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In Südtirol sprechen heute viele davon, dass das Land eine Schwelle der Entwicklung erreicht hat. Das hat seine Gründe. Teilsektoren der Gesellschaft sind in den vergangenen Jahren rasch, aber unterschiedlich vorangeschritten. Damit ist auch die Komplexität gewachsen. Unterschiedliche Zukunftsvorstellungen für verschiedene Bereiche sind entstanden: im Unternehmensbereich, im Autonomie- und Verwaltungsbereich, im Schul- und Ausbildungsbereich, im Tourismusbereich, im Energiebereich, im Technologiebereich, im Gesundheits- und Lebensverlängerungsbereich, im Bereich intelligenter Stadtentwicklung und Mobilität, im Migrationsbereich. Die wachsende Vielfalt von Zukunftsvorstellungen ist ein natürliches Ergebnis von Modernisierungsprozessen in einer offenen, freien Gesellschaft.
Als Folge davon hat auch in Südtirol fast jeder Gesellschaftsbereich inzwischen seine eigenen Zukunftspläne und Zukunftsprogramme entwickelt: von den Landesämtern über Vereine und Forschungsinstitute bis hin zu territorialen Werbeeinrichtungen, Firmen und Kreativschaffenden. Dazu kommen unterschiedliche Erwartungen an die Zukunft von verschiedenen Parteien, sozialen Schichten, Interessensgruppen und Ethnien. Auch ideologisch-weltanschaulich und religiös ist die Diversität in Südtirol gewachsen: unterschiedliche Grundüberzeugungen stellen sehr verschiedene Forderungen an die kommenden Jahre. Ideen von weniger Arbeit, mehr Technologie, einem anderen Tourismus, aber auch unterschiedliche Generationen- und Geschlechter-Zukünfte haben zu nicht immer übereinstimmenden Vorstellungen der Südtiroler Gesellschaft im Jahr 2030 – und dann weiter bis ins Jahr 2050 – geführt. Jüngere Menschen denken dabei oft grundlegend anders als ältere; weniger wohlhabendere anders als bessergestellte; gut ausgebildete anders als weniger gebildete.
Sollen Gesellschaftsbereiche und Bevölkerungsgruppen jetzt nicht weiter auseinanderdriften, braucht es eine ganzheitliche Zukunfts-Ethik.
Wie in anderen offenen Gesellschaften erzeugt das seit einiger Zeit auch in Südtirol Zukunftskonflikte. Diese werden nach und nach ein immer wichtigerer Teil unserer politischen Agenda werden. Denn diese sozialen Zukunftskonflikte betreffen nicht nur konkrete Einzelthemen, sondern auch das grundsätzliche Verständnis von Zukunft: zum Beispiel, was „Nachhaltigkeit“ im größeren Gesamtbild sein soll, für wen genau und wo; wie Gesellschaft „resilienter“ werden kann, womit genau und um welchen Preis; und was in den kommenden Jahren und Jahrzehnten im dynamischen Ganzen „Gerechtigkeit“ heißt, was „Sicherheit“, und was „Kontinuität und Wohlstand“. Und wie sie alle am besten zu vereinen wären, ohne dass das eine auf Kosten des anderen geht.
Das alles hat dazu geführt, dass es im Land inzwischen eine große Vielfalt an „Zukünften“ gibt – zweifellos größer als je zuvor. Diese haben seit 2021 in der Nachhaltigkeitsstrategie des Landes ein weit gespanntes Programm-Dach gefunden. Dieses Dach ist sinnvoll, gut gebaut, langfristig angelegt und notwendig; und es wird von fundierten Wissenschaftsaktivitäten unter anderem von Eurac Research und der Südtiroler „Allianz der Lehre und Forschung für nachhaltige Entwicklung“ (STARS) aktiv unterstützt. Viele der im Lande bestehenden Zukünfte sind aber nicht direkt auf Nachhaltigkeit bezogen und sie laufen weder in Programmen, Erklärungen und Vorhaben noch in Konzeption und Theorie in einer „Gesamtzukunft“ des Landes zusammen. Sollen Gesellschaftsbereiche und Bevölkerungsgruppen jetzt nicht weiter auseinanderdriften, braucht es deshalb – als Ergänzung zur Nachhaltigkeitsstrategie, in die sie sich eingliedern sollte – eine ganzheitliche Zukunftsethik: für den Dialog und zur Zusammenführung der teilweise miteinander im Wettbewerb liegenden Zukunfts-Vorstellungen und Zukunfts-Entwürfe. Diese Zusammenführung im Dialog wäre gleichzeitig die Arbeit an der Stärkung der gesellschaftlichen Solidarität für Südtirol. Sie könnte ein Gemeinschaftsprozess sein, der eben schon als Prozess – und also nicht direkt von den Ergebnissen abhängig – dazu beiträgt, „das Land zusammenzuhalten“ (Landeshauptmann Arno Kompatscher).
Eine Zukunfts-Ethik ist eine Einladung, das Interessante, Herausfordernde des Kommenden über Sektoren hinweg regelmäßig und mit Beteiligungsformen in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion zu stellen.
Wichtig für gemeinsame Zukunftsvorstellungen werden in den kommenden Jahren vor allem die Schnittpunkte gesellschaftlicher Sektoren-Entwicklungen. Eine Zukunftsethik soll die Bereiche nicht gleichschalten, sondern aneinander heranführen. Sie soll für diverse, aber doch zusammenwirkende Grundsätze mittels gemeinschaftlicher Perspektiven sorgen. Damit wird auch die Nachhaltigkeit stärker. Eine Zukunfts-Ethik ist kein Regulativ, sondern eine Einladung, das Interessante, Herausfordernde des Kommenden über Sektoren hinweg regelmäßig und mit Beteiligungsformen in den Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion zu stellen. Das soll nicht disziplinär, sondern multi-, inter- und trans-disziplinär geschehen. Und es soll möglichst viele Südtiroler Lebensrealitäten einbeziehen. Das könnte zum Beispiel mittels „Zukunftstagen“ nach bundesdeutschem Vorbild geschehen, wo man versuchte, jeweils 100 Bürger repräsentativ für die gesamtdeutsche Bevölkerung zu einem gemeinsamen Diskussions-Tag über die langfristige Zukunft einzuladen: anteilsmäßig-prozentuell so viele Jugendliche wie es in der Gesamtbevölkerung gibt, so viele Frauen, so viele Berufstätige der verschiedenen Fachsektoren, so viele Menschen mit Migrationshintergrund usw. Das kann spannende Prozesse erzeugen.
Eine umfassende Zukunftsethik sollte außerdem auf die wachsende Diversität von Weltzugängen und die Differenzierung der Lebensstile reagieren, die das Südtirol dieser Jahre kennzeichnen. Sie soll mittels Bereitstellung von Orientierungsoptionen dazu beitragen, Steuerungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Zukunft wie zum Beispiel KI, Chatbots oder Blockchain sozialverträglich einzusetzen – auch mittels Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft, Sozialem, Kultur, Politik und Zivilgesellschaft.
Nachhaltigkeit kann nicht identisch mit Zukunft sein – und Zukunft kann nicht allein auf Nachhaltigkeit eingegrenzt werden. Wer beide einfach gleichsetzt, schadet beiden.
Das alles kann der Nachhaltigkeitsdiskurs, der bislang oft mit Zukunftsethik gleichgesetzt wird, so alleine nicht leisten – weshalb er der Überforderung ausgesetzt sein wird, wenn man das alles zugleich von ihm allein verlangt. Nachhaltigkeit ist wesentlich und unverzichtbar, und das wird in den kommenden Jahren noch mehr so sein als bisher. Nachhaltigkeit kann aber nicht identisch mit Zukunft überhaupt sein – und Zukunft kann nicht allein auf Nachhaltigkeit eingegrenzt werden. Wer beide einfach gleichsetzt, schadet beiden. Die Gleichsetzung von Nachhaltigkeit mit gesellschaftlicher Zukunftsethik „an sich“ hat nämlich vor allem zwei Problemstellen: erstens belastet sie den Nachhaltigkeitsdiskurs mit gesamtgesellschaftlichen Grundsatz-Verantwortlichkeiten, die ihn praktisch für alles verantwortlich machen. Und zweitens reduziert das die Vielfalt von Zukünften auf ein einziges Motiv, was dem Charakter von Zukunft entgegenläuft. Denn Zukunft ist in ihrem Wesen dasjenige, was nicht eine einzige Möglichkeit, sondern viele, ja eine nicht bestimmbare Anzahl von Möglichkeitsräumen enthalten muss – und deshalb nicht eindeutig sein kann. Zudem existiert Zukunft nicht – darin besteht geradezu ihre Definition. Wie könnte sie dann gleichbedeutend mit Nachhaltigkeit sein, wenn diese doch das Notwendigste dessen ist, was existieren muss? Zukunft ist nicht mehr und nicht weniger als eine zusätzliche Perspektive, die die Nachhaltigkeit ergänzen und bereichern kann.
In den kommenden Jahren sollte deshalb gelten: Keine Zukunft ohne Nachhaltigkeit – keine Nachhaltigkeit ohne Zukunft. Die beiden Begriffe, ihre Vorstellungsinhalte und Programme sind eng verwandt, aber nicht dasselbe. Gerade deshalb gehören sie zusammen – inhaltlich und als Prozess. Wenn sie zusammengeführt werden, ist in den kommenden Jahren eine noch bessere Vorwegnahmefähigkeit immer schnellerer Neuerungen und also gemeinschaftliche Resilienz das Ergebnis.
Die Frage kann zum Beispiel lauten: Was waren, aus dem Jahr 2050 zurückgeschaut, heute die richtigen und was die falschen Trends, Entwicklungen, Entscheidungen und Handlungen?
Angesichts dieser Voraussetzungen bleibt abschließend zu klären, was genau mit dem Begriff „Zukunftsethik“ eigentlich gemeint sein soll. Für die Beantwortung dieser Frage könnten vielleicht vier Punkte eine Anregung sein, um in Südtirol eine Diskussion zu führen.
Erstens sollte Zukunftsethik sich der Anpassungs- und Verträglichkeits-Einschätzung neuer Human-Technologien widmen. Denn diese werden eine besonders große Streuwirkung auf alle anderen Gesellschaftsbereiche entfalten. Es handelt sich um Technologien, die sich derzeit in den Anfängen befinden und die wir in ihrem vollen gesellschaftlichen Einfluss noch nicht absehen können. Dazu gehört die Rolle von KI, Blockchain, Quantencomputing oder Fusionsenergie – und in den kommenden Jahren vor allem ihr Zusammenwirken. Die Vorwegnahme-Herausforderung im Bereich dieser neuen Technologien geht über Nachhaltigkeits-Erwägungen hinaus: Sie kommt sozusagen aus der Zukunft, während Nachhaltigkeit in diese hineingeht.
Zweitens sollte Zukunftsethik – eben deshalb – nicht nur in einer Vorausplanung der Gegenwart in kommende Räume hinein bestehen, sondern auch in der Haltung einer „Rückschau aus der Zukunft“ auf die Gegenwart. In der modernen „Antizipationsforschung“ versetzt man sich in einen Gesichtspunkt, aus dem man sich selbst aus der Zukunft heraus betrachtet. Es geht hier nicht vorrangig um das Planen oder Ausmalen von Zielräumen, die wir später erreichen wollen, sondern um die möglichst „fremde“ Rückschau auf die Gegenwart – aus einem späteren Gesichtspunkt heraus. Die Frage kann zum Beispiel lauten: Was waren, aus dem Jahr 2050 zurückgeschaut, heute die richtigen und was die falschen Trends, Entwicklungen, Entscheidungen und Handlungen? Und wenn das so wäre: Wie können wir was heute noch korrigieren oder verbessern? Wenn diese Frage als Gemeinschaftsprozess erfolgt, kann das im Dialog Mut für Entscheidungen machen und zugleich entlasten.
Drittens sollte sich Zukunftsethik als eine Ethik verstehen, die auch selbst noch nicht existiert, die wir noch nicht haben. Es ist eine Ethik, die sich fragt: Wie werden Menschen, Gesellschaften in der Zukunft überhaupt Ethik verstehen? Und wie wollen sie damit umgehen? Damit setzt sich Ethik selbst der Zukunft aus, statt aus einem scheinbar gesicherten Gesichtspunkt heraus auf wünschenswerte, wahrscheinliche oder mögliche Zukünfte zu schauen. Denn dabei vergisst sie das Nicht-Wünschenswerte, Unmögliche und Ungedachte, aus dem Zukunft aber mit besteht.
Eine Zukunfts-Ethik für Südtirol einzurichten hieße, einen zusätzlichen Raum der Freiheit zu schaffen.
Viertens schließlich sollte Zukunftsethik das Rad nicht neu erfinden, sondern aus „zusätzlichen“ Gesichtspunkten in Ergänzung bereits bestehender Initiativen bestehen. Südtirol verfügt heute über mehrere Ethik-Komitees; und es werden tendenziell in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft mehr werden, weil die EU immer stärker auf die Einrichtung solcher Gremien drängt. Diese Ethik-Komitees leisten vor allem hinsichtlich Prävention bereits hervorragende Arbeit. In Ergänzung dazu versteht sich Zukunftsethik nicht als Prävention zur Förderung „richtiger“ Verhaltensweisen. Sondern Zukunftsethik ist eine offene und „annehmende“ Exploration des Unbekannten und Ungedachten. Sie kann zum Beispiel über die Schaffung möglicher neuer Nachhaltigkeitsziele (SDGs) 18-20 ins Gespräch kommen, die heute international diskutiert werden sich am „Noch-Nicht“ orientieren: so etwa ein mögliches 18. SDG für das „Zusammenleben mit Künstlichen Intelligenzen“, ein 19. für eine „Weltraumwirtschaft für alle“ oder ein 20. für ein „Sicheres und sinnvolles digitales Leben“. Für die Einrichtung solcher zusätzlicher Nachhaltigkeitsziele bestehen heute bereits weltweit Aktionsgruppen. Zukunftsethik besteht aus der Offenheit, Ethiken für solche neue Bereiche zu diskutieren, während sie entstehen und noch bevor sie sich vollends gesellschaftlich durchsetzen. Dies nicht, um sie möglichst nahtlos in bestehende Überzeugungen einzugliedern, sondern um sie aus ihren neuartigen Charakteristiken selbst heraus zu verstehen und bewerten – welche sogar die Ethik selbst herausfordern oder gar verwandeln können.
Die Diskussion um diese vier Grundsatz-Aspekte einer Zukunftsethik für Südtirol könnte in den kommenden Jahren spannend werden – vor allem, wenn wir sie zusammenführen. Wenn wir uns als Südtiroler Gesellschaft dazu befähigen, daraus zusätzlich zum – weiterhin unverzichtbaren, notwendigen und zentralen – Nachhaltigkeitsdiskurs eine Zukunftsethik hinzuzufügen und sie für das Territorium einladend und gemeinschaftsfördernd umzusetzen, dann können wir damit Gesellschaft zusätzlich inspirieren und „freie“ Innovation fördern. Hier sollten die jungen Stimmen einen stärkeren Platz als bisher haben. Nicht Konsens um jeden Preis, sondern wertschätzende Konfrontation könnte die Stimmung prägen, um vielleicht auch überraschende gemeinsame Wege zu öffnen. Eine Zukunftsethik für Südtirol einzurichten hieße also zusammenfassend, einen zusätzlichen Raum der Freiheit zu schaffen. Vielleicht könnten wir damit unseren bereits so produktiven Mikrokosmos noch stärker und weiter positiv entwickeln.
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