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Selma Mahlknecht
Veröffentlicht
am 14.03.2019
MeinungDas digitale Zeitalter

Tinderella und der geile Prinz

Veröffentlicht
am 14.03.2019
Internet ohne Pornos? Unvorstellbar. Der virtuelle Sex hat längst Einzug in unser Leben genommen, beeinflusst es und verändert uns.
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Als das Internet noch jung war, war es für viele geheimnisumwittert und verheißungsvoll. Geheimnisumwittert, weil man noch nicht recht wusste, wohin die Entwicklung führen würde und welche verborgenen Seiten in seinen Tiefen schlummerten. Verheißungsvoll aus denselben Gründen. Die Pioniere, die die ersten Webseiten erstellten, arbeiteten mit rudimentären Mitteln, optisch wurde nicht viel geboten. Eine Branche jedoch preschte wie immer vor und wurde wie immer zum Goldstandard der neuen Technologien, nämlich die Pornoindustrie. Die Portale warben mit Slogans wie „das ist der wahre Grund, warum Sie sich Internet zugelegt haben“ und erfüllten die kühnsten Träume: Endlich zeitlich wie räumlich unbeschränkten Zugang zum Verruchten und Verbotenen zu gewähren.

„Endlich konnte man bequem von zu Hause aus und ganz anonym an den Stoff gelangen, aus dem die feuchten Träume sind. Und dieser Stoff wurde mit der Zeit immer vielfältiger. Für alle Vorlieben war da etwas zu haben: große Brüste, kleine Brüste, Hausfrauenvideos und Dominas, Blümchensex und das ganz harte Zeug. Vor allem das ganz harte Zeug.”

Aus heutiger Sicht ist es kaum noch vorstellbar, dass erotische und pornographische Inhalte einst gar nicht so leicht zu ergattern waren. Live-Shows gab es (vor allem im ländlichen Raum) kaum, Erotikfilme wurden nur ab und zu und nur in ausgewählten Kinos gespielt. Man musste sich „Schmuddelheftchen“ am Kiosk kaufen oder entsprechende Videokassetten beschaffen. An Lustspielzeug gelangte man nur, wenn man die wenigen einschlägigen Geschäfte aufsuchte oder über entsprechende Kataloge Bestellungen aufgab. Der Aufwand war zum Teil recht erheblich und immer damit verbunden, dass man sich in irgendeiner Form exponieren musste. Mit dem Internet änderte sich das. Endlich konnte man bequem von zu Hause aus und ganz anonym an den Stoff gelangen, aus dem die feuchten Träume sind. Und dieser Stoff wurde mit der Zeit immer vielfältiger. Für alle Vorlieben war da etwas zu haben: große Brüste, kleine Brüste, Hausfrauenvideos und Dominas, Blümchensex und das ganz harte Zeug. Vor allem das ganz harte Zeug.

Abdriften ins Extreme

Hier vollzog sich ein Paradigmenwechsel, dessen Ausmaß für uns heute kaum noch vorstellbar ist und dessen Tragweite erst so langsam in unser Bewusstsein rückt. Was ich im letzten Artikel über den digitalen Tribalismus geschrieben habe, gilt auch hier: Ich kann mir im Internet genau meine sexuelle Nische aussuchen und finden, was mir gefällt. Was zweifellos für manche befreiend wirkte, birgt aber auch Gefahren. Man weiß vom Google-Algorithmus, dass er dazu „neigt“, bestehende Tendenzen zuzuspitzen und zu radikalisieren. Konkret: Wer auf YouTube vegetarische Rezepte sucht, bekommt als nächstes vegane Rezepte vorgeschlagen, als übernächstes Filme zum Veganismus, danach Videos über Massentierhaltung und Tierleid bis hin zu Videos von militanten Tierrechtsorganisationen. Was harmlos beginnt, driftet schnell ins Extreme, wenn man die „künstliche Intelligenz“ einfach machen lässt. Auch dadurch bildet sich eine „Filterblase“. Wir Menschen sind sehr anpassungsfähig. Schnell haben wir unsere Sehgewohnheiten verändert. Was vor hundert Jahren noch ein Skandal gewesen wäre, regt uns heute gar nicht mehr auf. Befreiend ist das aber nur, wenn die Betroffenen einverstanden sind. So ist bis heute nur ungenügend aufgearbeitet, was die sexuelle Revolution ab den späten 1960er Jahren bei vielen Menschen angerichtet hat – nicht jede*r war bereit und willig, hier mitzugehen, doch der Druck, der auf vielen lastete, war groß. Darf man keinen Minirock tragen, wenn doch genau das der Ausdruck weiblicher Befreiung ist? Darf man ganz bieder heiraten und zusammenleben, wenn man modern und fortschrittlich sein will?

„Natürlich wissen wir alle, dass Sexvideos nicht die Realität abbilden. Wer aber gerade erst dabei ist, sich und seinen Körper kennenzulernen und seine Sexualität zu erforschen, für den ist es schwer einzuschätzen, was denn nun wirklich „realistisch“ ist.”

Für junge Menschen heute ist der Druck noch größer geworden. Sei experimentierfreudig, sei offen, sei flexibel und tolerant, lautet die Maxime. Und im Internet kann man sich ansehen, was konkret das bedeutet. Dort werden Sexpraktiken als ganz selbstverständlich dargestellt, für die man geradezu besondere körperliche Voraussetzungen braucht – und zwar unabhängig vom Geschlecht. Ganz nebenbei wird eine Barbie-und-Ken-Ästhetik vorgegeben, die ebenfalls nur mit einem gewissen Aufwand reproduziert werden kann. Nur der straffe Hartplastikkörper ist sexy, wird da suggeriert. Überhaupt ist Sex harte Arbeit, und zwar für alle Beteiligten. Die Rollen sind klar verteilt, das Drehbuch unerbittlich: So schaut das aus, so läuft das ab, und wenn es nicht so aussieht und so abläuft, dann hast du was falsch gemacht.

Jugendlicher Pornokonsum

Natürlich wissen wir alle, dass Sexvideos nicht die Realität abbilden. Wer aber gerade erst dabei ist, sich und seinen Körper kennenzulernen und seine Sexualität zu erforschen, für den ist es schwer einzuschätzen, was denn nun wirklich „realistisch“ ist. Die Filme sind doch echt, echte Menschen erbringen echte Sexleistungen, zumindest bleibt das bei dem und der Zwölfjährigen hängen, die/der sich verstohlen durch Pornoseiten klickt. Kann ich das auch? Soll ich das auch können?

Die Erwartung junger Menschen an sich selbst und an den potentiellen Sexualpartner ist heute ohne Zweifel durch Internetpornos geprägt, um nicht zu sagen deformiert. Dabei fehlt in diesen Pornos trotz aller Vielfalt ein Aspekt, der in der Realität eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt: die Enttäuschung. Es ist einfach nicht vorgesehen, dass irgendetwas nicht funktioniert. Dabei gehören die sexuelle Enttäuschung, ja, die sexuelle Frustration zu den wichtigen Lernerfahrungen. Echte Menschen sind kompliziert und unberechenbar, ihre Körper haben Schwächen. Was in der Phantasie aufregend und sexy war, kann in der Realität vermurkst und beschämend sein. Damit umgehen zu können, ist eine wichtige Voraussetzung für gelingende (nicht nur sexuelle) Beziehungen. Der digitale Sex hingegen ist nie enttäuschend. Er liefert mir immer genau das, was ich phantasiere – und ein kleines bisschen mehr. Wenn er mich ermüdet und langweilt, bietet er Abwechslung. Wer er mir zu brav ist, lässt er sich problemlos „verschärfen“. Ich kann auch das finden, was mir das reale Leben nie (zumindest nicht legal) bietet. Und ich brauche keine anderen Menschen dazu, da mir alle Hilfsmittel problemlos zur Verfügung stehen.

„Wo der reale Mensch versagt, ist die Sexpuppe verlässlich. Sie ist geduldig, verliebt, willig, von allem begeistert und flexibel.”

Kein Wunder, dass es bereits Menschen gibt, die sich mittlerweile völlig vom realen Sex abgewandt haben. Für sie gibt es echte Befriedigung nur noch im virtuellen Raum. Auch darauf hat die Pornoindustrie bereits reagiert. Mit einer rudimentären künstlichen Intelligenz ausgestattete Sexpuppen sollen die Lücke füllen. Nicht nur, dass man ihren Körper ganz nach seinen Wünschen gestalten kann, sie kann sogar zunehmend zu einem echten Partnerersatz werden: Wo der reale Mensch versagt, ist die Sexpuppe verlässlich. Sie ist geduldig, verliebt, willig, von allem begeistert und flexibel. Sie nimmt es nicht übel, wenn man sie tage- und wochenlang vernachlässigt, sie kann (pseudo)tiefgründige Gespräche führen, aber auch einfach nur die Klappe halten.

Hier erfüllt sich also eines der größten Versprechen des digitalen Zeitalters: Du musst dich nie mehr mit Dingen herumschlagen, die dir nicht passen. Nörgelnde Partnerinnen oder müde Ehemänner sind ein Relikt der Vergangenheit. Ab jetzt kriegst du passgenau, was dir gefällt, ohne dass du Widerspruch erdulden oder endlose Diskussionen führen musst.

Sexroboter

Noch stecken diese Sexpuppen erst in den Kinderschuhen – und das durchaus wörtlich. Ihre Körper sind relativ schwer und sie werden daher in einer kleineren Größe hergestellt; die assoziative Nähe zu den Körpern Halbwüchsiger ist erschreckend. Selbstverständlich winken die Hersteller ab. Ihre Puppen sind natürlich keine Kinder, sondern genaugenommen Gegenstände. Und selbst wenn jemand mit einer kindlichen Sexpuppe gewisse dunkle Neigungen ausleben sollte: Ist es nicht besser, er verwendet dazu die Puppe als eventuell irgendwann einen echten Menschen? Dieses Argument wird gerne ins Feld geführt. Und doch fühle ich mich im Kontext dieser wachsenden Industrie unbehaglich. Es gibt schon die ersten Bordelle, die auch Sexroboter anbieten. Damit ist scheinbar die Lösung für alle Probleme gefunden: Der Roboter als seelenloses Wesen erfüllt alle Wünsche. Wer sie sich von einem Roboter erfüllen lässt, muss kein schlechtes Gewissen haben. Er verwendet ja nur eine Maschine zur Befriedigung seiner Bedürfnisse – eine Maschine freilich, die einer echten Person ähnlichsieht und deren Rolle spielt, allerdings ohne alle unangenehmen Nebenwirkungen, die beim Umgang mit echten Personen auftreten können.

Und genau hier sehe ich einen Haken: Voneinander enttäuscht zu sein, miteinander Konflikte auszutragen und Kompromisse auszuhandeln, mag mühsam erscheinen. Doch es ist die einzige Art, wie wir uns gesellschaftlich weiterentwickeln können. Einen nörgelnden Partner einfach auf mute zu schalten, ist zunächst vielleicht verlockend, ebenso wie die Vorstellung, immer von einem freundlichen, liebevollen, lustigen Freund begleitet und unterstützt zu werden. Doch die dienstbaren Geister, die unser Leben erleichtern sollen, verändern zunehmend, wer wir sind und wer wir sein wollen. Darüber werde ich in der nächsten Folge schreiben.

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