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Was tun, wenn man verlassen wird? Alles hinter sich lassen und radikal neu anfangen, mit einem neuen Haarschnitt vielleicht? Das ist die eine Option. Gaia, die Protagonistin aus Maddalena Fingerles neuem Roman „Pudore“, wählt die andere Option. Gaia kann ihre Exfreundin Veronica nicht nur nicht vergessen. Sie will gleich aussehen, sich gleich ernähren, gleich wohnen wie Veronica. Sie will selbst Veronica werden.
Auch dieser Weg beginnt mit einem neuen Haarschnitt, einer Vollrasur bis zur Glatze. Darauf setzt Gaia aber eine Perücke, die genauso aussieht wie das Haar von Veronica, glatt und rötlich-blond. Auch ihre Wohnung richtet Gaia ganz neu ein, mit Stücken und Farben, die Veronica gefallen hätten. Sogar Menstruationstassen nutzt Gaia neuerdings, wie Veronica, obwohl sie sich immer davor gegraust hatte.
Indem sie in der Idealisierung der Geliebten voll aufgeht, nimmt Gaia Abschied von ihrem alten Ich: dem verwöhnten Mädchen aus einem bildungsbürgerlichen Haushalt, wo der akademische Abschluss die Voraussetzung ist, um überhaupt ernst genommen zu werden, wo die „einfachen“ Aufgaben der Haushaltshilfe überlassen werden.
Veronica dagegen – die erste, die Gaia das Gefühl gab, gut zu sein – steht für alles, was Gaia sein möchte: stark, selbständig, selbstbewusst, im echten Leben großgeworden. Muss Gaia erst versuchen, Veronica zu sein, um die Person zu werden, die sie selbst ist – und sein will?
In einem 150 Seiten langen Gedankenstrom geht Gaia durch diese Verwandlung, bewundert, verachtet und interpretiert, was um sie herum passiert, wer ihr begegnet. Die äußeren Lebensumstände werden dabei zum Spiegel des Innenlebens. Wer in der Lage ist, sein Bett selbst zu montieren, ist für Gaia der Inbegriff eines Menschen, der sein Leben im Griff hat.
Als Leser:in macht man diese Verwandlung mit, sieht durch ihre Augen, urteilt durch ihre Maßstäbe. Man lebt im Kopf der Protagonistin, ob man gerade mit ihr fühlt oder von ihrer Selbstverleugnung abgestoßen wird. Manchmal fühlt man sich auch fremd in diesem kahlrasierten Kopf, trotzdem bleibt man ganz nah dran. Distanz lässt der unmittelbare, mündliche Sprachfluss gar nicht zu – und das ist genauso gewollt. Dahinter verbirgt sich eine meisterhafte Stilistin, die über Sprache eine Lebensrealität nicht beschreibt, sondern sie erst durch ihre starke, unverkennbare Stimme erschafft. Genau das ist Maddalena Fingerle nach ihrem Debüt „Muttersprache“ mit ihrem neuen Roman „Pudore“ noch einmal virtuos gelungen.
„Pudore“ wird demnächst beim Luchterhand Verlag auf Deutsch übersetzt. Der italienische Originaltitel bei Mondadori ist seit Februar im Buchhandel erhältlich.
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