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Sarah Meraner
Veröffentlicht
am 24.10.2024
MeinungSexualisierte Gewalt

Über Kavaliersdelikte spricht man (nicht)

Veröffentlicht
am 24.10.2024
Missbrauch im großen Stil, Vergewaltigungen in- und außerhalb der Ehe und das große Schweigen: Warum der Fall Gisèle Pelicot so wichtig ist und warum dieser Kommentar besser von einem Mann hätte geschrieben werden sollen.
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Gisèle Pelicot

Triggerwarnung: Sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung

Vor 28 Jahren war ich neun Jahre alt. Damals hätte mein Vater meine Mutter oder mein Onkel meine Tante oder mein Nachbar seine Frau oder der Verkäufer im Tante-Emma-Laden seine Gattin noch ganz legal vergewaltigen dürfen. Richtig gelesen, bis 1996 durften Ehemänner in Italien also gewissermaßen ihre Frauen zu sexuellen Handlungen zwingen. Auch in Deutschland werden erst seit 1997 Vergewaltigungen und andere erzwungene sexuelle Handlungen innerhalb der Ehe unter Strafe gestellt, bis zu diesem Zeitpunkt galt dies als – aufgepasst –„Kavaliersdelikt“. Man sagte, die Frauen hätten ihren Männern zur Verfügung zu stehen. Das neue Gesetz wurde übrigens geschlechtsneutral formuliert, weil ja rein theoretisch auch Männer Opfer sexueller Gewalt werden können, aber: Kriminalstatistische Auswertungen zeigen, dass es zu 82 % Frauen sind, denen häusliche Gewalt angetan wird, bei Vergewaltigung und sexueller Nötigung sind es zu fast 100 % Frauen.

Doch eigentlich möchte ich die Zahlen gerne umdrehen. Ich möchte nicht aufzeigen, wie viele weibliche Betroffene, sondern viel mehr verdeutlichen, wie viele männliche Täter es gibt, also feile ich mal kurz an dem Satz: Kriminalstatistische Auswertungen zeigen, dass Täter von häuslicher Gewalt zu 82 % Männer sind, von Vergewaltigung und sexueller Nötigung sind es fast 100 % Männer. Diese Zahlen zeigen, dass es nicht nur darum geht, die Zahl der weiblichen Betroffenen zu betrachten, sondern auch die strukturellen Gründe zu hinterfragen, die zu einem solch hohen Anteil männlicher Täter führen.

Das Gesetz Nr. 69 vom 19. Juli 2019, der sogenannte „Code Red“, führte in Italien neue Strafbestände ein, vor allem in Bezug auf die Straftaten der Misshandlung von Familienangehörigen und Mitbewohner:innen, der sexuellen Gewalt, der sexuellen Handlungen mit Minderjährigen und der sexuellen Gewalt in Gruppen. 2019 (a bissele spät, net?). Aber: Wenn es dann wieder ok ist, einer Frau zehn Sekunden lang ins Höschen zu fassen oder aber wie in Basel „nur ganz ein bisschen und gar nicht so lange vergewaltigt zu haben“, schauen all diese Gesetze auch nur auf dem Papier ganz hübsch aus. Zumindest hat das Basler Bundesgericht bei einem neuen Fall, bei dem sich der Täter auf das einstige Urteil gestützt hat, gewertet, dass die Dauer der Vergewaltigung nie zu Gunsten des Täters gewertet werden dürfe. Das ist doch wohl das Mindeste, hallo? In der Schweiz tatsächlich aber nicht selbstverständlich, denn aufgepasst: Erst seit dem 1. Juli 2024, also seit gestern quasi, ist ein neues Gesetz in Kraft getreten, das besagt, eine Vergewaltigung oder ein sexueller Übergriff liege auch dann vor, wenn das Opfer dem Täter durch Worten oder Gesten zeigt, dass es mit der sexuellen Handlung nicht einverstanden ist und dieser sich vorsätzlich darüber hinwegsetzt. Bis zum 1. Juli lag eine Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung also erst dann vor, sobald der Täter das Opfer bedrohte oder Gewalt ausübte. Ich wiederhole: 1. Juli 2024. Das muss man sich erst mal auf der sprachlosen Zunge zergehen lassen. 

Wie soll sich eine Frau – angesichts solcher Beispiele aus der Öffentlichkeit und zwischen Angst, Ohnmacht und Schamgefühl – überhaupt noch trauen, über ihre Erfahrungen zu sprechen? Kein Wunder, dass viele Männer glauben, tun und lassen zu können, was sie wollen. Aber vielleicht, ja vielleicht ändert sich das nun.

Erstmals wird eine Betroffene nicht als Opfer, sondern als aktiv handelnde Person gesehen und als solche auch medial kommuniziert.

Die Big Cases
Erstmals findet ein Vergewaltigungsprozess auch vor den Türen des Gerichts statt: Der Fall Gisèle Pelicot in Avignon in Frankreich erregt weltweit gerade immenses Aufsehen – und das aus mehreren Gründen. Da wäre zum einen natürlich die unfassbare Gräueltat selbst: Über zehn Jahre lang wurde Gisèle Pelicot regelmäßig von ihrem damaligen Ehemann betäubt und anderen Männern via Internet zur Vergewaltigung angeboten. Der Hauptangeklagte Dominique Pelicot ist geständig – mit ihm müssen sich seit September mindestens 50 weitere Männer vor Gericht verantworten. Ein weiterer Grund ist die Tatsache, dass die 72-jährige Klägerin darum gebeten hatte, den Prozess unter Einbeziehung der Öffentlichkeit zu führen und dass auch das belastende Bild- und Videomaterial gezeigt wird. Mit den Worten: „Die Scham muss die Seite wechseln“ hat Gisèle Pelicots ihr eigenes Gesicht auf der ganzen Welt bekannt gemacht – und das könnte womöglich sehr viel bewegen. Erstmals wird eine Betroffene nämlich nicht als Opfer, sondern als aktiv handelnde Person gesehen und als solche auch medial kommuniziert. Damit dürfte Gisele Pelicot unzähligen Frauen weltweit Mut machen: den Mut, das auszusprechen, was ihnen angetan wurde.

Eine Befragung von 42.000 Frauen seitens der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte zeigte bereits vor Jahren: Eine von zehn Frauen hat seit ihrem 15. Lebensjahr eine Form von sexualisierter Gewalt erlebt, eine von 20 wurde vergewaltigt. In den wenigsten Fällen zeigen betroffene Frauen die Täter an, nämlich nur 14 % (bei Vergewaltigung in der Partnerschaft) und 13 %  (bei Vergewaltigung durch eine andere Person) – und noch weniger gehen damit an die Öffentlichkeit. 

Wie sollen Frauen, deren Missbrauchsfälle medial nie im Mittelpunkt stehen werden, sich auch nur ansatzweise trauen, wie Gisèle Pelicot laut zu sagen: Dieser Mann hat mir etwas Schreckliches angetan – er ist das Monster und nicht ich das verdammte Opfer.

Logisch irgendwie: Wie oft wissen wir von Fällen, bei denen die Täter am Ende konsequenzlos ihr Leben weiterführen dürfen? Wie viele Fälle kennen wir, bei denen aufs Übelste Täter-Opfer-Umkehr betrieben wird? Und wie viele Fälle kennen wir, bei denen es oft Jahre gedauert hat, bis es überhaupt einen Anflug von Gerechtigkeit gibt? Jüngstes Beispiel: Der ehemalige Rapper P. Diddy steht schon seit … ja einer gefühlten Ewigkeit unter Verdacht der Vergewaltigung, wurde aber erst Mitte September dieses Jahres verhaftet. Ein Video aus dem Jahr 2016 zeigt, wie er seiner Ex-Freundin in einem Hotel gegenüber gewalttätig wird, sie schlägt und über den Boden schleift. Der Fall ist in den USA inzwischen verjährt, aber inzwischen liegen gegen Klagen der Staatsanwaltschaft sowie über 100 Zivilklagen vor, in denen dem Rapper mehrere Delikte, darunter Vergewaltigung, Missbrauch von Minderjährigen und Sexhandel, vorgeworfen werden. Jahrzehntelang soll er Frauen genötigt und missbraucht, einige seiner Angestellten sollen mitgeholfen und die Vorfälle vertuscht haben. Die Betroffenen sollen durch Erpressung, Gewalt, Entführung und Brandstiftung eingeschüchtert worden sein.

Aber hey, wir müssen gar nicht mal über den großen Teich blicken. Was ist mit den vielen Vorwürfen völlig unterschiedlicher Frauen gegenüber Rammstein-Frontmann Till Lindemann passiert, um bei den prominenten Fällen zu bleiben? Nada, die Band tourt ja schon seit Monaten wieder fröhlich herum und keiner verliert mehr ein Wort darüber. Und weil wir schon gerade beim Auflisten kurioser Fälle sind: Bei Olympia durfte in diesem Jahr ein verurteilter Sexualstraftäter die Niederlande ehrenvoll im Beach-Volleyball vertreten – ist das nicht fantastisch? Und noch fantastischer fand ich die Reaktionen darauf: Er hätte doch seine Strafe verbüßt und dürfe jetzt sein Leben wie jeder andere weiterleben. Bitte? Was ist das denn für eine Message, wenn ein Sexualverbrecher ein ganzes Land repräsentiert? Denkt da niemand an die Betroffenen? Die werden nämlich dermaßen damit geohrfeigt, dass dieser Typ gefeiert wird oder dadurch, dass tausende Menschen ihrer Lieblingsband auf der Bühne zujubeln, obwohl der Frontmann ein perverser Verbrecher ist, der Leben zerstört hat. Ich frage mich: Wie, ja wie sollen Frauen, deren Missbrauchsfälle medial nie im Mittelpunkt stehen werden, sich auch nur ansatzweise trauen, wie Gisèle Pelicot laut zu sagen: „Dieser Mann hat mir etwas Schreckliches angetan – er ist das Monster und nicht ich das verdammte Opfer.“ 

Jede dritte Frau
Was diese Big Cases mit uns zu tun haben? Das, was in der großen, weiten Welt geschieht, passiert täglich und – oh Schreck! – ja, auch bei uns in Südtirol. Jede:r von uns kennt eine oder mehrere Frauen, die sexuelle Übergriffe erlebt haben. Ich kenne jedenfalls einige. Und jetzt, liebe Leser:in, stell dir mal die Frage, wie viele von diesen Frauen ganz offen darüber sprechen? Diese Frauen haben eines gemeinsam: Sie haben den Täter nie angezeigt. Aus Scham. Vor allem darüber, wie das Umfeld reagieren könnte. Nicht nur das eigene, sondern auch das des Täters. Denn die Frauen und der Täter kennen sich. Und dessen Oma. Und dessen Neffe geht mit dem eigenen Neffen in die Kita. Und man kann doch niemandem das Leben kaputt machen, dessen „Mama jo so a Nette isch und dor Tata bei dor Fuierwehr.“ Also wird geschwiegen. Denn wenn schon bei denen geschwiegen wird, bei denen es alle wissen, dann schweigen auch die kleinen Bürgerinnen, vor allem in so einem heiligen Land wie dem unseren.

Ich habe eine weitere Frage an dich: Wie viele von den Frauen, die du kennst, haben solche Übergriffe erlebt und du weißt gar nichts davon? Das sind mit Sicherheit noch viel mehr. Aber vielleicht hast du dir diese Fragen bereits alle selbst gestellt. Folgende aber garantiert noch nicht: Wie viele der Männer, die du kennst, haben sich schon mal sexuell an einer Frau vergangen? Durch anzügliche Bemerkungen? Mit Grabschen? Mit ungewollten Küssen? Mit Sex, der nicht einvernehmlich war oder bei dem sie sich sichtlich unwohl gefühlt hat? Bist du ein Mann, der das gerade liest? Bist du dir absolut sicher, dass du nie eine Grenze überschritten hast? Wenn deine Antwort „Ja“ lautet, dann bist du entweder eine Ausnahme oder aber ein Lügner. Denn – und das ist ja Fakt und nicht irgendwie aus dem Ärmel geschüttelt: In Italien ist fast jede dritte Frau zwischen 16 und 70 Jahren in ihrem Leben bereits Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt geworden. das heißt im Umkehrschluss – und den machen wir viel zu selten – fast jeder dritte Mann war hierzulande schon mal sexuell übergriffig. (Nachträgliche Anm. d. Red.: Dass jeder dritte Mann hierzulande schon mal übergriffig wurde, ist keine korrekte Aussage. Um eine genaue Zahl der Täter zu bestimmen, wäre eine spezifische Erhebung nötig, die erfasst, wie viele Männer tatsächlich übergriffig waren. Dass fast jeder dritte Mann übergriffig war, ist nicht direkt aus der Statistik ableitbar. Wir entschuldigen uns für die Falschaussage.) Ungefähr die Hälfte dieser Männer ist der (ehemalige) Partner. Gruselig, oder?

Vergewaltiger sind keine starken Männer.

Psychiaterin Nahlah Saimeh im GEO-Interview

Wo bleibt die männliche Bestürzung?
Bei sexualisierter Gewalt geht es in erster Linie vor allem um eines: um Machtausübung. Die Psychiaterin Dr. Nahlah Saimeh beschreibt in einem Interview mit GEO die verschiedenen Tätertypen – Männer, für die der Reiz einer Vergewaltigung vor allem in der Macht- und Dominanzerfahrung liegt und deren Sexualität durch den Wunsch sexueller Gewaltausübung geprägt ist, ist ein weit verbreiterter Typ. „Es geht darum, der anderen Person im Sexuellen den eigenen Willen aufzuzwingen, zu herrschen. Es gibt in unserer Alltagswelt kaum vergleichbare Erfahrungen von unmittelbarer Mächtigkeit“, erklärt sie. Sexuelle Machtausübung ist also ein wesentliches Mittel für Machtdemonstration, die laut Saimeh nicht nur von dissozialen oder narzisstischen Männern, sondern häufig auch von sehr unsicheren Männern ausgeht und betont: „Vergewaltiger sind keine starken Männer.“

Viele Männer glauben heute noch, dass Frauen sich ihnen sexuell unterwerfen müssten, vor allem die eigene Ehefrau. Und wer zeigt schon gerne ihren eigenen Mann wegen Vergewaltigung an? Gisele Pelicot hat es getan. Und das vor aller Welt. Damit setzt sie einen wichtigen Meilenstein. Aber warum müssen eigentlich immer die Frauen selbst diesen fucking schweren Meilenstein setzen? Warum muss immer ich als Frau meine Stimme erheben? Warum muss ich als Frau immer und immer wieder dieses Thema ausgraben? Nervt dich das, liebe:r Leser:in? Ja, mich nervt es auch.

Diese Worte sollte ein Mann schreiben, der einsieht, dass sexualisierte Gewalt ein Männerproblem ist und der sich dagegen auflehnt.

Ganz ehrlich? Ich wünschte, diesen Artikel würde ein Mann schreiben. Spätestens jetzt nach dem Fall von Avignon, der mit seiner Grausamkeit und der Verschiedenheit an Männern, die da vergewaltigt haben, ein Querschnitt des Problems aufzeigt. Diese Worte sollte ein Mann schreiben, der einsieht, dass sexualisierte Gewalt ein Männerproblem ist und der sich dagegen auflehnt. Der Verantwortung dafür übernimmt, was sein Geschlecht über Jahrhunderte Frauen angetan hat. Der versteht, dass Feminismus nicht ein Kampf hysterischer Emanzen ist, sondern die Forderung nach Gleichberechtigung der gesamten Gesellschaft. Der gemeinsam mit uns Frauen aufsteht und in die Welt hinausschreit, dass niemand das Recht hat sein Gegenüber derart menschenunwürdig zu behandeln. Der sagt: „Wir sollten uns dafür schämen, was wir euch seit Jahrhunderten antun.“

Deep Dive:
– Vergewaltigungsgesetze nach Ländern: https://deutsch.wikibrief.org/wiki/Marital_rape_laws_by_country
– GEO-Interview mit Nahlah Saimeh über die Psyche von Sexualstraftätern:
https://www.geo.de/wissen/gesundheit/23211-rtkl-sexuelle-gewalt-vergewaltiger-sind-keine-starken-maenner

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