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Illustrations by Sarah
Barbara Plagg
Veröffentlicht
am 29.04.2025
LebenMotherhood unPlagged

Zwischen Liebe und Last

Unsere Autorin Barbara Plagg gibt in dieser Folge von „Motherhood UnPlagged“ die Stimme einer Mutter eines Kindes mit Behinderung, die anonym bleiben möchte. Teil eins einer zweiteiligen Serie.
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Ich hatte ja keine Ahnung. Ihr habt ja keine Ahnung. Wie auch? Was einen nicht selbst betrifft, dem schenkt man bekanntlich wenig Beachtung. Jetzt betrifft es mich. Ich bin Mutter von einem Kind mit Behinderung geworden. Und vorher war mir nicht ansatzweise klar, was das bedeutet. Mir war auch nicht klar, wie viele Eltern von Kindern mit Behinderungen es in Südtirol gibt. Und mir war auch nicht klar, wie viel Eltern von Kinder mit Behinderung leisten. Jetzt weiß ich es. Weiß, wie mühsam es sein kann. Weiß, wie stigmatisiert vieles noch ist. Weiß, wie sehr uns das „Dorf“ fehlt, das es doch bräuchte, um ein Kind großzuziehen – vor allem eines mit Behinderung. Und ich möchte, dass ihr es auch wisst.

Wir Eltern von Kindern mit Behinderung erziehen unsere Kinder nicht „nur“, wir pflegen sie auch.

Wir Eltern von Kindern mit Behinderung erziehen unsere Kinder nicht „nur“, wir pflegen sie auch. Andere Eltern wechseln Windeln, lesen Gute-Nacht-Geschichten vor und verarzten aufgeschlagene Knie. Wir wechseln außerdem noch den Katheter, koordinieren Krankenhausbesuche und kontrollieren die Medikamentengabe. Hat man das Baby kurz mal im Bett, wartet die Bürokratie. Hundert Formulare sind auszufüllen. 1000 Anträge vorzubereiten. Immer und immer wieder. Es braucht Katheter, es braucht Orthesen, es braucht einen Rollstuhl. Man muss früh an alles denken, denn das zu besorgen, es dauert in unserem reichen Land oft Wochen und Monate.

Wir Eltern sind zu Expert:innen für die Nöte und Bedürfnisse unserer Kinder geworden, doch angewiesen auf die Einschätzungen der ausgewiesenen Expert:innen, den Ärzt:innen und Therapeut:innen. Aber oft werden wir belächelt, wenn wir dem Arzt etwas erklären, was unser Kind betrifft. Und oft bleiben wir still im Machtgefälle der Sanität, auch wenn wir wissen, dass unser Kind das Sitzkissen, die Schuhe, die Therapie dringend benötigen würde. Wir probieren es weiter und rennen von Krankenhaus zu Krankenhaus, um Berichte einzuholen und Datenblätter auszufüllen. Nur, um dann viel zu oft eine Absage zu bekommen oder eine Einstufung, die drei Schuhnummern zu klein ist.

Man kann die Pflege eines Kindes nicht in Sekunden, Minuten oder Stunden berechnen und muss es doch tun.

Pflegestufen werden beispielsweise nach Stunden vergeben, die erste Pflegestufe steht für bis zu 120 Stunden im Monat. 120 Stunden klingen viel und sind doch lächerlich wenig. Sie erfassen nicht ansatzweise, was wir leisten. Man kann die Pflege eines Kindes nicht in Sekunden, Minuten oder Stunden berechnen und muss es doch tun. Zur Pflege gehören aber nicht nur zeitlich messbare Verrichtungen – wenn ich mein Kind wasche, es anziehe, ihm Essen gebe, mit ihm Übungen mache, ihm den Darm spüle, es in den Rollstuhl setze. Zur Pflege und Begleitung unserer Kinder gehört auch eine Umarmung, eine liebevolle Streicheleinheit, ein offenes Ohr und das Gespür zu haben, was mein Kind jetzt gerade braucht – und zwar „ohne Worte“, denn viele unserer Kinder können nicht sprechen, uns nicht sagen, was sie fühlen oder sie bedrückt. Und ja, auch das ist Pflege. Sei es bei Kindern wie auch bei Erwachsenen oder alten Menschen, die Pflege benötigen.

Apropos brauchen: Wir haben viel zu oft unsere liebe Not mit dem Geld. Viele von uns – vor allem wir Mütter – sind gezwungen, nach der Elternzeit zu kündigen, um bei unserem Kind bleiben zu können. So bleiben wir ohne Absicherung zu Hause, und die Jahre, in denen wir mehr arbeiten als alle anderen, werden für die Rente nicht angerechnet. Hilfsmittel müssen wir teilweise mitfinanzieren, und Therapien, die für unsere Kinder wichtig sind, die das Gesundheitssystem aber nicht anbietet, bezahlen wir aus eigener Tasche. Wir wollen das Beste für unser Kind, doch für das Beste reicht das Pflegegeld nicht aus. Woanders einsparen? Geht nicht. Auch wir zahlen Kredite, Mieten, Rechnungen und Lebensmittel in einem teuren Land. In eine kleinere Wohnung ziehen? Geht auch nicht – nicht für unsere Kinder, denen ihre gewohnte Umgebung, die vertrauten Räume und Gerüche Stabilität und Sicherheit geben. Und Stabilität geben auch wir ihnen, wir Eltern – zumindest solange wir selbst halbwegs stabil sind. Das wird schwieriger, je mehr uns Bürokratie und Geldnöte plagen. Und je größer die Sorgen, desto weniger Kraft bleibt fürs Kind. Für die Kinder.

Wir brauchen strukturelle Unterstützung, Entbürokratisierung und vor allem euer Verständnis. Dass ihr uns seht und uns das Dorf sein könnt, das auch wir so dringend brauchen, um unsere Kinder großzuziehen.

Denn die gibt es ja auch oft noch, die Geschwisterkinder. Kinder, deren Leben sich mit der Geburt des Schwesterchens oder des Brüderchens mit Behinderung schlagartig verändert hat. „Glaskinder“ werden sie auch genannt, weil sie im hektischen Pflegealltag manchmal übersehen werden. Übersehen werden müssen, denn auch wenn wir unser Bestmöglichstes geben – manchmal reichen unsere Zeit und unsere Kraft nicht für alles. Wir versuchen es trotzdem, fahren in die Musikschule, fahren zum Fussballverein – das Kind mit Behinderung immer mit dabei. Wir halten das eine Kind und helfen dem anderen bei den Hausaufgaben, wir geben dem einen Kind Essen ein und bemalen mit dem anderen die Ostereier, wir schieben das eine Kind im Rollstuhl und laufen mit dem anderen um die Wette. Wir geben alles und haben trotzdem oft das Gefühl, nicht genug zu geben. Und wir sind oft alleine, weil niemand da ist, der helfen kann. Selbst für Oma und Opa, für Tante und Onkel sind manche Pflegetätigkeiten zu kompliziert, als dass sie sie machen könnten. Und Papa pflegt zwar, wo er kann, aber er muss auch arbeiten gehen, damit Geld reinkommt.

Eltern gesunder Kinder leisten sehr viel, aber wir Eltern behinderter Kinder gehen ständig über unsere Grenzen und wir werden das auch weiterhin tun – denn die Liebe zu unseren Kindern ist grenzenlos. Doch auch wenn unsere Liebe unendlich ist, unsere Kraft ist es nicht. Unsere finanziellen Möglichkeiten sind es nicht. Wir möchten dafür kein Mitleid, wir möchten Sichtbarkeit. Wir brauchen strukturelle Unterstützung, Entbürokratisierung und vor allem euer Verständnis. Dass ihr uns seht und uns das Dorf sein könnt, das auch wir so dringend brauchen, um unsere Kinder großzuziehen.

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