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Der digitale Doppelpunkt zwischen den beiden leuchtenden Zahlen auf meiner Backofenuhr blinkt. Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft ich an diesem Abend bereits an ihm vorbeigelaufen bin. Herzmensch kriegt Zähne und kuschelt sich halb schlafend, halb weinend an meine Brust. Die leuchtenden Ziffern verändern sich wie im Zeitraffer und die Stunden rasen fast unbemerkt an mir vorbei. So wie zu Schulzeiten etwa, wenn man ein Fach so gerne mochte, dass man beim Klingeln der Schulglocke sogar ein wenig enttäuscht über das plötzliche Ende war.
Naja, wenn sich Herzmensch nach einem Marathon um meinen Küchentisch dann endlich seinem Schlaf hingibt, bin ich selten enttäuscht. Ist es nicht gerade mitten in der Nacht, dann löst der schlummernde Kerl viel eher einen überdimensionalen Timer in meinem Inneren aus. Mal tickt dieser für eine halbe Stunde, mal sogar für zwei, doch meistens nur für geschlagene zehn Minuten. Wie viel Zeit mir genau zur Verfügung steht, weiß ich nie. Doch die Dinge, die es zu erledigen gilt, bleiben immer gleich viele und die Zeit dafür ist irgendwie ständig zu knapp. Mein Leben tickt seit neun Monaten nämlich in einem anderen Takt.
Zeit ist etwas Absurdes. Man kann sie weder sehen noch hören, greifen, riechen oder schmecken. Und irgendwie bestimmt sie trotzdem unser gesamtes Leben. Sie legt fest, wann wir aufstehen, essen, schlafen, die Nudeln aus dem kochenden Salzwasser holen oder zum Zahnarzt gehen. Und weil sie das tut, hat sie so wahnsinnig viel Gewicht in unserem ganzen Lebenszirkus – obwohl es sie ja eigentlich gar nicht wirklich gibt.
Dass uns etwas nicht Existierendes so sehr im Griff haben kann, hat mich schon immer irritiert. Doch seit ich Herzmensch kenne, weiß ich, dass die Zeit nicht alle beherrschen kann. Der kleine Mann stellt das große System nämlich ganz einfach auf den Kopf. Zeit gibt es in seiner Welt – zum Glück – noch nicht. Er lebt nach seinem Gefühl, nach seinen Bedürfnissen und nimmt mich ohne zu fragen jeden Tag aufs Neue mit in seine ganz eigene Zeitzone. Dorthin, wo Momente zu Ewigkeiten werden und Stunden wie im Zeitraffer vergehen.
Während wir bereits nach kurzer Zeit die Aufmerksamkeit verlieren, könnte Herzmensch sich stundenlang mit einer hölzernen Wäscheklammer, einem Wollknäuel oder einem Lederarmband beschäftigen. Er beobachtet die Dinge bis ins kleinste Detail, erforscht sie mit all seinen Sinnen bis er sie versteht. Egal wie lange das dauert. Und ich könnte ihn beim Entdecken dieser bunten Welt stundenlang beobachten. Es fasziniert mich, wie Herzmensch meine Zeit beherrscht. Wie er gefühlt den Wert meiner Stunden verändert und es geschafft hat, dass ich Zeit zeitweise gar nicht mehr wahrnehme und zeitweise noch viel mehr schätze. Es fasziniert mich, denn irgendwie fühlt es sich so an, als könnte dieses kleine Wesen die Zeit ganz einfach bändigen.
Und manchmal passiert es, dass ich Herzmensch ansehe und kaum glauben kann, dass dieser freche Kerl so winzig klein war, als er aus mir geboren wurde und dass ich mich jetzt schon nicht mehr daran erinnern kann. Dann muss ich in Fotos vom dicken Kugelbauch und dem frisch geschlüpften Baby stöbern. „Genieß die Zeit, sie ist so schnell vorbei“, schwirrt mir in diesen Momenten im Kopf herum.
Wie oft habe ich diesen Spruch gehört, seit ich Mama bin, und wie oft habe ich ihn einfach als Floskel abgestempelt. Doch nun schaue ich dieses kleine Zeitwesen an. Nach nur neun Monaten reicht mir Herzmensch bis über die Knie. Er hat keife Bäckchen, zwei scharfe Zähnchen und einen dicken Sturschädel. Seine Schritte sind bereits groß genug um – an meine Finger geklammert – „ganz alleine“ über die Treppenstufen zu wandern. Er kann winken, essen und alleine aufs Töpfchen gehen. Und plötzlich realisiere ich, dass meine Zeit ein Gesicht hat, ich ihr in die Augen schauen und ihr beim Vergehen zusehen kann.
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