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Es regnet, in einem dunklen Raum sitzen und schlafen mehrere Männer um die vierzig. Es ist Nachmittag, einer von ihnen, Richard*, frühstückt gerade. Wir befinden uns am Bahngleis 7, es liegt etwas versteckt. Es ist ein Stumpfgleis, das die meisten Bozner meiden und das für manche Südtiroler dennoch das wichtigste in ihrem Leben ist. Bahngleis 7 ist nämlich kein Gleis, an dem Reisende auf ihren Zug warten, sondern ein Zentrum, in dem aktive Drogenkonsumenten ihren „drop-in“ finden: ihren Lebensraum. In der Nähe des Bahnhofsparks befindet sich die unscheinbare, graue Tür – daneben ein Automat mit sauberen Spritzen. Wenn die Anlaufstelle für die Südtiroler Drogenabhängigen geschlossen ist, können sie sich hier mit neuem Besteck versorgen. Doch am heutigen Nachmittag in der Osterwoche hat das Zentrum geöffnet. Der 42-jährige Richard ist einer seiner Besucher. Er lebt in einer Notunterkunft in Bozen, da er obdachlos ist. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr trinkt er Alkohol, schluckt Tabletten und setzt sich Spritzen. Er sieht älter als 42 aus, während des Gesprächs knetet er seine Hände. Es ist schwierig für ihn, sich an alles genau zu erinnern. „Von meiner grauen Substanz ist nicht mehr viel übrig geblieben“, sagt er entschuldigend.
„Von meiner grauen Substanz ist nicht mehr viel übrig geblieben.“
RichardBahngleis 7 ist ein großer Saal. Mehrere Sofas stehen in einem Kreis, daneben ein paar Tische. An der Theke arbeiten einige der sieben Mitarbeiter des Zentrums, im Hintergrund rattern vier Waschmaschinen und trocknet ein Handtuch auf dem Wäscheständer. Bahngleis 7 ist eine sogenannte niedrigschwellige Anlaufstelle für Drogenabhängige, welche von der Caritas betrieben wird. Das bedeutet: Hier bekommen aktive Drogenkonsumenten ohne Termin und ohne große bürokratische Hürden Hilfe angeboten. Praktische Hilfe: Sie können hier ein günstiges Mittagessen kaufen, sich ausruhen, ihre Sachen unterstellen, sich duschen, ihre Kleidung waschen und saubere Spritzen bekommen. Und nicht zuletzt bekommen sie Hilfestellungen bei allem, was ansteht: Wenn sie ein Telefon für Jobbewerbungen brauchen, dürfen sie das dortige benutzen. Wenn sie jemanden zum Reden brauchen, dürfen sie sich an die Mitarbeiter wenden. Wenn sie aus dem ganzen Sumpf herauswollen, dann helfen die Mitarbeiter, einen geeigneten Therapieplatz für sie zu finden. Doch nur, wenn die Drogenabhängigen das wollen. „Wir haben keinen Abstinenzauftrag“, sagt die Leiterin der Anlaufstelle, Patrizia Federer, „sondern wir arbeiten mit den Aufträgen, die die Klienten an uns stellen. Sobald man diese wertende Haltung – Du musst damit aufhören! – weglässt, dann öffnen sich Kommunikationsräume und unsere Klienten beginnen, uns zu vertrauen. So können wir ihnen besser helfen.“
„Wenn dieser Platz hier nicht wäre, wäre das echt scheiße.“
Richard„Hier ist es super. Wenn dieser Platz hier nicht wäre, wäre das echt scheiße“, sagt Richard. Da die meisten Drogenabhängigen obdachlos sind, wohnen sie in Notunterkünften. Dort müssen sie um acht Uhr morgens raus und dürfen um halb sieben Uhr abends erst wieder hinein. Bahngleis 7 ist der Ort, an dem sie ihren Tag verbringen. „Weil man so den ganzen Tag nur rumhängt, brauche ich halt auch mehr Geld. Vorher war ich in einer anderen Notunterkunft, da durfte man den ganzen Tag lang drinnen bleiben. Da bin ich mit 75 Euro pro Woche leicht ausgekommen. Aber jetzt, wo ich 100 Euro habe, komme ich nicht aus. Weil ich immer draußen sein muss. Dann geht man in eine Bar, morgens und abends, wenn Bahngleis 7 nicht geöffnet hat.“
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Richard kennt sich aus mit dem Leben auf der Straße. Noch minderjährig begannen seine Probleme mit der Sucht: Nachdem er mehrmals von seinen Eltern in die Psychiatrie in Bozen und ein Therapiezentrum in Hall in Tirol gebracht worden war, wussten sie nicht mehr ein noch aus und warfen ihn aus der Wohnung. Sie hofften, dass er so zur Vernunft kommen würde. Eigentlich hätte er bei seiner Oma schlafen dürfen, erzählt er, doch er bevorzugte es damals, auf der Straße zu leben. „In Brixen nannten sie mich den „König der Tabletten“. Ich hatte einen Rucksack, und der war immer voller Tabletten. Alles war da drinnen. Das hat dann aber bald aufgehört, weil es die guten Tabletten bald nicht mehr gab. Heute sind sie so niedrig dosiert, die interessieren mich nicht mehr.“ Was er heute nehme, frage ich, und er meint, er könne schon die Wahrheit erzählen: „Tavor, aber das spüre ich fast nicht mehr. Hie und da einen Schuss, eigentlich mehr als hie und da, eigentlich die Woche drei Mal. Aber ich trinke nicht mehr. Ich bin jetzt 42, und mein Körper schafft es nicht mehr. Alkohol ist brutal, das Schlimmste vom Ganzen. Ganz sicher. Nicht nur, weil er dem Körper so schlecht tut, sondern auch wegen dem Drumherum: Da wird man aggressiv, macht Puff, geht stehlen, zettelt Schlägereien an. Am nächsten Tag muss man sich schämen. Alkohol ist wirklich scheiße.“
„Ich bin jetzt 42, und mein Körper schafft es nicht mehr. Alkohol ist brutal, das Schlimmste vom Ganzen. Ganz sicher.“
RichardRichard ist ein typischer Besucher der Anlaufstelle. Wie die meisten von ihnen ist er um die vierzig, konsumiert nicht nur eine, sondern mehrere verschiedene Drogen, ist obdachlos. Junge Abhängige kommen seltener hierher, erzählt Patrizia Federer. „Die Jungen haben ein anderes Bild von sich selbst als Konsumenten. Außerdem identifizieren sie sich nicht mit den älteren Junkies, die wir hier haben, das ist natürlich auch eine Generationenfrage. Die Minderjährigen versuchen wir deshalb über unser Projekt streetlife.bz zu erreichen, mit dem wir auf Partys unterwegs sind.“ Insgesamt besuchen pro Jahr gut 250 Drogenabhängige aus Südtirol die Anlaufstelle. Eine Gruppe von 50 Konsumenten kommt nahezu täglich, die anderen ab und zu, um sich mit frischen Spritzen zu versorgen. Pro Jahr gibt es zwischen 20 und 22 Neuzugänge. „Ein absolutes Novum ist es, dass seit ein bis zwei Jahren fast alle Neuzugänge sehr jung sind. Dennoch sind unsere Hauptkunden die älteren Abhängigen, die schon lange in diesem Sumpf gefangen sind. Zu ihrer Drogenabhängigkeit kommen fast immer noch psychische Probleme und Krankheiten wie Hepatitis C oder HIV dazu“, sagt Patrizia Federer. Im Endeffekt gibt es keinen richtigen Ort für sie: Sie sind zu jung fürs Altersheim, haben keine Behinderung und dürfen somit nicht in solche Wohnheime. „Sie fallen einfach durch den Rost“, sagt Patrizia Federer. Damit sie nicht ganz fallen, gibt es aber zumindest diesen Ort, dessen Name zwar Flüchtigkeit und Aufbruch verspricht, für Richard und seine Freunde aber dennoch das Zuhause ist: Bahngleis 7.
*Dieser Artikel erschien 2015. Die Anlaufstelle in der Bozner Garibaldistraße ist mittlerweile (Jänner 2021) geschlossen. Die Caritas richtet derzeit neue Räumlichkeiten ein, um ihre Angebote – die derzeit auch coronabedingt eingeschränkt sind – wieder aktivieren zu können.
„Sie fallen einfach durch den Rost“
Patrizia FedererMara Mantinger, Flickr/Christian (Aufmacherbild), Flickr/gwnphotography („Free Refills“)
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