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Man hat ja jetzt viel mit Büromenschen zu tun. So mit Anfang 30. Alle sitzen vor Computern. Telefonieren ganz oft. Manche tun ganz wichtig den ganzen Tag. Andere, wenige, nehmen alles ein wenig weniger wichtig. Mir sind die lieber. Ganz viele tragen Anzug. Schlecht sitzende Anzüge: die Hosen zu lang, die Schuhe zu billig, die Sakkos eine Nummer zu groß. Manche tragen dazu noch so Bürstenhaarschnitte wie aus den Panini-Alben der 1990er-Jahre.
Man ist jetzt ja Anfang 30. Also gehe ich nicht mehr zu H&M. Die Anfang-20-Jährigen gehen ja nicht mal mehr zu H&M, die gehen zu Primark. Aber wenn ich zu Primark gehe, dann komme ich mir vor, wie so ein Opastudent, der sich in die Erstsemestervorlesung setzt, wie ein Teenagervater, der seine Tochter auf ein Miley-Cyrus-Konzert begleitet, wie ein Hey-ich-war-doch-auch-mal-jung-und-cool-Vater, der an die Zimmertür seines Sohnes klopft, hinter der sich der Sohn mit seinen Kumpels verschanzt hat – und der Vater fragt so ganz supercool und ganz superaufgeschlossen, ob er auch mal am Joint ziehen darf.
Ich finde, ein Mann mit Anfang 30 sollte nicht wie ein Berufsjugendlicher herumlaufen. Er sollte die Kapuzenpullis im Kleiderschrank in die Sportschublade stopfen. Die Sneakers in die Vielleicht-samstags-mal-Schublade. Auch mal üben, einen Krawattenknopf zu binden, die italienische Variante ist auch gar nicht so schwer. Ich wohne in Berlin, hier tun viele mit Anfang 30 so, als wären sie noch nicht mal 20. Viel mehr als in kleineren Städten oder in der Provinz. Manche treffen sich auf dem Skaterpark und nehmen mit ihrem behäbigen Rumgeskate den Jugendlichen den Platz weg. Manche glauben immer noch, sich auf Festivals in die erste Reihe drängen zu müssen. Ich finde, mit Anfang 30 darf man ruhig mal sein Leben ein bisschen umstellen. Ruhiger werden. Joggen gehen statt Skateboard zu fahren. Klassik hören statt Festivals zu besuchen. Auch mal einen Anzug tragen statt immer nur Jeans und T-Shirt. Erwachsen tun.
Ich laufe den Kurfürstendamm rauf und runter. Ich gehe in einen Anzugladen. In einen etwas teureren. So ein Anzugladen verunsichert einen. Da geht man nicht einfach so rein. Da muss man sich überwinden reinzugehen, wenn man es noch nie vorher getan hat. Wie in einer guten Bar. Eine Schulklasse, die Cola trinken will, verirrt sich nicht in meine Bar! Das hat mir Charles Schumann, der legendäre Barbesitzer aus München, in einem Interview mal erklärt. Da gibt es eine natürliche Hemmschwelle. Die sagt denen im Unterbewusstsein: Du gehörst da nicht rein!
Ich habe die Hemmschwelle übertreten. Laufe die aufgereihten Anzüge entlang. Werde vom Verkäufer gemustert. Verkäufer in so feinen Anzugläden haben ein Auftreten, als wären sie der Bruder von Prinz Charles und Enkel von Louis XV in einer Person. Sie mustern einen. Ich bin natürlich nicht adäquat gekleidet. Ich bin doch hier, um mir einen ersten, guten, adäquaten Anzug zu kaufen. Verkäufer in guten Anzugläden wollen keine Hey-ich-bin-jetzt-30-und-ich-brauch-jetzt-einen-guten-Anzug-Käufer.
Er will mir einen Maßanzug andrehen, ich weiß nicht so recht, er schaut mich an, als hätte ich ihn mit meinem Zögern gerade persönlich beleidigt. Ich sage: „Okay“. Er nickt väterlich. Nimmt Maß. Nimmt mir die letzte Willenskraft. Ich zähle leise bis drei, will eigentlich „Ich habe es mir doch anders überlegt“ sagen, aber das geht jetzt nicht mehr. In drei Wochen sei der Anzug fertig, sagt er. Wie viel das denn kostet, traue ich mich dann trotzdem noch zu fragen. Es kostet fast so viel, wie drei Wochen Arbeit. Ich versuche, das schnell zu verdrängen.
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