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Francesco steht in seiner Küche und kocht Kaffee. Die Mokkakanne dampft auf der Elektroplatte, ein bestechender Duft liegt in der Luft. Auch wenn der Geschmack nicht derselbe ist wie in Italien – ganz ohne Espresso geht es auf Dauer nicht. Und dauern soll sein Aufenthalt in Deutschland noch lange. Denn abgesehen von der Kaffeequalität sind die Erfahrungen, die er hier – in Lüneburg und Hamburg – gemacht hat, durchwegs positiv. Vor sechs Jahren beschloss der heute 28-jährige Krankenpfleger, seine Heimat zu verlassen. Und damit ist er nicht alleine: Viele junge Italiener verließen in den letzten Jahren das Land, 2017 ließen etwa über 40.000 18 bis 34-Jährige ihre Familie und Freunde zurück, um anderswo ihr Glück zu suchen.
Francesco hat an der Sapienza in Rom Infermieristica studiert. Währenddessen sammelte er immer wieder Praxiserfahrung, die ihm einen Einblick in das italienische Gesundheitssystem vermittelte – und am Ende dann vor allem Unsicherheit. Während der Praxissemester erlebte er mit, unter welchen prekären Verhältnissen einige seiner Arbeitskollegen arbeiteten: kurze, befristete Verträge, ein schlechtes Gehalt trotz Überstunden und Nachtdiensten, häufiger Arbeitsplatzwechsel.
Am Ende sah Francesco keinen anderen Ausweg. Er setzte sich in ein Auto, schlug die Tür hinter seiner Familie, seinem Heimatland und den prekären Arbeitsbedingungen zu und startete in sein neues Leben, im Norden Deutschlands.
Im Unterschied zur Gastarbeitermigration sind es heutzutage vielfach die Akademiker, die das Land verlassen.
Die “Fluchtgründe” der jungen Bildungsschicht untersuchen Mitarbeiter des Forschungszentrums IDOS (Dossier Statistico Immigrazione), das Migrationsbewegungen nach und aus Italien erforscht. 115.000 Italiener wanderten 2017 aus, die meisten nach Deutschland und Großbritannien, etwa 40 Prozent davon zwischen 18 und 34 Jahre alt.
In Studien argumentieren die IDOS-Forscher, dass die Dunkelziffer der Auswanderer viel höher sei. Betrachtet man nämlich die Eintragungen in den Registern der ausländischen Behörden, stößt man auf eine große Diskrepanz – deren Mitberücksichtigung schließlich das Ausmaß der Auswanderung klarmacht: 285.000 Menschen verließen demnach im Jahr 2017 das Land – nahezu so viele, wie auf dem Höhepunkt der Gastarbeitermigration der Nachkriegszeit. Im Unterschied zu damals sind es heutzutage jedoch vielfach Akademiker, die das Land verlassen.
Den aktuellen Anstieg an jungen Auswanderern sehen die Wissenschaftler in der schlechten Arbeitsmarktsituation begründet. Im Laufe der letzten zehn Jahre konnte ein Rückgang an Arbeitsplätzen verzeichnet werden, die eine höhere Qualifikation erfordern. Das führt dazu, dass Universitätsabgänger oft vergebens nach einem ihrem Bildungsniveau entsprechenden Job suchen. Das Bild des Studiums als Schritt des sozialen Aufstiegs habe in Italien Risse abbekommen.
Doch nicht alle, die wegen der besseren Chancen ins Ausland abwandern, finden dort, fern der Heimat, auch ihr Lebensglück. Wie Caterina, die in England lernte, dass Karriere nicht immer mit Zufriedenheit einhergeht. Nach dem Studium in Bologna lebte und arbeitete sie für acht Monate in der Nähe von London, dann kehrte sie nach Italien zurück.
Sie fragte sich, was ihr der tolle Job brachte, wenn sie einmal im Monat nach Italien fliegen musste, um ihre Erfolge mit anderen teilen zu können.
Caterinas kurze Haare werden von einer Schleife zurückgehalten, hinter dem rechten Ohr ist eine kleine schwarze Schwalbe auf der Haut verewigt. Caterina spricht bestimmt, ihre großen, im Sonnenlicht grünlich schimmernden Augen lassen keine Reue erkennen, wenn sie von den Entscheidungen der letzten Jahre erzählt. Sie ist flügge geworden und dann wieder ins Nest zurückgekehrt – trotz der dort vorherrschenden, ihr bekannten Probleme.
Sie kannte die prekäre Lage vieler Krankenpfleger in Italien, doch der Umzug nach Großbritannien hatte sie ihre Zukunftspläne überdenken lassen. Besonders das Leben abseits der beruflichen Perspektiven rückte in den Mittelpunkt. Sie war 23 Jahre alt, befand sich alleine in einem fremden Land, das sie nicht gut kannte. Wurde erwachsen in einer Kultur, die ihr fremd war, die sie als kalt empfand. Sie begann sich zu fragen, was ihr der tolle Job brachte, wenn sie einmal im Monat nach Italien fliegen musste, um ihre Erfolge mit anderen teilen und genießen zu können – um glücklich sein zu können.
Obwohl sich Caterina selbst als eine Person mit Ambitionen beschreibt, entdeckte sie damals, wie wichtig ihr auch die emotionalen Aspekte in ihrem Leben sind. „Ich habe damals beschlossen, dass es keinen Sinn macht, meine Karriere zu verfolgen und den ganzen Rest zurückzulassen“, sagt sie heute. „Ich bin jung und habe viel Zeit vor mir. Deshalb habe ich beschlossen zurückzukommen.“
Was sie zurücktrieb, war die Liebe. Die Liebe für ihre Heimat, ihre Eltern, ihren Freund, ihre Freunde. Um sie wieder fest in ihrem Leben zu haben, ließ sie ihre gut bezahlte und wertgeschätzte Stelle als Pflegerin in Großbritannien zurück und begab sich in das hart umkämpfte Terrain der Krankenpflege in Italien. Doch nicht nur damit konnte sie sich schwer abfinden, auch die Stellung einer Pflegerin in der italienischen Gesellschaft machte ihr zu schaffen. Ihr fehlte die Wertschätzung der Italiener für die Profession – im Gegensatz zu dem, was sie aus anderen europäischen Ländern kannte.
An der prekären Situation vieler Pfleger und den Schwierigkeiten für Berufseinsteiger hat sich auch nach Corona nichts geändert.
Wie wichtig die Arbeit von Krankenpflegern ist, wird besonders in der Krise der letzten Wochen klar. In Italien und auf der ganzen Welt wird von Balkonen geklatscht, um dem medizinischen Personal für seine Arbeit zu danken. Die Gesellschaft scheint nun zwar ihr Bewusstsein etwas geschärft zu haben, doch an der prekären Situation vieler Pfleger und den Schwierigkeiten für Berufseinsteiger hat sich nichts geändert. Weiterhin entscheiden sich junge, gut ausgebildete Italiener dafür, ihr Glück im Ausland zu versuchen. Eine Entscheidung, die nicht nur ihnen schwer fällt, sondern auch für das Land einen großen Verlust bedeutet.
Francesco hat in den letzten Jahren nie daran gedacht, nach Italien zurückzukehren. Die anfänglichen sprachlichen Hürden hat er überwunden, seinen Platz in Hamburg gefunden. Während die letzten Sonnenstrahlen durch die Fenster seiner neu bezogenen Wohnung fallen, sagt er: „Ich will weiterhin in Deutschland bleiben, denn auch wenn ich heute nach Italien zurückkehren würde, könnten die dortigen Arbeitsbedingungen nicht mit denen mithalten, die mir hier geboten werden.“
Caterina hingegen will in Italien bleiben – die Sorge über ihre berufliche Zukunft und Karriere als Krankenpflegerin ist jedoch weiterhin groß. So groß, dass sie einen Berufswechsel anstrebt: sie will in die Forschung und Entwicklung von medizinischen Produkten wechseln.
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