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Es geht wieder los, das akademische Jahr. Und es gibt viele Gründe zu studieren. Manche tun es für Geld, einige für Status – und einige tun es, um „Heroes for Life“[1] zu werden. Da liegt es nahe, dass man den Fragen nachgeht, wie man denn nun zur Heldin[2] wird und was so eine Heldin im steuerfinanzierten Gesundheitssystem überhaupt noch ist.
Als Heldin erwacht man nicht plötzlich eines morgens, zur Heldin wird man. Wenn man nicht zufällig von einer Spinne gestochen wird und nach einem Schulausflug überraschend Fäden aus seiner Hand schießen kann, wird man Heldin in der Regel weiter oben – im Kopf nämlich. Dort oben passieren neurobiologische Wunder, die an sich schon ziemlich heldenhaft sind: Wenn man lernt und studiert, in den Hörsälen sitzt, den ProfessorInnen zuhört, Praktika macht und sich durch die Seminararbeit quält, werden neue Inhalte langfristig im Gedächtnis abgespeichert.
Was genau passiert aber in unserem Gehirn, wenn wir lernen? Bekanntlich besteht unser Gehirn aus Nervenzellen, den sogenannten Neuronen. Es gibt auch noch andere Zellen in unserem Gehirn, die Stützzellen beispielsweise und die sind auch wichtig, aber bleiben wir bei den Neuronen: Die sind dazu da, dass sämtliche Informationen abgespeichert werden – von der Erinnerung, wie der Zwetschgenkuchen eurer Oma duftete über die Information, wie man Schuhe knüpft bis hin zum Satz des Pythagoras – und zur Verfügung stehen, wenn ihr sie abrufen wollt.
Alles, was uns ausmacht, ist in den Nervenzellen gespeichert: Unsere biographischen Daten, das Faktenwissen, unsere motorischen Fertigkeiten und Persönlichkeitsstrukturen. Recht lange dachte man, dass jede Information in je einer Nervenzelle gespeichert ist. Also etwa der Zwetschgenkuchen von der Oma in einem Neuron, der Satz des Pythagoras in einem anderen, Schuhe binden in wieder einem anderen. Eine Strategie, die fatal wäre: Jedes Mal, wenn wir am Wochenende ein Glas zu viel über den Durst trinken, wir einen Schlag auf dem Kopf bekommen oder einfach gar nichts tun – denn täglich sterben Neurone einfach ab – wäre die eine Information unwiederbringlich verloren. Und es wäre ganz schön schwierig heldenhaft zu sein, wenn man seine Schuhe nicht mehr knüpfen kann.
Deswegen müssen die Informationen, die wir als Menschen brauchen, um in unserer Lebensrealität zurecht zu kommen, langfristig abrufbar sein und auch dann noch bleiben, wenn sich einzelne Neurone verabschieden. Die neurobiologische Lösung zu diesem Problem ist das Geheimnis des Lernens: Lernen bedeutet, Neurone miteinander synaptisch zu verknüpfen. So speichert letztlich nicht ein einzelnes Neuron, sondern eine ganze Reihe an Neuronen eine Information ab. Und je öfter wir die Information abrufen und verwenden, desto besser verfestigt sich das neuronale Netzwerk und desto schwerer geht die Erinnerung wieder verloren.
Als ich den Führerschein gemacht habe, war ich überzeugt, es wäre absolut unmöglich, gleichzeitig zu lenken, in die Kurve zu fahren, mit der Hand den Gang zu schalten und mit dem Fuß die Kupplung zu drücken. Und heute fahre ich in die Kurve, drücke die Kupplung, schalte den Gang und sing dazu noch ein Lied für meinen Sohn im Kindersitz. Man wird also besser, man wird zur (Alltags)Heldin, indem man übt. Man wird besser, indem man das gelernte Wissen nutzt und umsetzt. Und weil dieses Wissen in einem neuronalen Netzwerk gespeichert ist, ist es auch egal, wenn ein Neuron mal ausfällt – es sind ja noch andere Nervenzellen da, die die Information tragen.
Heldinnen werden da aktiv, wo die anderen passiv bleiben.
Wenn ihr nun in drei Jahren aus diesen Hörsälen geht, dann geht ihr hinaus mit einem Feuerwerk an neuen Netzwerken, mit hundertausenden neuen Verbindungen in eurem Gehirn quer über den Frontallappen über die gesamte Hirnrinde bis zum Okzipitallappen ganz hinten. Und diese Netzwerke sind euer eigentliches Diplom, euer eigentliches Zeugnis. Diese neuronalen Engramme sind euer beruflicher Schatz und euer Werkzeugkasten und das Rohmaterial, aus dem eventuell Heldinnen werden. Denn diese Inhalte und dieses Wissen ermöglichen euch überhaupt erst bestimmte Perspektiven und Sichtweisen und verändern möglicherweise die alte Sicht auf die Dinge.
Einen Beruf zu erlernen bedeutet, den eigenen Gedächtnisinhalt zu formen, die neuronalen Netzwerke mit spezifischen Inhalten zu besetzen und damit, eine professionelle Identität zu entwickeln. Wenn ihr heute den ersten Schritt in die Hörsäle macht, dann geht ihr da rein mit all eurem biographischen Wissen und euren Persönlichkeitsstrukturen, die ihr bis dato angesammelt und entwickelt habt. Geht ihr in drei Jahren wieder hier raus, hat sich dieser Schatz erweitert, denn dann seid ihr auch Hebammen, Krankenpflegerinnen, Ergotherapeutinnen, Physiotherapeutinnen, Labortechnikerinnen, Podologinnen, Logopädinnen. Und das sind, vielmehr noch als bloße Dienstleistungen, auch identitätsstiftende Berufe, die verbunden sind mit bestimmten Fertigkeiten, Sichtweisen und Perspektiven.
Aber was genau sind denn nun Heldinnen? Ich hab das mal für euch gegoogelt. Im Netz ist man sich einig, dass Heldinnen dort agieren, wo die Not groß, der Zeitdruck hoch, die Anforderungen enorm und die strukturellen Barrieren beträchtlich sind. Und vor allem sind Heldinnen Personen, die sogar dann noch menschlich sind, wenn alle anderen es nicht mehr sein können.
Nun bietet sich das steuerfinanzierte Gesundheitssystem als Arbeitsort bisweilen an, heldenhaft zu sein. Denn es ist zwar reich an wissenschaftlichen und technischen Leistungen, aber manchmal etwas arm an zwischenmenschlichen Interaktionen und Beziehungen. Arbeitsteilig organisiert und weitgehend anonym, bleibt die Arbeit am Patienten oft nur stumme Dienstleistung – vor allem dann, wenn Gespräche nur noch dazu dienen, das reibungslose Funktionieren des Systems zu garantieren.
Deswegen sind Heldinnen dort ganz besonders gefragt, denn heldenhaft sind die, die den einen Schritt weitergehen, die den einen Moment länger hinschauen, die den einen Augenblick aufmerksamer hinhören und die paar Minuten länger beim Patienten dabei bleiben können. Heldinnen werden da aktiv, wo die anderen passiv bleiben. Und zwar nicht aus Pflichtbewusstsein, sondern aus der Überzeugung, dass Menschlichkeit die wahre Größe in dieser Gesellschaft ist.
Das ist nun ein Satz, der könnte von einem Pfarrer in einer Sonntagspredigt stammen. Ich bin aber Wissenschaftlerin und heute ist Dienstag, deswegen sage ich euch das nicht aus biblischer Überzeugung, sondern aufgrund wissenschaftlicher Belege: Die Re-Humanisierung der Dienstleitungen im Gesundheitsbereich, aufmerksame Kommunikation und Interaktion, weisen sich nachweislich positiv auf Therapieverlauf und Genesung der Patienten aus. Die Zeit, die man einem Patienten schenkt, die Aufmerksamkeit, Aufmunterung und der gute Zuspruch wirken sich ausschließlich positiv und nebenwirkungsfrei auf den Patienten aus – und letztlich damit auch entlastend auf das gesamte Gesundheitssystem.
Menschlichkeit ist eine messbare Variable, die den Unterschied macht.
Wir BRAUCHEN Heldinnen in unseren Krankenhäusern und Ambulatorien vor dem Hintergrund einer neoliberalen Gesellschaft, die Effizienz und Funktion in den Vordergrund stellt und manchmal darauf vergisst, dass ihre stärkste Waffe – neben der adäquaten, den höchsten wissenschaftlichen Standards entsprechenden Behandlung – eben die Humanität und Fürsorge ist. Menschlichkeit ist eine messbare Variable, die den Unterschied macht.
Halbherzige Heldinnen – denn Heldinnen handeln bekanntlich selbstlos – könnten nun denken: „Schön und gut für den Patienten und das Gesundheitssystem, aber was schaut dabei für mich raus?“ Weil aber Selbstlosigkeit auf Dauer ziemlich helden- und handlungsunfähig macht, dürft, ja MÜSST ihr euch das sogar fragen. Und sogar hier habe ich positive wissenschaftliche Neuigkeiten für euch: Erst durch die gelungene Begegnung, Interaktion und Resonanz zwischen Patient und Therapeut bekommt ihr die Bestätigung und Sinnerfüllung, die ihr allein durch fachlich-wissenschaftliches Arbeiten nicht bekommt. Die braucht ihr aber, um Heros For Life und nicht nur einmalig Mitarbeiterin des Monats zu sein. Da wo ihr tätig sein werdet, in den Gesundheitssystemen, Krankenhäusern, Therapieplätzen, Ambulatorien und Praxen dieser Welt, ist weit mehr als technisches Wissen gefragt. Heldin-Sein bedeutet, mit Humanität über das Fachwissen hinauszuwachsen.
Vor allem brauchen wir Heldinnen für die Situationen im Leben, die nicht instagramtauglich sind. Für die Situationen, für die man keine „Likes“ und keine Follower und in der Regel nicht mal einen feuchten Händedruck bekommt. Nein, es ist nicht schön, wenn man krank ist, wenn man Schmerzen hat, wenn man seit neunzehn Stunden in den Wehen liegt, wenn man Schwierigkeiten mit der Motorik, Sprache oder Ernährung hat. Und doch sind das Facetten des menschlichen Daseins, die dazugehören und oft lösbar sind – durch die Zusammenarbeit von unterschiedlichen Heldinnen, durch Wissenschaflterinnen, Medizinerinnen und Therapeutinnen, Schwestern, Pflegerinnen, Technikerinnen, Hygienikerinnen, Hebammen, Logopädinnen, Orthoptikerinnen, Podologinnen und so weiter.
Keine von all denen kann eine Heldin sein ohne die anderen: Alle haben ihre Expertise und erfüllen essenzielle Rollen im Kontinuum zwischen Forschung und Versorgung. Einer der schlimmsten Tage am Klinikum in München während meines Forschungsdoktorats war der Tag, an dem die Putzfrau und die Sozialbetreuerin ausfielen. Wenn sie euch erzählen und ihr am eigenen Leib erfahrt, wie hierarchisch das Gesundheitssystem ist, dann vergesst nie, dass jeder einzelne wichtig ist und jedem einzelnen vollster Respekt und Wertschätzung gebührt.
Heldin sein bedeutet nicht, ständig über die eigenen Möglichkeiten zu gehen und auf dem Zahnfleisch allein gegen den Rest der Welt zu kämpfen. Heldenhaft ist, wer die richtige Balance findet in der Gratwanderung zwischen Anforderungen, Effizienz und Menschlichkeit. Deswegen sucht euch Komplizinnen, denn ihr werdet sie brauchen: Ihr braucht sie während des Studiums und ihr braucht sie später, in der Arbeitswelt. Allein kann man auf Dauer keine Heldin sein und schon gar nicht „for life“. Die Kolleginnen, die ihr hier kennenlernt, können eine Ressource sein und können es über das Studium hinaus bleiben. Heldin sein bedeutet auch, auf die Expertise, die Intuition und das Wohlwollen anderer zurückzugreifen und sich im richtigen Moment Unterstützung zu holen, um seine eigenen Fähigkeiten zu multiplizieren und seine Grenzen zu respektieren.
Studieren bedeutet viel mehr, als reines Wissen anzusammeln, als simples Auswendiglernen und Datenanhäufen. Es ist ein Moment des Wachstums, des Schwungholens für alles, was nachher kommt. Und selbst mit Diplom hat man nicht ausgelernt. Es wird noch viel kommen, wo ihr kreativ werden und euch Lösungsstrategien überlegen müsst, die euch keiner vorher erzählt hat. Machen wir uns nichts vor – sie werden euch da draußen nicht immer wie Heldinnen behandeln.
Es wird Tage geben, da wird euch niemand auf die Schulter klopfen. Euer Vorgesetzter nicht, weil er keine Zeit dazu hat und euer Patient nicht, weil er es vielleicht schlicht nicht vermag. Ihr werdet die Überzeugung und die Motivation in euch selbst finden müssen. Dann könnt ihr hoffentlich auf das zurückgreifen, was ihr in diesen ehrwürdigen Hallen gelernt habt: Einerseits auf das Wissen, das es euch ermöglicht, eure Arbeit gut zu machen und die Menschen nach dem aktuellen Wissensstandard zu betreuen, und andererseits auf die Resilienz, die über den Austausch mit anderen entsteht, über das Zusammen-Studieren, Zusammen-Arbeiten, über das Diskutieren, Argumentieren und Reflektieren.
Zur Heldin wird man. Lehrjahre sind ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg dorthin. Die Inhalte, die euch vermittelt werden und die Menschen, denen ihr begegnet, werden zu neuronalen Korrelaten, die letztlich zu eurer Identität werden. Deswegen wünsche ich euch ein akademisches Jahr voller positiver und neurobiologisch wertvoller Stimuli, die euch darauf vorbereiten das zu sein, was ihr in den Gesundheitssystemen dieser Welt dann auch sein könnt: SHEROES und HEROES for LIFE.
[1] Der Titel und der Heldenbegriff nimmt Bezug auf die aktuelle Kampagne der Claudiana: heroesforlife.it
[2] Weil Pflegeberufe vorwiegend in Frauenhand sind und sie oft wenig und kaum Wertschätzung dafür bekommen, verwendet die Autorin das generische Femininum. Männer dürfen sich natürlich – wie Frauen beim generischen Maskulinum – mitgemeint fühlen.
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