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Das Verhältnis zwischen Mensch und Natur ist gestört. Um das überwinden, brauche die Natur Rechte, sagt Alex Putzer, Doktorand an der Scuola Superiore Sant’Anna in Pisa. Er ist überzeugt, dass ein neues Rechtsverständnis Teil der Lösung ist. Im Interview erklärt der Brixner, wie die Rechte der Natur aussehen könnten und warum ein solcher Schritt gar nicht so utopisch ist, wie er klingt.
Du plädierst für die Anerkennung der Rechte der Natur. Wie bist du auf diesen Gedanken gekommen?
Ein Zeitungsartikel über den Whanganui Fluss in Neuseeland hat mein Interesse geweckt. Diesem Fluss wurden 2017 auf Druck der Maori, den Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern Neuseelands, Rechte zuerkannt. Darauf aufbauend habe ich meine Masterarbeit und nun auch mein Doktoratsstudium diesem Thema gewidmet. Die Rechte der Natur sind nicht nur eine Idee, die in der Wissenschaft zirkuliert. Es gibt bereits konkrete Vorbilder und eine kleine, aber aktive Community, die sich weltweit für die Anerkennung der Rechte der Natur einsetzt. Wir versuchen ein neues Bewusstsein zu schaffen, das nicht auf der Hierarchie von Mensch und Natur, sondern auf der Harmonie zwischen den Beiden beruht.
Wie können wir uns die Rechte der Natur vorstellen: Kannst du die Idee an einem Beispiel skizzieren?
Die Rechte der Natur wurden vor allem in Ecuador bekannt. Es ist das bisher einzige Land, in dem solche Rechte in der Verfassung verankert sind. Wird die Natur verletzt, können Bürgerinnen und Bürger Klage einreichen. Bis jetzt gab es in Ecuador über vierzig Gerichtsurteile, die sich auf die Rechte der Natur berufen – ungefähr dreißig waren erfolgreich und konnten sogar Bauvorhaben stoppen.
Worauf baut dieses alternative Rechtsverständnis auf?
Im Falle Ecuadors wurden indigene Wertvorstellungen rund um das Konzept Pachamama, zu Deutsch „Mutter Erde“, in die Gesetze des Landes übersetzt. Die meisten Fälle haben aber nichts mit indigenen Wertvorstellungen zu tun, sondern bauen auf dem Gedanken auf, dass der momentane Umgang mit der Natur nicht funktioniert. Mancherorts werden die Rechte der Natur als generische Idee vertreten, andernorts werden spezifische Einzelrechte aufgelistet. Die Flüsse Ganges und Yamuna hatten in Indien sogar kurzfristig Menschenrechte. Ich glaube aber, dass es hier eine Unterscheidung braucht: Menschen haben Menschenrechte, Tiere Tierrechte und Flüsse Flussrechte. Wichtig ist, dass die anerkannten Rechte die Integrität des Subjekts fördern.
Trotzdem: Müssen Menschenrechte eingeschränkt werden, um Platz für die Rechte der Natur zu schaffen?
Es geht nicht um eine Einschränkung der Menschenrechte, sondern darum, das eigene Selbstverständnis zu überdenken. Bei der Debatte um Frauenrechte beispielsweise gibt es ähnliche Behauptungen: Sollten Frauen Rechte bekommen, schränke dies die Rechte von Männern ein – so argumentieren die Gegner. Bis auf das Recht auf die Unterdrückung der Frau hat der Mann aber immer noch gleich viele Rechte wie vorher. Bei den Rechten der Natur verhält es sich ähnlich. Ausbeutung, Ausrottung und Zerstörung haben nichts mit Rechten zu tun.
Frauen wie Männer haben im Gegensatz zur Natur nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten oder zumindest den Anspruch, die Rechte anderer nicht zu verletzen. Rechte ohne Pflichten – geht das überhaupt?
Dass die Natur keine Pflichten hat, ist einfach zu verstehen: Wir können nicht erwarten, dass sich die Natur an unsere Gesetze hält. Auch bei Menschen ist der Rechtsbegriff nicht unbedingt mit Pflichten verbunden. Kleinkinder haben zwar Rechte, aber keine Pflichten.
Wenn aber jeder Teil der Natur Rechtsträger ist, laufen wir dann nicht Gefahr, unsere Handlungen bis zur Untätigkeit einzuschränken?
Es geht nicht darum, die Natur in Ruhe zu lassen, sondern sie auf Basis von Kriterien – von Rechten – zu behandeln. Ich werde immer wieder mit ähnlichen Vorwürfen konfrontiert: Wenn die gesamte Natur Rechte hat, dürfen wir dann noch gegen das Coronavirus kämpfen oder das Malariavirus ausrotten? Über Grenzfälle wie diese müssen wir natürlich diskutieren. Aber um den zerstörerischen Instinkt, den Menschen gegenüber der Natur an den Tag legen, zu unterbinden, sind solche Detailfragen unwichtig. Aus rein pragmatischer Sicht kann das destruktive Verhältnis zwischen Mensch und Natur auch dann verändert werden, wenn nicht jede Ecke kohärent und logisch ausgetüftelt ist.
Auch ein einfaches Gesetz könnte unseren Eingriffen in die Natur Grenzen setzen. Warum brauchen wir dafür ein neues Rechtsverständnis?
Gesetze zum Schutz der Natur sind wichtig. Diese zielen jedoch meist auf Lösungen ab, die das Verhältnis zwischen Mensch und Natur nicht hinterfragen. Der Wechsel zu erneuerbaren Energien oder das Verbot bestimmter Pflanzenschutzmittel verändern zwar unsere Vorgehensweise, gehen aber an unserem Lebensstil und dem Selbstverständnis, mit dem wir der Natur begegnen, spurlos vorüber.
Wenn ich mit dem Flugzeug in den Urlaub fliege, muss ich meine Entscheidung nicht nur vor zukünftigen Generationen rechtfertigen, sondern schon heute vor der Natur selbst.
Ziel ist es also, ein neues Bewusstsein für Mensch und Natur zu schaffen?
Genau! Wie schon Darwin erforscht hat, ist die Grenze zwischen Mensch und Natur fließend. Viele erkennen diese Tatsache im biologischen Sinne, beim Gesetz hört das Verständnis aber auf. Wird die Natur auch rechtlich als ein Ganzes anerkannt, deren Subjekte allesamt – ob Mensch, Berg oder Tier – ein Recht auf Integrität haben, können wir einen neuen Umgang erreichen. Wenn ich mit dem Flugzeug in den Urlaub fliege, muss ich meine Entscheidung nicht nur vor zukünftigen Generationen rechtfertigen, sondern schon heute vor der Natur selbst: den Vögeln auf der Startbahn, den Böden, der Luft. Misshandlungen der Natur können nicht mehr durch kategorische Unterschiede zwischen Mensch und Natur begründet werden, sondern verlangen plötzlich nach einer Rechtfertigung, die darüber hinausgeht.
Wer entscheidet aber, wem welche Rechte zuerkannt werden?
Die Natur muss natürlich repräsentiert werden. In Neuseeland ernennt man Vertreterinnen und Vertreter, die im Namen des Flusses sprechen. In Ecuador hingegen können sich alle Bürgerinnen und Bürger auf die Rechte der Natur berufen. In den meisten Rechtsstaaten ist es üblich, dass nur wer selbst betroffen ist, Anzeige erstattet. Wenn es um die Zerstörung des Amazonas, eine der grünen Lungen des Planeten geht, sind natürlich alle betroffen. Bei Tierrechten ist es schon schwieriger, Betroffenheit nachzuweisen. Durch eine Vertretung der Natur können sich Einzelne in den politischen und rechtlichen Prozess einfügen, ohne selbst betroffen zu sein.
Der Mensch übernimmt also trotzdem eine zentrale Rolle.
Es braucht die menschliche Einschätzung. Deshalb stehen wir aber nicht über anderen Lebewesen oder Naturphänomenen. Trotzdem ist mir bewusst, dass eine gewisse Bevorzugung der Menschen unumgänglich ist. Ich persönlich würde mich im Grenzfall auch dafür entscheiden, ein menschliches Kind anstelle eines Tieres zu retten. Doch auch diese Gedankenexperimente ändern nichts an der grundlegenden Prämisse.
Wer ist das Subjekt, dessen Rechte anerkannt werden: Der Baum, der Wald oder der Berg, auf dem sich der Wald befindet?
Ein Landesgesetz könnte beispielsweise die Rechte der Südtiroler Natur verankern. Von Fall zu Fall wird dann ermittelt, welcher Teil der Natur in seinen Rechten verletzt wurde. Wird ein Fluss verschmutzt, geht es um die Rechte des Flusses. Wenn der Fluss sauber ist, die Fische aber aus anderen Gründen darin zugrunde gehen, geht es um die Rechte der Fische. In den meisten Fällen wird schnell klar, um welches Recht es geht.
Und die Verletzung dieser Rechte wird dann zur Anzeige gebracht?
Das wäre eine Möglichkeit. Ein Gesetz ist aber nicht nur Anklageinstrument, sondern hat auch einen Bildungseffekt. Durch ein Gesetz, das die Rechte der Natur verankert, wird eine neue Diskussionsbasis geschaffen: ein Bewusstsein dafür, dass Tiere, Wälder, Berge, aber auch das Landschaftsbild als solches in unsere Überlegungen einbezogen werden müssen.
Die Rechte der Natur, eine reine Utopie?
Nein. Auf nationaler Ebene in 36 Ländern weltweit und auf Ebene der EU und der Vereinten Nationen beginnt die Idee Fuß zu fassen. Im deutschsprachigen Raum gibt es noch kein Gesetz zu den Rechten der Natur. Die Südtiroler wären in dieser Hinsicht die Ersten. Ob Südtirol sich dazu durchringen wird, weiß ich nicht. Ich plädiere auf jeden Fall dafür.
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