erzählt bekommen hat, was es mit einer Person tut, in Mädchenkleider gesteckt zu werden, obwohl sie sich wie ein Junge fühlt, wer solche Gefühle nie selber hatte, kann das schwer verstehen. Kulturell gesehen malt die Gesellschaft die Dinge immer noch viel zu männlich/weiblich. Das ändert sich langsam, aber die Trennung besteht weiter. Wir brauchen mehr Geschichten, Verständnis, Kunstwerke, Theaterstücke, die uns helfen, diese Geschichten zu verstehen.
Interview: Judith Rifeser und Maria Lobis
SUMMER SCHOOL SÜDTIROL
Vom 21. bis 26. August findet auf Schloss Velthurns in Feldthurns die Summer School Südtirol 2022 statt. Zum Schwerpunkt „Trauma und Drama“ bringt das Forum eine Reihe von Expert*innen zusammen, die verschiedene Aspekte eines schwerwiegenden Leids beleuchten, das in der Gegenwart fortwirkt, obwohl es in der Vergangenheit verursacht wurde. Irene Kacandes hält am Sonntag, 21. August auf Schloss Velthurns um 19 Uhr den Eröffnungsvortrag der Summer School Südtirol 2022. Der Eintritt ist frei, keine Anmeldung notwendig. Sie wird die Motivation und den Prozess hinter ihrem wegweisenden Sammelband „On Being Adjacent to Historical Violence“ (2022) vorstellen. Die mitwirkenden Autor*innen, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen erzählen von sich selbst, ließen sich von Themen und Gegenständen der Holocaust-, Queer- und Black-Studies inspirieren. Sie decken Verbindungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf und fragen sich, einander und letztlich die Leser*innen: Wo stehe ich im Verhältnis zur Gewalt? Wie ist meine Haltung zu dieser Nachbarschaft? Wessen Geschichte darf von wem erzählt werden? Welche Geschichte soll dieses Bild erzählen? Wie kann ich das Leiden eines anderen Menschen miterleben? Wie würdige ich die Handlungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit von Familienmitgliedern oder historischen Persönlichkeiten?
Info: www.summerschoolsuedtirol.eu
Dieses Interview erschien erstmals in der Straßenzeitung zebra. (11.7.-11.9.2022, Nr. 77).
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