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Gegenstand des Gesprächs sind Eric Bergkrauts Buch „Hundert Tage im Frühling. Geschichte eines Abschieds“ (Limmat, 2024) und Sabine Grubers Buch „Die Dauer der Liebe“ (C.H. Beck, 2023, TB 2025).
Bergkrauts „Geschichte eines Abschieds“ bezieht sich auf die am 4. Juni 2023 verstorbene Schweizer Schriftstellerin Ruth Schweikert, die seine Ehefrau war und Mutter seiner drei Söhne ist. Gruber war mit Ruth Schweikert befreundet.
Sabine Gruber: Das Thema der Trauer beschäftigt mich schon länger, eigentlich seit dem plötzlichen Tod von Gabriel Grüner, der 1999 als Stern-Journalist im Kosovo erschossen wurde. Wir waren mal ein Paar, zum Zeitpunkt seines Todes war er einer meiner besten Freunde. Sein Tod war traumatisch für mich. Schreiben konnte ich über ihn und sein Sterben nicht, ebenso wenig war es mir möglich, auf authentische oder autofiktionale Weise über den plötzlichen Tod meines Mannes Karl-Heinz Ströhle zu schreiben, der 2016 in den Bergen verstorben ist.
Es vergingen ein paar Jahre, in denen ich mich mit einschlägiger Literatur befasste. Ich finde auch in Ihrem Buch Verweise auf Julian Barnes „Lebensstufen“oder Joan Didions „Das Jahr magischen Denkens“, um zwei Beispiele zu nennen, auf die wir uns beide beziehen. Meine Romanfigur Renata liest in einem Buch von Connie Palmen, welches sie ihrem verstorbenen Mann Ischa Meijer gewidmet hat, in dem steht: „Trauer ist roh, ich kann seinen Tod nicht verdauen. In meinem Roman steht: Renata frißt Bücher von Gleichgesinnten, aber es hilft nicht, das Rohe in Literatur zu garen, es bleibt schwer.“
Für mich persönlich war und ist im Gegensatz zu meiner Roman-Figur die Auseinandersetzung mit Literatur immer tröstlich. Wie war das für Sie? Hat es Ihnen geholfen, Bücher von Trauernden zu lesen?
Eric Bergkraut: Ich hatte ursprünglich nicht die Absicht, ein Buch zu schreiben. Ich hatte mit Ruth Schweikert an einem Filmscript gearbeitet, es war ihre Idee gewesen, es sollte eine Groteske werden mit dem Titel „Supersterber“, ich sollte diesen falschen Toten spielen, das wollte Ruth so, aber dann kam es anders.
Ich habe schlussendlich zwar „Hundert Tage im Frühling“ geschrieben, aber es ist kein Trauerbuch. Oder doch nur am Rande. Ich beschreibe unseren Abschied und wie es zu diesem kommt. Und auch, was dieser für die Menschen um uns herum bedeutet, für Familie, Freunde und Nachbarn.
Aber es stimmt, dass ich ein paar dieser Bücher rund um Abschied und Trauer gelesen habe, die Gegenlektüre als Suche nach Trost, das scheint uns alle zu verbinden, Menschen, die wissen, was so ein Verlust bedeutet, verstehen einander und erkennen einander,schreibt Olga Martynova. Das scheint mir auf ein urmenschliches Paradoxon zu weisen. Trauernde sind ja keine sonderbare kleine Spezies, wir alle geraten irgendwann in diesen Modus. Das Einzige, was uns mit allen anderen Menschen verbindet, ist unsere Sterblichkeit. Dabei gibt es gewiss einen Anteil der Trauer, der sich nicht teilen lässt. Es gibt viel Einsamkeit. Manchmal aber vielleicht zu viel. Das hat auch zu tun mit der verbreiteten Abwesenheit von Ritualen oder anderen Einbettungen. Das fällt oft erst richtig auf, wenn es sehr ernst wird, im End ofLife und im Sterben.
Ich wollte Zeugnis ablegen. Zunächst von einzelnen Sätzen und Gesten, vom Menschen, der uns verlassen würde, davon, was ich über ihn wusste oder auch nicht wusste. Ich wollte quasi verewigen, was man
Sabine Gruber: Ihr Buch schildert das Abschiednehmen von Ihrer Frau, es ist ein Prozess, der länger andauert, von Hoffnungen begleitet ist. Meine Romanfigur wurde vom Tod des Mannes überrascht, sie verfällt anfangs in eine Art Schockstarre, ist handlungsunfähig, lässt vieles mit sich geschehen. Ich habe versucht, für diesen passiven Schmerz eine Sprache zu finden, zu beschreiben, wie die Figur dann doch zu trauern beginnt, es ging mir um den – wie Didion schreibt – „unerschütterlichen Blick auf das Erschütternde“, um die Verwandlung des Schmerzes in (aktive) Trauer. Sie zitieren Barnes, für den der Freitod nach dem Tod seiner Frau die einzig relevante Frage war. Auch meine Figur Renata stellt sich unter anderem vor, wie sie aus dem Fenster springt.
Wie hält man das Unerträgliche aus? Was tröstet jenseits der Literatur?
Eric Bergkraut: Ich begann, an meinem Buch zu schreiben, als Ruth Schweikert noch gelebt hat. Ich wollte Zeugnis ablegen. Zunächst von einzelnen Sätzen und Gesten, vom Menschen, der uns verlassen würde, davon, was ich über ihn wusste oder auch nicht wusste. Ich wollte quasi verewigen, was man Leben nennen kann. Im Wissen um das Paradoxon des Unternehmens. Unser Abschied ließ mich an den stürmischen Anfang denken und an alles, was dazwischen liegt. Ruth Schweikert und ich waren über die 29 Jahre unserer Liebesbeziehung stark verbunden, aber wir waren kein symbiotisches Paar. Da gab es manche Freude und auch manchen Kummer, wie es so ist. Im Abschied, reduziert auf die nackte Existenz, wurde das völlig unwichtig. Ich fühlte mich wie ein Bruder, der die letzte Strecke teilt.
Sabine Gruber: Den Trost des Beistandes oder die Möglichkeit, den letzten Weg gemeinsam zu gehen, hat meine Figur nicht. Renata wird vor vollendete Tatsachen gestellt, ein Polizist überbringt die Todesnachricht. Dennoch war es auch mir wichtig, in den Rückblicken und auch in der Verzweiflung der Trauer die Liebe auferstehen zu lassen, zu zeigen, dass sie über den Tod hinausreicht. Sie stirbt nicht mit dem geliebten Menschen.
Renata erscheint das Sterben der Mutter ihres besten Freundes angesichts des abrupten Todes ihres Mannes als ein Abgang in Zeitlupe. Es ist ein schmerzhaftes Glück, wenn man jemanden begleiten darf/kann und die Wünsche des Sterbenden berücksichtigt werden können. Aber es muss auch sehr belastend sein, wenn die Hoffnungen auf Weiterleben schwinden.
Es ist ein schmerzhaftes Glück, wenn man jemanden begleiten darf/kann und die Wünsche des Sterbenden berücksichtigt werden können. Aber es muss auch sehr belastend sein, wenn die Hoffnungen auf Weiterleben schwinden.
Eric Bergkraut:Abgang in Zeitlupe ist ein schönes Bild. Auch weil diese Tage, Stunden, Minuten in ihrer Endlichkeit so kostbar werden. Sie tun beides gleichzeitig: Sie dehnen sich und sie ziehen rasend schnell vorbei. Das ist der Grund, weshalb das Journal das dramaturgische Raster ist, das ich für mein Buch gewählt habe, die Zeitachse. Dies vor dem Hintergrund der Auflösung. Manchmal schien es ja, als ob jede mögliche schlechte Entwicklung eintreten würde. Aber dann gab es auch das Glück, dass Ruth Schweikerts Geist glasklar zurückgekehrt ist. Und über eine ganze Strecke gehalten hat. Ich wusste, dass sie über ihr Geschick bestimmen wollte, solange es ging. Es sollte um sie herum gearbeitet, gegessen, gelacht werden, umgeben von den Geräuschen des Lebens wollte sie uns verlassen. Das konnten wir eine Zeitlang so einrichten, begünstigt durch manchen Umstand, namentlich die vorbildliche Palliativpflege in den eigenen vier Wänden, die wir in Anspruch nehmen durften. Auffällig war zum Beispiel, dass sie in der ganzen Zeit zuhause keinen zusätzlichen Sauerstoff gebraucht hat, anders als in der Klinik. Irgendwann fragten wir uns: Wozu stehen hier Nasenbrille und Sauerstoffbombe noch herum? Ich habe es, trotz des bitteren Abschieds, als ein Geschenk erlebt, meinem nächsten Menschen im Prozess des End of Life und schließlich im Sterben zur Seite zu stehen.
Sabine Gruber: Wir können nur zu einem geringen Maße mitentscheiden, wie wir sterben wollen, aber – und Sie führen das in Ihrem Buch eindrücklich vor – bestimmte Bedingungen lassen ein humaneres Sterben zu und erlauben auch eine würdevolle Art zu trauern.
Eric Bergkraut: Ich bin überzeugt, dass in Sterbehospizen und auch in Spitälern viele Betreuende daran arbeiten, das End of Life würdevoll zu gestalten. Bei uns zuhause, aber schon vorher in den Kliniken, hatte sich eine Gemeinschaft gebildet, ziemlich unorganisiert und eher spontan. Wir haben ein paar Rituale gepflegt, etwa spielten ukrainische Musiker jeden zweiten Tag auf, die Gäste sammelten sich um das Krankenbett. Aber natürlich ist Ruth Schweikerts Tod mit 58 Jahren schlimm. Und ich möchte die Zeit zuhause nicht verklären. Ruth Schweikert hatte Schmerzen, „daß es chlöpft und tätscht“, sie war auch verzweifelt, „ich ha nöd wele stärbe, nöd jetzt“. Aber es stimmt, dass sie in ihrer Haltung aufrecht blieb. Es gab den Kippmoment der Akzeptanz der Endlichkeit, dies auf den Tag genau 29 Jahre nach unserer ersten Begegnung. Ich wusste nicht, dass ein Mensch einen anderen bis so dicht an die ominöse Grenze begleiten kann, wie es für mich möglich war.
Sabine Gruber: Mein Roman hat viele Leser und Leserinnen veranlasst, die letzten Dinge zu regeln; zahlreiche Zuschriften belegen das. Meine Figur Renata war unverheiratet, das von ihrem Mann formulierte Testament wegen eines Formfehlers nicht rechtskräftig, so dass die 25 Jahre andauernde Liebesbeziehung mit dem Tod von Konrad von seiner Familie keine Anerkennung findet. Konrads Mutter und vor allem sein jüngerer Bruder setzen sich über Konrads Wünsche hinweg. In meinem Roman wird auch die Frage aufgeworfen, ob Recht gerecht ist. Was Eigentum bedeutet, es beschreibt ja auch ein Verhältnis, das aber oft nicht den tatsächlichen Verhältnissen entspricht.
Es geht nicht nur darum, sich auf den eigenen Tod vorzubereiten, sondern auch darum, die Liebsten durch Heirat oder notariell beglaubigte Verfügungen und Testamente abzusichern, die eigenen Wünsche rechtskonform zu formulieren.
Eric Bergkraut: Die Lektüre Ihres fiktionalen Buches hat aktiv in das Leben von Leserinnen und Lesern gegriffen, solches kann Literatur auslösen! Ich würde mich freuen, wenn „Hundert Tage im Frühling“ die Diskussion über Palliativpflege zuhause beleben würde. Und die Frage, wie wir sterben. Ruth Schweikert ist nur zuhause gelandet, weil die Krankenkasse den Aufenthalt in der Klink nicht weiterbezahlen wollte, da gibt es einen Systemfehler. Nicht alles lässt sich planen, weder im Leben, noch im Sterben, und es gibt so etwas wie das Glück im Unglück. Mein Buch ist auch ein Erfahrungsbericht. Sie erwähnten, dass es Ihnen nicht möglich war, auf authentische oder autofiktionale Weise über den plötzlichen Tod Ihres Mannes Karl-Heinz Ströhle zu schreiben oder jenen von Gabriel Grüner. Ich schätze mal, dass Sie das so gar nie wollten, weil Ihre Methode eine ganz andere ist.
Abgang in Zeitlupe ist ein schönes Bild. Auch weil diese Tage, Stunden, Minuten in ihrer Endlichkeit so kostbar werden.
Sabine Gruber: Mich interessierte vor allem die Frage, ob und wie sich ein traumatischer Schmerz darstellen lässt. Der unerwartete Tod eines geliebten Menschen führt zu Wortfindungsstörungen, Dekonzentration, völliger Erstarrung. Die Zeit, steht in meinem Buch, bestand einst „aus nahtlos zusammengefügten Teilchen, sie ist in Einzelteile zerfallen, die im Fluß auseinandertreiben. Renata zupft nur noch an Fusseln, der Erzählfaden ist gerissen.“
Ich sehe auch bei Ihnen in der Textstruktur das Fragmentarische, die Brüche, die zeitlichen Sprünge. Sie wählten, wie ich auch, für Ihre „Geschichte eines Abschieds“die Gegenwartsform, um die Gegenwart der Sterbenden noch präsenter erscheinen zu lassen, ja, Sie wählten sogar die Du-Perspektive, die nicht nur eine besondere Nähe zwischen dem Erzähler und seiner Frau herstellt, sondern auch für den Leser und die Leserin große Anziehungskraft hat, so dass man sich schnell identifiziert.
Ich habe die literarische Fiktion gewählt, weil ich mich so entpersonalisieren konnte, sie lässt mir mehr Freiraum. Das Authentische hat in meinen Augen in dem Beharren auf Echtheit immer auch etwas Totalitäres, Selbstbehauptendes. Es gibt seit geraumer Zeit in der Literatur einen Trend hin zum Aufrichtigen, Originären, das hat vielleicht mit unserer von Digitalität, Virtualität und Fakenews bestimmten Welt zu tun.
Herta Müller schreibt, ihr komme das Schreiben immer „als Gratwanderung vor zwischen dem Preisgeben und Geheimhalten“. Ihr Text geht in seiner Aufrichtigkeit an Grenzen, schreiben Sie zu Beginn Ihres Buches. Gab es Grenzen, die Sie keinesfalls überschreiten wollten?
Ich habe die literarische Fiktion gewählt, weil ich mich so entpersonalisieren konnte, sie lässt mir mehr Freiraum.
Eric Bergkraut: In den Themen und Motiven durfte es keine Grenzen geben. Das fand ich zwingend, angesichts der kategorischen Periode, die ich beschreibe. Wohl aber in der Art und Weise, wie ich diese verhandle. Ich breche manche Schilderungen ab, sobald ersichtlich ist, wohin sie führen. Ich wollte keiner Form von Voyeurismus Nahrung geben. Ich erhebe nicht den Anspruch, die echte Geschichte eines Abschieds zu erzählen, alle diese Begrifflichkeiten wie authentisch oder wahr halte ich für problematisch. Das Buch ist die Schilderung meines Erlebens des Abschieds. Alles andere wäre angesichts der Unfassbarkeit des Todes nicht nur anmaßend, es wäre lächerlich. Dann, weil es sich nicht um einen Roman handelt, war wichtig, wie lebende Personen im Text benannt und erkennbar sind, ich wollte die Integrität der beschriebenen Menschen wahren und – bei allem Grenzgang – eine Form von Diskretion walten lassen.
Was halten Sie eigentlich vom Ausdruck End of Life, den ich aus meiner Erfahrung heraus für die letzte Lebensstrecke eines Menschen konsequent benutze?
Sabine Gruber: Der Begriff gefällt mir besser als Sterbephase oder Terminale Phase. Das Wort Sterben bedeutet etymologisch starr werden, da ist der Tod eigentlich schon eingetreten.
Schon in der Wahl dieses Begriffes, aber auch im Verfahren der Montage, in den Schnitten – Sie kommen ja vom Film – zeigt sich, dass die Form von zentraler Bedeutung ist. Wir bevorzugen beide eine dem Stoff angemessene fragmentarische Schreibweise, sie spiegelt die Fragilität und die Erschütterung, die in der Konfrontation mit dem Tod nicht ausbleiben.
Ich lese Ihr Buch auch als Plädoyer für ein humanes, selbstbestimmtes Sterben.
Autorin: Sabine Gruber
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