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Das Weinen des eigenen Babys zerreißt jeder Mutter das Herz. Man möchte dann am liebsten alles dafür geben, dass dieser ohrenbetäubende Hilferuf so schnell als möglich aufhört. Ob mit einer trockenen Windel, einer schmerzenden Brustwarze, einem neuen, spannenderen Spielzeug, mit einer Kuscheleinheit oder der nötigen Portion Aufmerksamkeit. Wenn es sein müsste, würde man sich dafür vermutlich auch mal einen Finger abhacken.
Während sich die Wissenschaft noch den Kopf darüber zerbricht, ob es den Mutterinstinkt tatsächlich gibt, bin ich mir zu hundert Prozent sicher: Es kann nur dieser ständig präsente innere Trieb sein, der uns Mütter dazu bringt, nicht nur unsere Mahlzeiten oder dringende Klogänge, sondern unser gesamtes Leben hinter all die Dinge zu stellen, die unser Baby gerade braucht. Wir vergessen, auf unsere Bedürfnisse zu hören und verlernen es früher oder später wahrscheinlich ganz.
Aus Angst davor, irgendwann wenn Herzmensch groß ist und mich nicht mehr jede Sekunde am Tag braucht, aufzuwachen und zu realisieren, dass ich mich in diesem ganzen Dasein als Mutter selbst völlig vernachlässigt habe, ergriff ich bereits nach einem knappen Monat das erste Mal die Flucht. Das kleine, hilflose Menschlein habe ich ganz einfach bei seinem Papa gelassen und bin zwischen einem Milcheinschuss und dem nächsten in eine Yogastunde gehuscht. Eineinhalb Stunden nur für mich. Was vor der Geburt so selbstverständlich war, war nun ein unglaubliches Gefühl von Freiheit im neuen Alltag. Wie sich herausstellte, war ich jedoch nicht mehr so frei wie vorher, meine Gedanken zwischen jeder Asana immer wieder mal beim Baby. Während der Endentspannung schlief ich vor Erschöpfung ein.
Was mich bei der Rückkehr erwartete, war ein Herzmensch in Rage. Tränende Augen, Schweißperlen auf der Stirn, Todesangst im Gesicht. Und all das nur, weil ich eineinhalb Stunden für mich sein wollte, ich egoistische, blöde Kuh, dachte ich. Ich fühlte mich so unheimlich schuldig. Dafür, dass ich mein Baby in eine solche Lage versetzt hatte. Dafür, dass ich nicht einmal die paar Monate des Stillens ohne ein wenig Alleinzeit aushalten konnte. Dafür, dass ich mein Leben für eineinhalb Stunden vor das von Herzmensch gestellt habe.
„Ich habe mit meinem Wunsch, Mutter zu werden, doch nicht das Recht auf mein eigenes Leben aufgegeben, oder?“
Mittlerweile habe ich die Flucht bereits öfter ergriffen, bin zum Tanzen und in die eine oder andere weitere Yogastunde geschlichen. Und habe es nicht aufgegeben, mein eigenes Leben. Was ich mir nach sechs Monaten Herzmensch nämlich denke, ist: Warum? Warum sollte ich mich schuldig fühlen, wenn ich eineinhalb Stunden in der Woche nur für mich beanspruche, wo ich doch sonst jeden Tag 24 Stunden lang ununterbrochen für Herzmensch da bin? Ich habe mit meinem Wunsch, Mutter zu werden, doch nicht das Recht auf mein eigenes Leben aufgegeben, oder? Schließlich weint der kleine Mann im Laufe eines Tages ja auch öfter in meinen Armen, wenn sein Papa nicht da ist. Dass Jakob deshalb dasselbe schlechte Gewissen hätte wie ich, habe ich bis jetzt noch nie beobachtet. Der Vaterinstinkt scheint mit den Männern nicht so hart zur Sache zu gehen wie der Mutterinstinkt mit uns.
Und das ist der Punkt. Wer uns Frauen einen Strich durch die Rechnung macht, ist ganz allein dieser Mutterinstinkt. Er ist es, der uns in diesen inneren Kampf mit dem schlechten Gewissen versetzt und uns leise Vorwürfe macht. Er ist es, der uns überhaupt erst dazu bringt, uns in unseren Köpfen als Rabenmütter zu bezeichnen, obwohl wir für unsere Babys tagtäglich unser Bestes geben. Und er ist es, der uns zum Aufgeben des eigenen Lebens zwingt, ohne dass wir es überhaupt bemerken.
Vor der Geburt konnte ich mir nicht vorstellen, wie es sein würde, sieben Tage in der Woche 24 Stunden lang verantwortlich zu sein für den kleinen, hilflosen Wurm. Ich konnte mir nicht vorstellen dass, egal ob Tag oder Nacht, die Pflichten als Mutter immer weiterlaufen würden. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie müde das machen kann und dass man trotz dicker, schwarzer Ringe unter den Augen immer weitermachen muss. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sein würde, ein nach Aufmerksamkeit schreiendes Baby und all die restlichen Aufgaben in meinem Leben koordinieren zu müssen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie schwer es sein würde, diesem schreienden Baby irgendeinen Wunsch abzuschlagen. Und ich konnte mir nicht vorstellen, dass mein Mutterinstinkt mich dazu bringt, all das ohne Wenn und Aber durchzustehen.
Wie einfach wäre es, könnten wir diesem Trieb die Schuld an unserem Dilemma geben. Doch in Wirklichkeit bringt uns auch das nicht weiter. Und irgendwann kommt er einfach. Der Punkt, an dem der Drang nach dem eigenen Leben kein Verschieben auf später mehr erträgt. An dem man sich in diesem vollen Alltag neben dem Dasein als Mutter auch wieder selbst realisieren möchte, sich selbst spüren möchte. Auch wenn es nur für eineinhalb Stunden ist, ganz ohne Schuldgefühle und Vorwürfe. Dazu haben wir Mütter das Recht.
Seit ich das begriffen habe, steige ich öfter in den Ring mit meinen zwei größten Feinden, dem Mutterinstinkt und dem schlechten Gewissen. Und mittlerweile funktioniert es ganz gut, den traurigen Herzmenschen mit großen Kulleraugen auch mal abzugeben. Manchmal zumindest … 😉
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