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„Die wichtigste EU-Parlamentswahl in der Geschichte“, so warnten Politiker, Stars und Journalisten. Was haben die EU-Bürger draus gemacht? Sehr viel Unterschiedliches, das steht auf den ersten Blick fest. Einige Umwälzende Trends – zum Beispiel der Abbau der etablierten Volksparteien – lassen sich aber überall beobachten. Was das für unsere Zukunft bedeutet, versucht Petra Malfertheiner, Betreiberin des EU-Blogs Eureka!, zu erklären.
Die EU-Wahlen sind geschlagen – mit einigen Showdowns. Was hat dich am meisten überrascht?
Frankreich. Ich glaube, hier ist Macron dem neuen Geist der Bewegungen zum Opfer gefallen (mit 22,4 Prozent lag Macrons Bewegung „En Marche“ hinter der xenophoben und EU-kritischen Rassemblement National, die mit 23,3 Prozent erste Kraft in Frankreich wurde; Anm. d. R.). Wie alle neu entstandenen Bewegungen – in Italien wäre es der M5S – konnte auch En Marche nicht auf eine breite Basis oder Stammwählerschaft setzen. Die Begeisterung, die am Anfang noch für das Neue da war, verpufft dann ziemlich schnell, spätestens, wenn nicht alle Wahlversprechen in die Tat umgesetzt werden.
Für Staunen sorgte auch Deutschland. Die Grünen verdoppelten von 10,7 auf 20,5 Prozent. Unter den Erstwählern wählte sogar jeder Dritte grün. Ist das die Zukunft?
Zum aktuellen Erfolg der Grünen haben die Fridays for Future sicher einen guten Teil beigetragen. Viele der Erstwähler sind jene Schüler und Schülerinnen, die wöchentlich gegen den Klimawandel demonstrieren gehen. Bei den nächsten Wahlen werden sie fünf Jahre älter sein, bis dahin können sich die politischen Präferenzen diversifizieren. Die Grünen haben es in der Hand. Wenn sie eine gute Arbeit leisten und die grüne Agenda im Rahmen der Möglichkeiten umgesetzt wird, dann kann es durchaus sein, dass die Erstwähler von heute auch in fünf Jahren noch grün wählen.
In Italien blieb „Europa Verde“ weit unter der Sperrklausel von 4 Prozent und wird damit nicht ins EU-Parlament ziehen. Fehlt das ökologische Bewusstsein?
Das ökologische Bewusstsein gibt es durchaus auch hier, mit dem Unterschied, dass die Grünen in Deutschland bereits eine etablierte Partei sind, da konnten die Fridays for Future auf fruchtbaren Boden stoßen. Nicht so in Italien: Grüne Themen sind zwar bei mehreren bekannten Parteien vertreten, z. B. PD, Sinistra Italiana und die Radicali, die mit +Europa auf einer Liste waren. Sogar Giorgia Meloni von den rechtsnationalen Fratelli d’Italia hat in ihrem Wahlkampf die Umweltfrage thematisiert. Da stellt sich aber die Frage, ob die Umwelt wirklich ein Anliegen oder nur ein Wahlkampfgag ist. Als Einzelaktion kommt es immer gut an, wenn man mit Schaufel und Pickel in einem Garten posiert.
Einen erstaunlichen Erfolg hat die Lega eingefahren: 34,3 Prozent. Und das, nachdem sie bei der letzten EU-Wahl 2014 noch bei 6,15 Prozent lag. Was passiert mit Italien?
Im Jahr 2014 war der Renzi-Hype noch in vollem Gange und der PD führte mit über 40 Prozent. Dadurch hat Renzi sich zu sicher gefühlt und stürzte mit dem Verfassungsreferendum, das an seine Person gekoppelt war, ab. Salvini ist jetzt gut damit beraten, nicht dieselben Fehler zu begehen. Was an Italien auffällt, ist die strikte Orientierung des Wahlkampfes nicht an Europa-, sondern an rein nationalen Themen. Und zwar quer durch alle Parteien, nicht nur bei den Rechten. Übrigens glaube ich nicht, dass alle Salvini-Wähler rechtsradikal sind. Sein Erfolg rührt mitunter auch daher, dass es im rechten Spektrum keine ernsthafte Alternative gibt.
Auch nicht Berlusconi und seine Forza Italia?
Auch der ist für viele keine Option, da er in die Kategorie des Establishments fällt. Stattdessen ziehen aber Salvinis starke Worte und seine Anti-EU-Parolen. Er schafft es einfach, ständig in den Medien präsent zu sein. Und das wirkt.
Auch in Südtirol legte die Lega mit 17,47 Prozent stark zu. Welche Rolle spielen dabei die deutschsprachigen Wähler?
Ich war am Sonntag Wahlsitzpräsidentin in einer Sektion der Gemeinde Kastelruth und habe auch dort Zahlen für die Lega gesehen, wie nie zuvor. Zweifellos hat die Lega unter den deutschsprachigen Südtirolern viele Stimmen gefunden. Wie man sich das erklären kann: Für konservative Südtiroler, die eine Alternative zur SVP suchten, gab es wenig andere Optionen. Auch die Freiheitlichen standen dieses Mal nicht zur Wahl, weil sie nicht angetreten waren.
Eine gute Nachricht gibt es aber: Die Wahlbeteiligung stieg von 49 auf 60 Prozent. Ein wirklich großer Sprung!
Das ist ein Erfolg, der zurecht gefeiert wird. Aber in Euphorie würde ich nicht verfallen. Es sind nicht nur die Kampagnen der EU, die den Menschen klargemacht haben, dass Europa wichtig ist, sondern auch die Angstmache, die auf beiden Seiten betrieben wurde: Auf der einen Seite hieß es, die Populisten wollten Europa zerstören, auf der anderen Seite verlautete man, Brüssel überschwemme die Nationalstaaten mit seinen Regulierungen und gefährde die Souveränität. Man sollte deshalb vorsichtig sein, die höhere Wahlbeteiligung mit einem neuen Europa-Enthusiasmus gleichzusetzen. Das Interesse an Europa liest man an anderen Indikatoren ab.
Welche wären das?
Nach einer Umfrage von Demópolis, die 16 Tage vor der Wahl durchgeführt wurde, kannten viele Menschen mit Wahlabsicht noch nicht mal die Kandidaten. Nicht selten geraten die EU-Politiker schnell in Vergessenheit und tauchen erst beim nächsten Wahlkampf wieder auf. Stattdessen sollten sie versuchen, dieses momentane „Interesse“ an der EU-Politik leicht köcheln zu lassen, ohne die Flamme zu sehr aufzudrehen und schon gar nicht sie abzudrehen. Gerade die Begeisterung der jungen Wähler sollte man nicht einfach verdampfen lassen. Stattdessen sollte man die Jugendlichen mitnehmen, den Versprechungen Taten folgen lassen, ansonsten wandelt sich dieser Enthusiasmus ganz schnell in Frust um.
Zu den Verlierern dieser Wahl zählen die großen europäischen Volksparteien S&D (mitte-links) und EVP (mitte-rechts). Erhielten sie genug Stimmen, um sich die wichtigen Posten, wie sonst üblich, untereinander aufzuteilen?
Entscheidend für Mehrheiten sind während der nächsten Legislatur-Periode vor allem die Liberalen und auch die Grünen. Auch jetzt, bei der Verteilung der wichtigsten Ämter, könnten sie zum Zünglein an der Waage werden. Als Favorit für das Amt des Kommissionspräsidenten gilt aber nach wie vor der Spitzenkandidat der EVP Manfred Weber.
Einige Kommentatoren sagen bereits das Verschwinden der beiden großen Volksparteien voraus. Wäre das eine Gefahr für die europäische Demokratie?
Je nachdem. Der Rechtsprofessor Andrew Harding bewertete den Brexit als ein Ereignis, der die beiden britischen Großparteien aus dem Weg räumt und Platz für etwas Neues schafft, etwas Besseres – oder etwas noch viel Schlimmeres. Er sieht es jedenfalls als Chance. Ganz ähnlich kann man es auf gesamteuropäischer Ebene sehen. Was wird die alten Parteien ersetzen? Wenn es die Bewegungen sind, wie es zurzeit den Anschein hat, dann werden sie sich, aufgrund ihrer Instabilität und ihrer fluktuierenden Wählerschaft, schnell gegenseitig auswechseln. Die wertvolle Eigenschaft einer Partei, auch eine Ausbildungsstätte für qualifizierte und professionelle Politiker zu sein, ginge verloren.
Danke für das Gespräch!
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