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Die Schriftstellerin Sabine Gruber und der Schriftsteller Sepp Mall gehen in einem literarischen Briefwechsel den Ungenauigkeiten oder Verschleifungen der Alltagssprache, den Übertreibungen des journalistischen Sprechens, den Verschleierungen und Verdrehungen des politischen Talks nach. Das Gespräch wurde Anfang Februar 2022 fertiggestellt.
Sabine Gruber: 1989 hatte ich Luise Pusch aufgrund ihres 1984 bei Suhrkamp erschienenen Buches “Das Deutsche als Männersprache” zu den Kulturtagen nach Lana eingeladen. Es war mir damals ein Anliegen, neben diversen Schriftstellerinnen wie Herta Müller, Erica Pedretti, Jutta Heinrich, Elfriede Czurda usw., auch die feministische Literaturwissenschaftlerin Sigrid Weigel und die feministische Linguistin Luise Pusch zu Wort kommen zu lassen. Es war eine Zeit des Aufbruchs, der feministischen Wieder-/Entdeckung der Literatur von Frauen.
Mitte der achtziger Jahre diskutierten wir an der Uni über die Möglichkeiten einer geschlechtergerechten Sprache. Mir gefiel Puschs Idee von der teilweisen Entgeschlechtlichung, dafür hätte man die weiblichen Endungen -in und -innen abschaffen müssen. Es war klar, dass diese suffixlosen Bezeichnungen wie eine Schriftsteller (statt eine Schriftstellerin) sich nicht durchsetzen würden. Eine Zeit lang trat Pusch daher für das Binnen-I ein, später plädierte sie für die geschlechterübergreifende Verwendung von generischen Femininformen – Beispiel: Schriftstellerinnen, Arbeiterinnen, die also auch Schriftsteller und Arbeiter miteinschlösse.
In den Germanistik-Proseminaren von Professor Sigurd Paul Scheichl an der Uni Innsbruck löste dieser das Problem der in meinen Augen lästigen und zeitraubenden Doppelnennungen Liebe Studenten und Studentinnen… schon viele Jahre davor durch die alleinige Benützung weiblicher Formen. Die Männer, so Professor Scheichl in seinem Begrüßungsstatement (die im Fach Germanistik ohnehin unterpräsentiert waren), seien mitgemeint!
Habe ich mit einer Mehrzahl an Frauen zu tun, wähle ich die generischen Femininformen, in männerdominierten Vereinen mache ich das auch mal, um zu provozieren, in der Regel spreche ich jedoch beide Geschlechter an – da sind für mich auch jene miteingeschlossen, die sich als nicht-binär empfinden.
Ich selbst agiere kontextbezogen. Habe ich mit einer Mehrzahl an Frauen zu tun, wähle ich die generischen Femininformen, in männerdominierten Vereinen mache ich das auch mal, um zu provozieren, in der Regel spreche ich jedoch beide Geschlechter an – da sind für mich auch jene miteingeschlossen, die sich als nicht-binär empfinden.
38 Jahre nach Erscheinen des Buches von Pusch und nach gefühlten 1.000 Diskussionen darüber, wie eine geschlechtergerechte Sprache auszusehen hat oder aussehen könnte, bin ich es müde, diese Debatten zu führen, zumal die Diskussionen über gendergerechtes Sprechen oder Schreiben, über politisch korrekte Bezeichnungen oder über Wokeness, was schon die nächsthöhere Stufe der Political Correctnes ist, unterdessen einen derart großen Raum einnehmen, daß kaum noch Platz für andere, brisante Themen bleibt. Wie siehst Du diese Entwicklung?
Sepp Mall: Auch ich spüre diese Müdigkeit, immer über dieselben Dinge streiten und debattieren zu müssen. Ich dachte mir, dass es Wichtigeres gebe und habe deswegen lange versucht, gerade die neueren Diskussionen, in denen es darum geht, Sprache gendergerecht, inklusiv und „politisch korrekt“ umzumodeln, in der Ferne an mir vorüberziehen zu lassen. Aber man kommt halt nicht daran vorbei, weder als man noch als Frau. Schließlich begrüßen einen die Moderatoren und Moderatorinnen der Abendnachrichten schon länger als „Zuschauer*innen“ mit hörbar schönem Glottisschlag.
Ich kann verstehen und auch zugestehen, dass junge Menschen an den Uni (die vielzitierten Studenten, nein: Studierenden ;-)) ihre moralischen und weltanschaulichen Überlegungen auch in ihrer Sprache widerspiegelt sehen wollen. Das ist ja nicht unbedingt etwas Neues und zeichnet junges Denken auch aus. Naturgemäß gerät einiges dabei über die Stränge, man (oh!) will ja alles anders und besser machen. Das wollte meine Generation, unsere Generation, wenn ich dich miteinschließen darf, doch genauso. Und dass Wohlmeinende in Wissenschaft, Medien oder sozialen Netzwerken nicht im Abseits stehen wollen oder als Ewig-Gestrige, Rassisten oder „alte weiße Männer“ gebrandmarkt werden wollen, versteht man auch.
Trotzdem gibt es Tendenzen, von denen ich glaube, dass Wachsamkeit angesagt ist.
Meine Erfahrung sagt mir, dass nicht alles so heiß gegessen wie gekocht wird. Einiges wird bleiben, vieles wird die Widerständigkeit der Sprache selbst abschütteln oder zermampfen.
Trotzdem gibt es Tendenzen, von denen ich glaube, dass Wachsamkeit angesagt ist. Nicht zuletzt bei Dingen, die mit unserer Arbeit als Schriftsteller zu tun haben. Etwa, wenn Verlage ankündigen, die Manuskripte von Autorinnen und Autoren von Sprachbüros auf Rassismen hin durchchecken zulassen. Oder wenn Bühnen aus Angst vor Ablehnung keinen Shakespeare mehr spielen, weil es in seinen Werken Figuren wie Othello oder Shylock gibt.
Es würde mich nicht unbedingt wundern, wenn die Forderungen nach inklusiver, gendergerechter Sprache bald auch an die Belletristik gestellt werden, an die Sprache unserer Romane und Gedichte. Wenn aus den „Freunden“ in deinem „Stillbach oder Die Sehnsucht“ („Obwohl immer davon abgeraten wurde, Namen von Verwandten und Freunden, von Geliebten und Haustieren (…) als Kennwörter (…) zu wählen…, S. 312) plötzlich „Freunden und Freundinnen“ werden sollte? Vielleicht „Freund:innen“? Oder gar „Freund*innen“? Bei dieser Vorstellung stellen sich mir die Nackenhaare auf, allesamt.
Sabine Gruber: Wir bewegen uns im literarischen Bereich, in der Kunst, daher stelle ich mir sowohl als Schriftstellerin als auch als Leserin immer die Frage: Wer spricht in diesem Text? Aus welcher Perspektive wird erzählt? Welcher Zeitraum, über den sich der Text erstreckt, wurde gewählt? Wenn sich – ein anderes Beispiel aus dem Roman – Emma Manente, Jahrgang 1916 (!), an den Freund ihres Bruders erinnert, der, nachdem er aus dem Abessinien-Krieg zurückgekommen war, ein Bild von einer barbusigen schönen Negerin herumzeigte, dann wäre es historisch falsch, das N-Wort nicht zu verwenden. Inzwischen ziehe ich es aber vor, diese Stelle aus „Stillbach oder Die Sehnsucht“ bei Lesungen nicht mehr vorzutragen, denn fast immer führt das Wort zu heftigen Debatten, und ich gerate in den Verdacht, rassistisch zu sein. Schreiben würde ich es auf jeden Fall wieder, denn 1978, das Jahr, in dem diese Szene spielt, hätte eine Südtirolerin, die sich an ein Ereignis aus den 1940er Jahren erinnert (gedanklich zitiert sie den ehemaligen Abessinien-Soldaten) niemals Schwarze gesagt. Übrigens gibt es auch von N.C. Kaser ein scherzo-Gedicht mit dem Titel der neger…
2010 ist Jonathan Littells Roman „Die Wohlgesinnten“ erschienen, verfasst aus der Perspektive des SS-Offiziers Max Aue. Die Gewaltexzesse, die dargestellt werden, sind pornographisch, man wird beim Lesen gezwungen, den Morden, den Vergewaltigungen, den Kämpfen genau zu folgen. Doch nicht Littell wirbt um Verständnis für den Täter, sondern Aue, daher kann man auch nicht den Autor für die Handlungen und die Sprache Aues haftbar machen. Man kann über die Täter-Perspektive diskutieren, darüber, ob sich ein Täter überhaupt freiwillig in der beschriebenen Weise erinnern würde, aber man darf niemals den Autor mit seiner Figur gleichsetzen. Das passiert leider immer öfter. Vielleicht ist es eine Folge der verstärkten Rezeption von Authentizitätsliteratur, die sich großer Beliebtheit erfreut, daß die Leserschaft immer häufiger Mühe hat, Figur und Autorin oder Autor zu trennen – ich denke da an Autoren wie Karl Ove Knausgard, der seine Familienmitglieder in seine Romane einbaut und mit Klarnamen benennt.
Was ist ein Roman anderes als ein Konglomerat aus Erlebtem, Recherchiertem und Erfundenem?
Zurück zur Sprache, die unser Material ist, mit dem wir arbeiten und zu der von Dir zitierten Stelle aus „Stillbach der Die Sehnsucht“. Im Moment heftiger Trauer wird eine Figur wie Clara, die der Generation der Boomerinnen zuzurechnen ist, wohl kaum darüber nachdenken, ob sie gendergerecht spricht. Träte sie im Roman als Vortragende öffentlich auf, würde sie mit Sicherheit beide Geschlechter ansprechen, aber sie ist in der Wohnung ihrer toten Freundin und versucht in einem emotionalen Ausnahmezustand deren Computer zu knacken.
Da ist einerseits die sprachliche Ebene, aber muss andererseits eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller eine politisch-moralische Instanz sein? W. G. Sebald wird posthum vorgeworfen, er habe sich als Nachgeborener an Berichten von Holocaust-Opfern bedient, er steht plötzlich unter dem Verdacht der kulturellen Aneignung. Er hat aber nie einen Hehl daraus gemacht, dass ihn gerade das interessierte, was an der Nahtstelle zwischen Dokumentation und Fiktion entsteht. Was ist ein Roman anderes als ein Konglomerat aus Erlebtem, Recherchiertem und Erfundenem?
In deinem letzten Buch „Holz und Haut“ hast du ein Gedicht, „Wortmaß“, F.T. gewidmet; ich nehme an, hinter diesen Initialen steckt Franz Tumler, ein umstrittener Autor aufgrund seiner NSDAP-Mitgliedschaft und seiner Nähe zum Führer. „: Bauholz Spaltholz“ steht da in einer Verszeile und bezieht sich wohl einerseits auf Tumlers Vetter, der in Blasenegg/Plasnego ein Stück Wald besaß, aus dem er das Holz für seine Dachbauten bezog, andererseits sehe ich in dem Nebeneinander von Bauholz und Spaltholz die Ambivalenz, die für mich den Dichter Tumler ausmacht. Er ist ein großartiger Schriftsteller mit einer unrühmlichen Vergangenheit, davon gibt es zahlreiche. Als Handke den Nobelpreis bekam, sagte Lukas Bärfuss auf dem Interviewpodium des SPIEGEL-Stands der Frankfurter Buchmesse, es würden nur wenige Bücher übrig bleiben, die ihm etwas bedeuteten, wenn wir auf die Idee kämen, unsere Bücherregale von allen Werken zu säubern, deren Autoren irgendwann in ihrem Leben politisch fehlerhafte oder gar abstoßende Dinge geäußert hätten.
Mir jedenfalls ist der literarisch-ästhetische Ansatz in der Kunst wichtiger als die moralische Integrität. „Das Talent eines Menschen versöhnt uns oft mit der Fragwürdigkeit seines Charakters … Niemals aber sind wir geneigt, uns durch die Vortrefflichkeit eines Menschen gegenüber seiner Talentlosigkeit milder stimmen zu lassen.“ An dieses Zitat von Arthur Schnitzler muss ich in letzter Zeit öfter denken, wenn im Feuilleton oder in öffentlichen Debatten der Moralmaßstab angelegt wird. Alle Wokeness-Kriterien erfüllt, politisch korrekt, moralisch einwandfrei, durchgegendert, mit Triggerwarnung versehen – und dann?
Sepp Mall: Unser Material ist die Sprache, und am Schreibtisch denk ich keinen Augenblick daran, die Wörter und Sätze, die meine Gedichte oder Romane ausmachen, durch das Wokeness-Sieb zu rütteln. Es wäre ganz offenbar unsinnig, wie du bemerkst, wenn eine Figur des letzten Jahrhunderts sprechen würde wie eine Studentin von 2022 in ihrem Safe-Space auf dem Uni-Campus. Aber auch (m)einer Erzählerstimme von heute würde ich kein Gendersternchen zumuten wollen. Wahrheit und Authentizität eines literarischen Werkes werden gerade dadurch gewährleistet, dass seine Sprache aus sich selbst heraus entstehen kann – und nicht vorher politisch korrekt gewaschen wird.
Ich möchte beispielsweise nicht, dass die Bezeichnung „Zigeuner“ aus der wörtlichen Rede eines Buben in meinem neuen Romanmanuskript von einem „sensiblen“ Vorlektorat in vorauseilender Korrektheit rausgestrichen wird oder dass man mir vorschlägt, ihn durch einen weniger inkriminierten Begriff zu ersetzen.
Woran sollen wir festmachen, was sagbar ist?
Etwas unsicherer – oder soll ich besser sagen: verunsicherter – bin ich, wenn jemand von meinen Schülern hinten im Ausflugsbus „Lustig ist das Zigeunerleben“ anstimmt – ein Lied, das wir in meiner Kindheit Anfang der 1960er Jahre beim Maschgra-Umzug ganz unbefangen und lauthals hinausschmettert haben. „Sinti-Roma-Leben“? Und dass das Leben vieler Sinti und Roma nicht grad so lustig ist und war, das wissen wir mittlerweile.
Woran sollen wir festmachen, was sagbar ist? An der Meinung der Bezeichneten? An unserer „Sensibilität“? Was ist mit den „Behinderten“, den „Beeinträchtigten“, die sich selbst als „Krüppel“ bezeichnen?
In diesem Zusammenhang fällt mir die schöne Geschichte des schwarzen Restaurantbetreibers Andrew Onuegbu ein, der im norddeutschen Kiel sein Lokal „Zum Mohrenkopf“ genannt hat und manchen empörten woken Restaurantbesuchern beibringen musste, dass er keine weißen Menschen brauche, die ihm erklären, wann seine Gefühle als Schwarzer verletzt seien – aber ich möchte lieber noch etwas bei der Sprache der Literatur bleiben.
Die alltägliche Leseerfahrung – zu der letzte Woche neben John Burnsides „What light there is. Über die Schönheit des Moments“ noch einmal dein kleines Meisterwerk (Meister:innen-Werk?) „Über Nacht“ gehörte – sagt mir, dass die Sprache der Literatur, wenn man sie denn verallgemeinernd in eins schlagen darf, gemeinhin anders funktioniert als die der öffentlichen Rede. Es ist eine Sprache, die grundsätzlich anderen Kriterien gehorcht als die der Moral und der politischen Korrektheit. Die Sprache der Literatur ist eine Sprache, die abbildet, die der Genauigkeit verpflichtet ist, der Ästhetik, der Wahrhaftigkeit, um das zu nennen, was als erstes ins Auge springt.
Manchmal denke ich, dass ein Sprachhandeln, das nach diesem Modell funktioniert, also nicht gesteuert ist durch einen Korrektheitsanspruch, der alle Begriffe unter das Diktum von Gut-Böse, von „Darf man sagen-Darf man nicht sagen“, stellt, auch so etwas wie ein Heilmittel sein kann – zumal in Zeiten, wo gesellschaftliche Brüche so evident werden wie schon lange nicht. Ein Weniger an Sprechregeln und moralisch-politischer Korrektheitserwartung einer wie immer gearteten „Elite“ könnte vielleicht mithelfen, bestimmt Korrosionsprozesse an den Rändern unserer Gesellschaft aufzuhalten – eine Meinung, die ich vor kurzem in einem ZEIT-Online-Artikel gelesen habe und der ich durchaus zustimmen kann.
Sabine Gruber: Wenn wir nicht in der Literatur frei schreiben können, bzw. das Unvorstellbare als Leser und Rezipientinnen in Sprache verwandelt finden, wo dann?
Franz Kafka schrieb, ein Buch müsse die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Mir scheint, dass allzu viele heute auf schonendes Auftauen setzen. Wer keine Überraschungen erleben will, muss sich nicht mit anspruchsvollen Belletristik-Büchern befassen, man kann auch Trivialromane lesen, welche den Erwartungshorizont auf harmlose und unaufgeregte Weise bestätigen.
Es gibt einen Grund, weshalb die Freiheit von Wissenschaft und Kunst in der Verfassung verankert ist, lange genug haben Kirche und Reaktionäre Zensur! gerufen. Jetzt macht sich mehr und mehr eine (aus Amerika kommende) Tendenz bemerkbar, welche zwar (noch) nicht die Freiheit der Kunst unterminiert, aber durch Warnungen vor bestimmten Themen im Buchimpressum (Achtung Axt!) und durch sprachpolizeiliche Lektoratsmaßnahmen deren Wirkungskraft und Überraschungsmoment zu zerstören oder zumindest abzuschwächen droht.
Im Sport treten Körper gegen Körper und nicht Identitäten gegen Identitäten an, der Vorwurf der Transphobie oder der Diskriminierung ist hier fehl am Platz.
Ich glaube, wir sind uns einig, dass gegen den Ausschluss oder die Diskriminierung („Woke“ steht für Widerstand gegen Diskriminierung) bestimmter Gruppen im literarischen Betrieb fraglos gekämpft werden muß. Die Führungsetagen in den Verlagen sind noch immer überwiegend von Männern besetzt…
Was ich aber mit Besorgnis registriere, ist die Debattenverweigerung durch jene, welche die Welt nach moralischen Kategorien und nach persönlichen Befindlichkeiten und Empfinden ordnen, die sich beispielsweise weigern nachzuvollziehen, dass es auch noch ein biologisches Geschlecht gibt, das sich durch soziokulturelle Zuschreibungen manifestiert. Diese Position lässt sich mit dem Wunsch nach radikaler Bestimmung über den eigenen Körper, die es beispielsweise einem Mann ermöglicht, sich als Frau zu fühlen und zu erklären, meistens aber nicht immer vereinbaren. Menschen mit einer nicht-binären Identität fühlen sich davon gekränkt, aber es muss möglich sein, ohne aggressive Militanz zu diskutieren, ob eine Schwimmerin, die ein physischer Mann war und aufgrund des größeren Lungen- und Herzvolumens körperliche Vorteile hat, im Frauenkader antreten darf. Im Sport treten Körper gegen Körper und nicht Identitäten gegen Identitäten an, der Vorwurf der Transphobie oder der Diskriminierung ist hier fehl am Platz.
Wokeness zeigt manchmal religiöse Züge, weil die gefühlte Realität zur alles bestimmenden indiskutablen Kategorie wird. Damit wäre ich wieder bei der Literatur, durch sie haben wir die Chance, Widersprüche und Ambivalenzen aufzuzeigen, verschiedene Standpunkte herauszuarbeiten, statische oder festgefrorene Täter-Opfer-Positionen aufzubrechen.
Es würde mich interessieren, woran Du zur Zeit arbeitest, ob die aktuellen Debatten, die wir angesprochen haben, politische Korrektheit, Gendern, Diskriminierung usw., eine Rolle spielen, bzw. was oder wie wäre Dir noch wichtig zu schreiben?
Sepp Mall: Einiges von dem, was wir hier beklagen, ist vielleicht eher eine Modeerscheinung als eine wirkliche Veränderung im Sprachlich-Gesellschaftlichen, und es scheint tatsächlich so, dass vieles zusammengehört, was sich unter den schönen Schlagworten wokeness, diversity sowie dem Verbot der kulturellen Aneignung* versammelt. Triggerwarnungen auf Büchern, die Leser vor potentiell traumatisierenden Inhalten warnen sollten, sowie das Sensitivity-reading-Lektorat, um vor Veröffentlichung Rassismen oder „Mikroagressionen“ gegen bestimmte Gruppen zu eliminieren, das sind dann noch spezielle Varianten in „unserem“ literarischen Metier.
Ich dachte, ich les nicht recht, als der Verlag, in dem der Großteil meiner bisherigen Bücher (ja, und u.a. auch deine Lyrik) erschienen ist, sich für Triggerwarnungen aussprach und sie seitdem auch praktiziert. Als ob es nicht genügte, im Klappentext darzulegen, worum es in einem Buch geht. Es bleibt der Verdacht, dass hier in erster Linie versucht wird, sich als besonders progressiv und hip zu präsentieren. Wenn man zudem weiß, dass Traumatisierungen nur in intensiver therapeutischer Arbeit bewältigt werden können und nicht, indem man sich möglichst alles fernhält, erscheinen Triggerwarnungen auf Büchern oder im Vorspann von Filmen als reiner Kniefall vor einer ganz bestimmten Konsumentenschicht (Konsument*innenschicht).
Mein inhaltliches Interesse gilt seit langem schon der Darstellung von individuellen Schicksalen, bedingt durch einen historischen Kontext, der in der Erzählung selber mehr oder weniger evident ist.
Dagegenhalten, ja, da geb ich dir vollkommen recht. Sich wehren. Das passiert nicht zuletzt, meine ich, indem man Texte schreibt, die eine differenziertere Sichtweise auf die Welt haben als das, was so heutig und unabdingbar erscheint. Die Literatur lebt ja gerade davon, dass sie widerständig ist, auch anti-modernistisch, in ihrer Sprache, in ihren Inhalten und ihrer Präsentation nach außen. Die Kraft der Literatur hat einen anderen, längeren Atem, sie weiß, woher sie kommt und hält normalerweise nichts davon, einfach so auf den modischen Karren aufzuspringen. Sie blickt zurück oder nach vorn, wo alle meinen, nur die Gegenwart zähle, ihr Anliegen ist es, wie du sagst, auch Widersprüche und Ambivalenzen aufzuzeigen.
Indirekt spielen die Debatten, von denen wir hier reden, natürlich auch für mein Schreiben eine Rolle. Auf einer oberflächlicheren Ebene etwa, wenn es um die Verwendung von „inkriminierten“ Begriffen geht, ich habe bereits den Gebrauch des Begriffes „Zigeuner“ in meinem aktuellen Romanmanuskript genannt. Die Handlung dieses Romans spielt auf dem historischen Hintergrund von Südtiroler Option und Auswanderung, also in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts, und es ist ein zehnjähriger Bub, der diesen Ausdruck verwendet. Derselbe Bub wird natürlich nach Kriegsende die schwarzen US-Soldaten nicht anders denn als „Neger“ bezeichnen, seine Mutter äußert, dass sie Angst hat vor diesen „schwarzen Teufeln“ habe.
So what, Figurensprache, Punkt. Auf dem Hintergrund der aktuellen Debatte würde es mich aber nicht überraschen, wenn es im Lektorat oder in der Rezeption zu Diskussionen über derlei Ausdrücke kommen könnte.
Mein inhaltliches Interesse gilt seit langem schon der Darstellung von individuellen Schicksalen, bedingt durch einen historischen Kontext, der in der Erzählung selber mehr oder weniger evident ist. Das war bei dem 2004 erschienenen „Wundränder“ so und wird auch in dem Roman, an dem ich gerade arbeite, so sein. Was mich diesmal an den Schreibtisch gedrängt hat, waren unter anderem die Naziverbrechen an behinderten Menschen, denen auch mindestens neun Kinder aus Südtirol zum Opfer gefallen sind – dokumentiert etwa in der alphabeta/drava-Publikation „Agnes, Ida, Max und die anderen“ (2018). Was die sprachliche „Umsetzung“ jener Zeit betrifft, geht es dann klarerweise auch um die Authentizität der Begrifflichkeit und ihren Verwendungskontext.
Aber mir ist im Schreiben auch anderes wichtig, und das ist schwerer zu erklären. Soll ich sagen, es geht mir um die Sprache selbst? Um Ästhetik? Auf alle Fälle – es ist mir nicht einmal ein Anliegen, eher eine konstituierende Haltung meiner Tätigkeit als Autor – versuche ich, meine Texte, so gut es geht, möglichst klar, bildhaft und unverschnörkelt zu halten, sie somit wegzuschreiben von den Ungenauigkeiten oder Verschleifungen der Alltagssprache, von den Übertreibungen des journalistischen Sprechens, von den Verschleierungen und Verdrehungen des politischen talks. Sprache als eine Art Gegenstromanlage im Meer der öffentlichen Rede (nutzlos, natürlich), so ein Bild würde mir gefallen.
Und zuweilen macht es auch Spaß, gerade dieses „Heutige“ direkt anzugehen. Ich habe vor kurzem ein Langgedicht fertiggestellt (das ich einem unserer engagiertesten Schriftstellerkollegen gewidmet habe, dem Engl-Schorsch, in Erinnerung an seinen 10. Todestag), das mit den Begrifflichkeiten der Südtiroler Werbewelt und der hiesigen Tourismusindustrie spielt – es hat mir neben anderem etliches Vergnügen bereitet, all die Großkotzigkeiten und Plattheiten, meist wörtlich übernommen, in den poetischen Kontext meines Gedichts zu zwingen.
Und du? Wie weit langen bei dir die Debatten, die uns so müde machen, über deinen Schreibtisch herein, womit beschäftigst du dich im Moment?
* Erinnerst du dich noch an das Theater um die deutsche Übersetzung von Amanda Gorman‘s Gedicht „The Hill We Climb“?
Sabine Gruber: Ich bin immer an politisch aktuellen Themen interessiert, aber sie finden wenn dann erst zeitverzögert Eingang in meine Bücher. Die Jahre nach Erscheinen von „Daldossi oder Das Leben des Augenblicks“ waren persönlich sehr schwierig, ich hatte vor allem Lyrik verfaßt, außerdem Poetik-Vorlesungen und Reden. 2019 erschien eine Festrede, die sich mit der Metakommunikation und ihren blindwütigen Unterstellungen und Reglementierungsversuchen im Netz und in der Literatur auseinandersetzte. Es ist interessant, dass die Verstöße gegen die political correctness oft nicht von den unmittelbar Betroffenen beklagt werden, sondern von deren Stellvertretern und Stellvertreterinnen, die kontextferne Wertungen abgeben. So postete ich einmal einen Artikel auf Facebook, der von einem italienischen Kindergarten in einer von der LEGA regierten Gemeinde berichtete, in dem Spielsachen aus fremden Kulturen verboten waren und stellte ein Bild meiner schwarzen Lieblingspuppe aus meiner Kindheit ins Netz, um auf den Artikel aufmerksam zu machen. Der Alltagsfaschismus in der friulanischen Gemeinde interessierte niemanden, die Reaktionen betrafen vor allem das Aussehen der Puppe, von der jemand (eine weiße Frau) fand, sie ähnele einer angefärbelten Mitteleuropäerin, eine andere Person zeigte sich erleichtert, daß sie zumindest kein Baströckchen trage. Offenbar war den meisten die Frage, ob das Aussehen der Puppe stimme bzw. politisch korrekt sei, wichtiger als die faschistoiden Folgen von Salvinis Nationalpopulismus.
Erst seit Kurzem sitze ich wieder konstant an einem Roman, in dem ich versuche, den Schmerz des Vergessens zu bekämpfen – wie Roland Barthes in seinem „Tagebuch der Trauer“ schreibt – allerdings mit autofiktionalen Mitteln.
Doch zurück zu Deiner Frage, womit ich mich derzeit beschäftige: Erst seit Kurzem sitze ich wieder konstant an einem Roman, in dem ich versuche, den Schmerz des Vergessens zu bekämpfen – wie Roland Barthes in seinem „Tagebuch der Trauer“ schreibt – allerdings mit autofiktionalen Mitteln. Es geht weniger um Erinnerungen als um Strategien des Erzählens, welche den Trauer-Schmerz lindern. Ich bin froh, wenn ich dieses Projekt abgeschlossen habe, es kostet mich sehr viel Kraft.
Danach möchte ich mich dem Tagebuch meines Großonkels widmen, der im Jänner 1944 in Weißrußland gefallen ist. Er trauerte der Monarchie nach, verabscheute die Nazis und optierte dennoch für das Deutsche Reich, um dem italienischen, faschistischen Heer zu entkommen. Grundlage für diesen Roman wäre eine Recherche-Reise nach Witebsk/Weißrußland, doch die derzeitigen politischen Entwicklungen in der Ukraine und in Belarus geben wenig Grund zur Hoffnung, dass die Reise zustande kommt.
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