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Frisch duftend, weiß und saugstark. So verpacken wir sie am liebsten, die ganze Pipi und Kaka, die unsere Kleinsten den lieben langen Tag produzieren. Wegwerfwindeln sind praktisch. Das sagt nicht nur die Werbung, das ist auch so. Windel zu, Pipi rein, wieder Pipi rein, wieder Pipi rein, wieder Pipi rein und am Ende noch einmal Kaka oben drauf. Wenn es dann doch einmal stinkt, Windel auf, zu und rein damit in den Müll. Alles bleibt sauber, alles duftet, alles ist gut.
Im Jahr 2017 gab es in Italien 482.000 Neugeborene. Gehen wir davon aus, dass ein Baby pro Jahr etwa 2.000 Windeln verbraucht, macht das 964 Millionen Windeln. 964 Millionen kleiner Plastikpakete, in die wir die biologisch abbaubaren Ausscheidungen unserer Babys verpacken, um sie dann auf unsere Müllhalden zu werfen. 500 Jahre später liegen ihre Windeln immer noch dort. Denn durch ihre petrochemischen Inhaltsstoffe sind sie quasi unzerstörbar.
Je mehr ich darüber las, desto unlogischer erschien es mir, wie logisch es für uns ist, Wegwerfwindeln zu benutzen.
Auch Herzmensch hätte im Laufe seiner Windelkarriere einen Müllberg von einer Tonne erzeugt und damit den größten Teil unseres Haushaltsmülls produziert. Tut er aber nicht. Der kleine Mann kann nämlich ganz bewusst Kaka und meistens auch Pipi aufs Töpfchen machen. Und das seit er fünf Tage alt ist. Was für viele komisch klingen mag, ist nichts als logisches Umdenken von einer verwöhnten Pampers-Gesellschaft hin zu normalem Ausscheidungsverhalten.
Im Laufe meiner Recherchen während der Schwangerschaft stieß ich auf verschiedene Blogs von Familien, die ihre Kinder windelfrei erziehen. „Windelfrei?“, dachte ich, „wie soll das denn bitte gehen?“ Doch je mehr ich darüber las, desto unlogischer erschien es mir, wie logisch es für uns ist, Wegwerfwindeln zu benutzen. Nicht nur der ganze Müll brachte mich zum Nachdenken, auch die bedenklichen Inhaltsstoffe der Wegwerfwindel und das eigentlich natürlich gegebene Ausscheidungsverhalten von Neugeborenen. Denn die können ihre Pipi und Kaka eigentlich von Anfang an bewusst halten.
Ob lautes Schreien, komische Grimassen, Strampeln oder Jammern: Baby haben viele Arten der Kommunikation. Wie absurd ist es also zu denken, dass sie uns zwar mitteilen können, wenn sie Hunger haben oder müde sind, nicht aber, wenn sie mal müssen?
Während Kinder in China Schlitzhosen tragen und sie in Afrika oder Indien ganz einfach nackt herumlaufen und abgehalten werden, wickeln wir ihnen eine Wegwerfwindel ums Gesäß und lernen ihnen damit, dass das der richtige Ort für ihre Ausscheidungen ist. Zumindest bis sie etwa zwei Jahre alt sind. Dann wollen wir ihnen das Ganze am liebsten so schnell wie möglich wieder abgewöhnen.
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Wegwerfwindeln sind eine Kulturrevolution. Sie soll uns Eltern den Alltag erleichtern und uns vom Ekel vor unseren Ausscheidungen, der mit der Kultur gewachsen ist, befreien. Sieht man sich die Müllberge der westlichen Welt an, ist diese Revolution gelungen. Was sie jedoch zerstört hat, ist neben einem Teil der Umwelt auch das Kommunikationsverhalten zwischen Eltern und ihren Babys.
Herzmensch, sein Papa und ich sind mittlerweile richtige Kommunikationsprofis. Es macht großen Spaß zu beobachten, wie viel man aus Mimik, Gestik und Lauten eines Babys ablesen kann und wie klar diese kleinen Wesen durch ihren Körper bereits mit uns kommunizieren. Wenn wir es denn zulassen. Die allgemeine Reaktion auf das windelfreie Leben von Herzmensch ist nämlich meist Verwunderung, dicht gefolgt von folgender Frage: „Aber das ist doch viel zu viel Arbeit, oder?“ Während der Schwangerschaft konnte ich nur mit Schulterzucken und einem verhaltenen „mal schauen“ darauf antworten. Mittlerweile ist meine Meinung klar: Ist es nicht! Es ist viel mehr eine Frage der Einstellung.
Natürlich braucht es Geduld, wenn der Kleine die ersten Male fast eine Stunde lang über dem Töpfchen hockt und man auf das ersehnte Furzgeräusch wartet, während man Code-Wörter wie „Psssss“, „Pipi“ oder „Kaka“ nuschelt. Oder wenn dann doch mal die eine oder andere Pipi in die Baby-Hose, auf Mamas Hose oder auf die Couch geht. Doch Geduld braucht es anfangs auch, wenn man verstehen will, wann ein Baby Hunger hat oder müde ist. Warum sollte es dann mehr Arbeit sein, diese Geduld auch beim Thema Ausscheidungen aufzubringen? Die Freude, die es macht, wenn man erstmals ohne Worte miteinander kommuniziert, ist dafür unbeschreiblich.
Für 70 Prozent aller Babys weltweit ist es völlig normal, so gut wie nie gewickelt zu werden.
Achtsamkeit und Lust am gemeinsamen Lernen genügen eigentlich schon für die Windelfreiheit. Schließlich ist es für 70 Prozent aller Babys weltweit völlig normal, so gut wie nie gewickelt zu werden.
Windelfrei ist keine Methode. Windelfrei ist eine Einstellung, die das natürliche Aufwachsen unserer Kinder unterstützt und unsere Bindung zu ihnen stärkt. Dabei findet jede Familie den besten Weg für sich. Manche tragen gar keine Windeln, andere greifen nur ab und zu zur Wegwerfwindel und wieder andere, so wie wir, halten ab und nehmen Stoffwindeln als Backup.
Ich gebe zu, anfangs kostete es mich Überwindung, mit dem Töpfchen aus dem Haus zu gehen – schiefe Blicke waren vorprogrammiert. Und in meinem Rucksack hortete ich damals Unmengen an Stoffwindeleinlagen. Doch mittlerweile fühle ich sofort, wenn Herzmensch mal muss und habe fast schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich ihn dann nicht gleich ausziehe und übers Töpfchen halte, ganz egal wo oder vor wem.
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