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Am 16. Oktober hat Israel eines seiner wichtigsten Kriegsziele erreicht. Yahya Sinwar, der Chef der Hamas und Drahtzieher des terroristischen Überfalls gegen Israel am 7. Oktober 2023, wird tot gemeldet. Erschossen durch israelische Soldaten, die ihn auf Rafahs zerbombten Straßen zufällig antrafen. Die Bilder des toten Hamas-Chefs sollten eigentlich Israels Stärke demonstrieren, den Etappensieg zelebrieren. Doch ausgerechnet diese Bilder wurden für Israel zu einer spektakulären PR-Niederlage. Sie verrät viel darüber, was in der israelischen Kriegsführung, aber auch im „war on terror“ des Westens schiefläuft.
Neben Bildern des getöteten Feindes veröffentlichte die israelische Armee auch ein Video, das einen tödlich verwundeten, aber noch lebendigen Sinwar zeigt, in voller Kampfmontur, der sich mit einem zertrümmerten Arm auf einem Stuhl krümmt und mit dem anderen Arm einen Stock gegen die Drohne wirft, die ihn filmt. Das Video hatte wohl das Ziel, Sinwar als sterbendes Häufchen Elend zu zeigen, um ihn und seine Anhänger zu demütigen. Das Gegenteil passierte.
Das beste Geschenk, das der Feind und die Besatzung mir machen können, ist, dass sie mich ermorden und ich als Märtyrer durch ihre Hände gehe
Yahya SinwarUnter Anhängern der Hamas und großen Teilen des propalästinensischen Lager wurde das Video gefeiert. Als ein Beweis, dass Sinwar als Märtyrer gestorben sei, als aufrechter Kämpfer; dass er selbst in seinen letzten Atemzügen Widerstand leistete; und dass er sich angeblich nicht in Tunneln oder hinter seinen eigenen Leuten versteckte, wie es die westliche Öffentlichkeit behauptete. „Sie haben ihn mit ihrem eigenen Video zur Legende gemacht“, kommentiert ein User in den sozialen Medien. Von der Zerknirschtheit der Besiegten ist da keine Spur.
Tatsächlich geschah alles so, wie Sinwar es sich immer gewünscht hatte. „Das beste Geschenk, das der Feind und die Besatzung mir machen können, ist, dass sie mich ermorden und ich als Märtyrer durch ihre Hände gehe“, sagte der Terrorchef einmal. So sehr man ihn als Terroristen moralisch verurteilen kann – ein heuchlerischer Schönwetter-Islamist, der sich in Luxustunneln verschanzte und andere für sich sterben ließ, wie seine Feinde ihn gerne dargestellt hätten, war Sinwar offenbar doch nicht. Er glaubte an seine radikalen Ziele, an den Islam als politisches System, an den Kampf gegen Israel, mit jedem Mittel – bis zum Tod.
Der Tyrann stirbt und seine Herrschaft ist vorbei. Der
KierkegaardDiese Märtyrerlogik ist für uns im Westen schwer nachzuvollziehen. Elior Levy, ein israelischer Journalist, bringt dieses Unverständnis auf den Punkt: „Die Dokumentation, die wir sehen, ist nicht das, was die Leute von Hamas oder des Hisbollah sehen (…). Es muss gesagt werden: Es fällt uns – als Israelis – schwer, die Hamas zu verstehen.“ Mit fatalen Folgen: Wie soll man einen Feind besiegen, wenn man ihn nicht kennt?
Kierkegaard, ein christlicher Philosoph, hat dieses Konzept des Märtyrertums aus christlicher Perspektive analysiert. Er schreibt: „Der Tyrann stirbt und seine Herrschaft ist vorbei. Der Märtyrer stirbt und seine Herrschaft beginnt.“
Dieser Märtyrerkult, der in vielen islamischen Kulturen tief verwurzelt ist, führt im Krieg zu einer eigentümlichen Logik. Wenn muslimische Kämpfer den Gegner treffen, fühlen sie sich stark. Wenn sie selbst getroffen werden, fühlen sie sich noch stärker – zumindest moralisch. Der Opfer-Status begründet ihren Heldenruhm, der Märtyrertod unendliche Belohnungen im Jenseits. Der Tod ist keine Abschreckung mehr, sondern eine Verlockung.
Die Folge ist, dass keine militärische Übermacht solche Menschen zwingen kann, aufzugeben. Ihre Niederlagen sehen sie als temporär an, ihr eigentliches Ziel ist langfristig angelegt: den Gegner schleichend und in einem unendlichen Krieg aufzureiben. „Ihr seid siegreich, weil ihr das Martyrium willkommen heißt“, sagte der iranische Revolutionsführer Ruhollah Khomeini zu seinen Anhängern im Iran. „Diejenigen, die Angst vor dem Martyrium und dem Tod haben, sind besiegt, auch wenn sie eine große Armee haben.“
Sinwar ist nicht der einzige „Märtyrer“. In den Wochen zuvor, am 27. September, war es Israel gelungen, auch den Anführer des Hisbollah im Libanon, Hassan Nasrallah zu töten. Auch das war auf den ersten Blick ein Sieg. Und auch hier war in der arabischen Öffentlichkeit eine seltsame Dynamik zu beobachten. Einige meiner Bekannte im Irak, die den Hisbollah wegen seiner Vermischung von Religion und Politik mit Skepsis betrachteten, teilten nun Bilder des getöteten Nasrallahs in den sozialen Medien und waren plötzlich voller Lobpreisungen für ihn. Erst der Märtyrertod gegen eine feindliche Übermacht hatte ihn in ihren Augen geadelt. Anstatt vor der militärischen Stärke Israels den Hut zu ziehen, galt ihre ganze Bewunderung ganz dem getöteten Hisbollah-Chef.
Während Israel und der Westen mit einer erstaunlichen Kurzsichtigkeit ihre militärischen Erfolge feiern, inspirieren Nasrallahs und Sinwars Märtyrertode schon jetzt zehntausende unterdrückte Palästinenser und sympathisierende Araber, ihrem Beispiel zu folgen – und meistens sind die Nachfolger noch radikaler. Diese Dynamik wiederholt sich im Nahen Osten seit Jahrzehnten. Sinwar und Nasrallah mögen tot sein, aber ihr politisches Projekt – der Hass auf Israel und der Islamismus – ist so lebendig wie nie. Kann man das noch als Sieg für Israel bezeichnen?
Egal wie stark Israel militärisch ist, Hamas und Hisbollah machen weiter. Jedenfalls solange die materiellen Bedingungen – die Unterstützung durch das iranische Regime – und die moralischen Bedingungen – Israels menschenfeindliche Besatzungspolitik – fortbestehen. Es wäre an der Zeit, diese Ursachen des Konflikts anzugehen, anstatt mit temporären Siegen und Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung das Monster des todessüchtigen Islamismus und Israelhasses zu füttern.
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