Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
Als ich in Berlin ankam, drei Wochen vor der deutschen Bundestagswahl, lag etwas in der Luft, das ich aus meiner journalistischen Zeit in Südtirol nicht kannte. Über Wahlen und lokales Politikertreiben berichte ich schon seit einigen Jahren, doch in Bozen – dem Südtiroler Pendant zum deutschen Polit-Zentrum Berlin – ist mir eine solche Unvorhersehbarkeit des Wahlausgangs, und damit einhergehend eine Aufgeregtheit unter Expertinnen und Experten, eine Spannung in der Gesellschaft, ein Kribbeln in den Redaktionen, noch nie begegnet.
„In einer Provinz, die auf 60 Jahre unangefochtene SVP-Regierung zurückblickt, kaum verwunderlich“, werdet ihr denken. Doch auch in Deutschland hat die 16-jährige Merkel-Regierung das Land in einen politischen Dämmerzustand versetzt; ein Grund, warum viele politische Analysen der deutschen Politik eine außergewöhnliche Resistenz gegen Veränderung attestieren. Die Ära Merkel hat sich so in das politische Verständnis des Landes eingebrannt, dass der Begriff „Merkelismus“ in Titeln renommierter Medien vorkommt.
Und dennoch: Das nüchterne, veränderungsresistente, kompromissausgelutschte Merkel’sche Zeitalter bringt eine neue Generation an Kanzleranwärtern und einer Anwärterin hervor, deren Machtkampf an emotionalem Auf und Ab in Europa kaum zu übertreffen ist. Es war, um es in den Worten der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock auszudrücken, „noch nie so spannend.“
Ob auch die kommenden Landtagswahlen in Südtirol „spannend“ werden können? Der Fall Deutschland gibt jedenfalls Hoffnung für die Hoamat.
Neben der einzigen Dame im Rennen um das Kanzleramt, sind zwei Herren ganz vorne mit dabei: Olaf Scholz für die Sozialdemokratische Partei (SPD) und der Christdemokrat Armin Laschet für die CDU. Beide Parteien sitzen aktuell in der Regierung, der sogenannten GroKo (Große Koalition). Die Grünen, gerade in der Opposition, galten lange als Favoriten, denn sie versprachen als einzige Partei Veränderung. Im Frühsommer lag sie in den Umfragen des ZDF-Politbarometers mit 26 Prozent in Führung. Doch verschiedene Fehler während des Wahlkampfs, darunter ein mittelgroßer Skandal – Baerbock hat in ihrem neuen Buch Passagen von anderen Autoren und Autorinnen abgeschrieben – ließen die Zustimmungswerte für die Grünen fast auf die Hälfte abstürzen; kaum mehr jemand glaubt noch an eine grüne Kanzlernachfolge.
So bleibt es wohl ein Rennen zwischen Scholz und Laschet, obwohl auch die beiden Konkurrenten von Schatten überzogen werden.
Olaf Scholz, derzeitiger Finanzminister, muss sich mitten im Wahlkampf zwei Untersuchungsausschüssen stellen: Es geht um seine Verantwortung beim Wirecard-Skandal, und um seine Rolle bei der Steuerhinterziehung einer Hamburger Privatbank, als er noch Bürgermeister von Hamburg war. Trotz der Finanzskandale liegt Scholz derzeit in Führung: Hinkte er vor einem Monat noch an dritter Stelle den beiden Konkurrenten hinterher, schossen die Zustimmungswerte für ihn nach einer Fernsehdebatte im September auf 25 Prozent hoch.
Gleich darauf folgt Armin Laschet mit 22 Prozent Zustimmung. Sein größtes Manko hat weniger mit ihm selbst zu tun und heißt Merkel. Nach 16 Jahren Merkelismus ist es fast unmöglich, an jenen Ikonenstatus heranzukommen. Und die einzige Eigenschaft, mit der Laschet Merkel das Wasser reichen kann, ist mangelndes Charisma.
Was das Rennen spannend macht: 40 Prozent der Wählerschaft sind sich noch unsicher, für wen sie stimmen werden (Stand: 10. September). Jene Unentschlossenen könnten am Ende das Ruder herumreißen. Zumal es noch drei weitere, kleinere Parteien gibt, die Stimmen abzwacken werden: Die Liberale Partei FDP (liegt in Umfragen bei 11 Prozent), die Linke (6 Prozent) und die umstrittene AfD (11 Prozent) am rechten Rand.
Außergewöhnlich still und unspektakulär in diesem Wahlkampf wird es beim Thema Europa und Außenpolitik: Weder Afghanistan noch der Umgang mit Polen und Ungarn spielen eine Rolle bei Fernsehdebatten oder Wahlkampfveranstaltungen. Vielmehr blickt Deutschland auf sich selbst. Eine Reform des Gesundheitssystems; die sozial gerechte Gestaltung der grünen Energiewende; die lang anstehende Digitalisierung – solche Themen wurden in den letzten fünf Monaten diskutiert.
Hier liegt die eigentliche Spannung dieses Wahlkampfs: die Farbpalette potenzieller Regierungskoalitionen ist so bunt wie nie.
Eine Frage, die besonders durch Haushalte, Redaktionen und Parteizentralen geistert, ist eine, die man sonst so dominant nur bei Gossip Girl hört: Wer geht mit wem? Übersetzt: Welche Parteien tun sich nach der Wahl zusammen, um gemeinsam die Regierung zu bilden?
Und hier liegt die eigentliche Spannung dieses Wahlkampfs: die Farbpalette potenzieller Regierungskoalitionen ist so bunt wie nie, denn es ist unwahrscheinlich, dass zwei Parteien allein eine parlamentarische Mehrheit erhalten werden. Somit wird es auf eine Dreier-Konstellation hinauslaufen. Am beliebtesten ist laut Politbarometer die „Ampelkoalition“, also der Zusammenschluss zwischen SPD (rot), Grüne und FDP (gelb). Auch eine Jamaika-Koalition zwischen CDU, Grünen und FDP (schwarz-gelb-grün nach der jamaikanischen Nationalflagge) wird diskutiert, liegt aktuell in der Beliebtheitsskala aber nur an dritter Stelle. Nimmt man die Linke mit ins Spiel, so wäre auch ein rot-rot-grüner Zusammenschluss möglich – eine Vorstellung, die unter der konservativen Wählerschaft als ultimatives Schreckgespenst gilt und von der CDU dementsprechend im Wahlkampf ausgeschlachtet wird („Wählt uns, um eine links-grüne Ökodiktatur zu vermeiden“).
Der Frage „Wer geht mit wem?“ weichen die Kandidaten im Vorfeld jedoch alle mit vagen Sätzen aus, die an Originalität kaum zu unterbieten sind („In einer Demokratie muss man miteinander reden können“), denn es besteht die Angst, Stimmen zu verlieren („Was?! Die geht mit dem? Dann ist sie nicht mehr meine beste Freundin!“)
Wie gut, dass es in Südtirol kein solches Farb-Dilemma gibt, denn die Dominanz des Edelweißes bleibt auch innerhalb neuer Koalitionen bestehen. Farblos, unangefochten und unbefleckt – die SVP macht dem Namen ihres Parteisymbols alle Ehre.
Aber was bedeutet das Ganze für Europa? Und wie blickt Italien auf die Wahlen?
Europa wird Merkel vermissen. Ihr wird Verlässlichkeit zugeschrieben und die Fähigkeit, Europa zusammenzuhalten.
Oft wurden im Paese der europäischen Höchstverschuldung Klagen laut über die deutsche „Austeritätspolitik“. Trotzdem schneidet die Beurteilung der Merkelregierung unter Italienern positiv ab, wie eine Umfrage der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) zeigt. Darin geben zum Beispiel 37 Prozent der italienischen Befragten an, sie würden Merkel als Präsidentin Europas lieber sehen als den Franzosen Emanuel Macron. Die Umfrage des ECFR zeigt auch: Ganz Europa wird Merkel vermissen. Ihr wird Verlässlichkeit zugeschrieben und die Fähigkeit, Europa zusammenzuhalten.
Und Post-Merkel? Die für Italien „günstigste“ Koalition wäre wohl eine SPD-geführte Ampel. Denn mit Jamaika hätten die verschuldeten Italiener zwei wirtschaftskonservative Parteien wie die CDU und die FDP am Hals – das packt nicht mal ein Draghi.
Wer auch immer am Sonntag die Wahl gewinnt, und welche Koalition sich am Ende auch durchsetzt, eines steht fest: Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa blickt gespannt auf diese Wahlen. Denn sie entscheiden mitunter über die Geschwindigkeit, mit der die EU sich an das neue Zeitalter anpasst, und darüber, ob sie die nötigen Veränderungen anstoßen wird.
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support