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Er ist der Letzte. Jorge Rodriguez, 34 Jahre alt und Agraringenieur, hat León 2013, im sechsten Jahr der Krise, noch nicht verlassen. Ich kannte ihn einmal gut, aber nun erkenne ich ihn kaum wieder. Den Jorge von früher, den kindlich sorglosen, gibt es nicht mehr. Seine Haare sind vor der Zeit ergraut. Mit Frau und zwei Kindern lebt er auf 80 Quadratmetern Eigentumswohnung, ein zementierter Neubau, vier Zimmer auf zwei Stockwerken. Die ersten eigenen vier Wände. Sie sind auch Jorges Gefängnis. Denn mit ihnen fingen die Probleme an.
Der Nordwesten Spaniens, Region Castilla y León. Es ist ruhig geworden in León. 130.000 Menschen leben hier. Einst, in den guten Zeiten, gehörten meine vier Freunde dazu: Jorge, Ana, Zaida und David. Und Anfang 2007, für sechs Monate als Gaststudentin, auch ich. Am Ende jenes Jahres platzte Spaniens Immobilienblase, da war ich schon wieder fort. Sechs Jahre später sitze ich Jorge gegenüber und frage ihn, wo die anderen sind. „Ana ist nach Deutschland gegangen. Zaida lebt mit David in Madrid. Sie jobbt. Er sucht Arbeit, egal wo.“ Jorge hat seine Freunde lange nicht mehr gesehen.
Spanien verliert seine Elite
Eine Generation verkümmert in der Warteschleife. Die Geschichte meiner Freunde bündelt die Krise der spanischen Jugend. In den ersten Jahren der Demokratie geboren, im spanischen Wirtschaftswunder groß geworden, als Erwachsene aus dem vermeintlich sicheren Nest gestoßen – die am besten ausgebildete Jugend, die Spanien je besaß. Ihre Bewerbungsmappen sind bestückt mit Universitätsdiplomen, sie sprechen mehrere Fremdsprachen, haben Europa bereist. Und dennoch finden sie keine Arbeit, die ihrem Studium entspricht oder kriegen am Ende des Monats Beträge auf ihr Konto überwiesen, die ein Überleben nicht garantieren. Sie sind die Elite, die Spanien irgendwann herausholen könnte aus dieser Krise, die sich durch das Land frisst wie die Raupe Nimmersatt – das Tier aus ihren Kinderbüchern. Sie sind seine wichtigste Ressource, aber Spanien verliert sie.
León, die Stadt der kostenlosen Tapas, kannte 2007 niemand so gut wie Ana, 24 Jahre alt, hier geboren und groß geworden. Sie wusste, wo sonntags Kinofilme umsonst gezeigt wurden, wo man an einem Samstag bei freiem Eintritt ins Theater gehen konnte. Eine aufrechte junge Frau, die ihre Stadt vehement gegenüber dem zwei Autostunden entfernten Valladolid verteidigte. Das hatte beim Wiederaufbau nach der Franco-Diktatur alle Industrie abgekriegt, während León leer ausgegangen war. Touristen pilgerten den Jakobsweg entlang, der quer durch den Norden des Landes führt. Wir pilgerten ins „feuchte Viertel“, in dem sich auf wenig Fläche mehr als 100 Lokale konzentrierten. Zehn Bars an einem Abend, am Ende landeten wir fast immer im Korova – eine Hommage an die Milchbar aus dem Film „Clockwork Orange“. Hier lief Musik, die man in anderen Clubs nicht hörte. Nichts fehlte damals. Alles war so, wie es sein sollte.
An jeder Ecke Leóns eine andere Bank. Die eine leuchtend gelb, die andere tiefrot oder meeresblau, zusammen sahen sie aus wie bunte Bonbons in einer Tüte. Ana hatte gerade ihr Studium abgeschlossen, jobbte im Callcenter der Santander-Bank. Auf ihrem Bildschirm erschienen die Konten jener verschuldeten Kunden, denen sie am Telefon „schnelle Kredite“ als Häppchen präsentierte – Geld ohne Verpflichtung, für den nächsten Urlaub, ein neues Sofa. Unter den Anrufern waren auch Einwanderer. Chinesische Kleinwarenhändler, rumänische Telefonistinnen, Lateinamerikaner, die in den Bars und auf dem Bau ihr Geld verdienten. Sie lebten ihn mit, den spanischen Traum – dafür waren sie in Scharen hergekommen.
Baustellen, überall Baustellen. Die Universität von León, an der David, Zaida und ich studierten, wurde gerade umgebaut, der Campus vergrößert, neue Gebäude sprossen aus dem Boden, ganze Fakultäten in nur sechs Monaten. David war der Gutmütige, der Kumpeltyp, hielt sich gerne im Hintergrund. Damals studierte er Luft- und Raumfahrttechnik. Nach dem Abschluss winkten hervorragende Jobaussichten. Dass ein Ingenieur wie David sechs Jahre später 100 Bewerbungen verschicken würde, von denen die meisten unbeantwortet blieben, hätte 2007 wohl niemand geglaubt.
Zaida war Anglistikstudentin, zur Universität fuhr sie mit dem Auto. Am Nachmittag tranken wir Kaffee mit Eiswürfeln, lernten in der Bibliothek. Zaida guckte Fußballspiele und fieberte einem Sieg der spanischen Nationalmannschaft entgegen. Ihr Vater, ein Autohändler, liebte alles, was aus Deutschland kam. Die Waschmaschine, die Mikrowelle und der Toaster, alle Haushaltsgeräte ihrer Eltern waren deutsch. Nur die Spülmaschine war spanisch und – so Vater José – deshalb ständig kaputt. Die zierliche Zaida, das Einzelkind mit der schwarzen, breitrandigen Intellektuellenbrille und dem Hang zu melancholischer Popmusik. Eine geborene Mitteleuropäerin, im darauffolgenden Jahr sollte sie zwei Semester in Österreich studieren.
2013 ist alles anders
Wie die meisten Spanier sparte auch Jorge nicht. Es waren die Boom-Jahre für Leute wie ihn, in einem Dorf aufgewachsen und zum Studieren nach León gezogen. Als ich ihn kennenlernte, arbeitete er in seinem ersten Job als Agraringenieur. Jorge fuhr einen Zweisitzer der Marke Hyundai Coupé, silberfarben, sportlich, schnell. Er wohnte in einer Altbauwohnung über den Dächern von León. Sein Büro lag nur wenige Gehminuten entfernt. Jorge sah aus wie der Zwillingsbruder des mexikanischen Schauspielers Gael García Bernal. Die Zuversicht, mit der er in den Tag lebte, fand ich beneidenswert.
2013 ist alles anders. Was mir in León sofort auffällt: Nur noch Spanier zeigen sich auf den Straßen, kaum noch Einwanderer sind geblieben – sie hat die Krise als erste getroffen. Es gibt keine chinesischen Geschäfte mehr und auch kein argentinisches Steakhaus. Dafür sehe ich mehr spanische Pilger. Seit der Krise ist der Jakobsweg ein billiges Urlaubsziel geworden, weil Herbergen nur fünf Euro kosten und Wandern ohnehin umsonst ist. Die Wirtschaftsnachrichten in den Regionalzeitungen lesen sich wie Todesanzeigen. Gewerbe sterben, Firmen werden zu Grabe getragen. Gierige Goldhändler kaufen die Verzweiflung der Leóneser dort auf, wo früher Wonderbras anprobiert wurden. „Zum Verkauf“-Schilder kleben an den Schaufenstern leer geräumter Geschäfte. Das Korova, die „Clockwork-Orange“-Bar von damals, wird seine Türen nicht wieder aufsperren.
Zerlumpte Männer hocken, die Hände verschränkt, in Hausecken und vor Supermärkten. Nachts schlafen sie im Vorraum der Banken, direkt neben den Geldautomaten. Eine bittere Ironie der Krise: Die Bank hat den Menschen ihr Heim genommen, aber immerhin dürfen sie bei ihr unterkriechen. Auf der Plaza Marcelo beherbergen vier der fünf Gebäude immer noch Geldinstitute. Statt mit schnellen Krediten zu werben, sprechen sie jetzt von Vertrauen und Schutz: „Wir helfen dir sparen“.
Morgen auf BARFUSS der zweite Teil über Spaniens zukünftige Elite, die einen Weg aus der Krise sucht.
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