Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
Wenn Sie das nächste Mal in schweißgetränkter Bluse ihr ebenso schweißgetränktes Kind irgendwo im Nirgendwo eines Sommercamps aufsammeln, und im Auto die Tagesordnung fürs Meeting und den Einkaufszettel fürs Abendessen durchgehen, als Ihr Chef anruft, weil er die Präsentation nun doch schon für morgen braucht, und Sie sich leicht hyperventilierend fragen, wie zum Teufel alle anderen das nur hinkriegen, dann denken Sie bitte daran: Besser als Sie! Erhellende Erhebungen ergeben: Bei den anderen läuft’s bestens mit der Vereinbarkeit von Kindern, Karriere, Kümmern, Kontaktpflege, Kochen, Krafttraining und Kloputzen!
In der neuen Zeitschrift der Provinz „neus“, die ungefragt an alle Südtiroler Haushalte geliefert wurde, steht beispielsweise, dass in der Familienstudie 2021 „60 Prozent der Südtirolerinnen und Südtiroler zwischen 18 und 64 Jahren angeben, dass die Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben für Mütter machbar ist“. 60 Prozent! Ein familienpolitisches Eldorado, unser Südtirol! Also an der Vereinbarkeit kann’s dann ja wohl mal nicht liegen, dass wir immer noch Braindrain, Frachkräftemangel und Geburtenrückgang haben. Denn die Prozente übersetzt in Plattitüden sagen: Alles in Butter! Wenn bei Ihnen nicht alles in Butter ist, sind Sie folglich selbst dran schuld. Denn auch eine weitere Studie, die „Euregio-EWCS-Studie“ (durchgeführt von der Arbeiterkammer (Tirol), dem Arbeitsförderungsinstitut (Bozen) und der Agenzia del lavoro (Trient) findet: Nur 3% aller Befragten schwitzen zwischen Sandkasten und Schreibtisch und erklären, die Vereinbarkeit „gar nicht gut“ hinzukriegen. Ganze 86% finden aber alles supi mit Kind und Karriere!
Wenn bei Ihnen nicht alles in Butter ist, sind Sie folglich selbst dran schuld.
Und die Befragten müssen es immerhin wissen, denn die „Zielgruppe der Erhebung waren alle Personen von 15 bis 74 Jahren, welche in der Woche vor dem Befragungszeitpunkt mindestens eine Stunde Arbeit gegen Entgelt verrichtet haben.“ Ob sie auch mal eine Stunde ein eigenes (Klein)Kind zu ernähren und zu erziehen hatten, lässt sich den Daten nicht entnehmen. „Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben: Beschäftigte euregioweit zufrieden“ titelt u. a. „Südtirol News“ erfreut, die sich den Bericht wie die allermeisten nie so genau angeschaut hat, um zu präzisieren, dass „euregioweit“ konkret für Südtirol bedeutet, dass 537 Frauen zwischen 25-34 Jahren und 820 Frauen zwischen 35-44 Jahren befragt wurden – vielleicht mit, vielleicht ohne Kinder, vielleicht mit, vielleicht ohne Vollzeitjob, only God knows. Man muss eben nur die Richtigen befragen, dann kriegt man richtig gute Antworten! Hier noch ein paar Vorschläge, für weitere tolle Erhebungen mit tollen Ergebnissen kurz vor den tollen Wahlen: Man könnte etwa Südtiroler:innen zwischen 18 und 64 Jahren befragen, ob sie den Personalschlüssel in den Altersheimen, die Gehälter der Politiker:innen oder den Mensadienst im Sommerkindergarten supi finden. Das wären super Daten!
Schlampig samplen für schmeichelhafte Ergebnisse ist nur die halbe Miete, die andere Hälfte ist das Design des Fragebogens. Wie es gelingt, dass eine Erhebung nicht gelingt, machte eine weitere Erhebung der Provinz deutlich, die kürzlich an Südtiroler Eltern rausging. Immerhin wurden nun endlich mal die Richtigen befragt, aber man stellte ihnen die falschen Fragen. Schon a priori war klar, dass a posteriori rauskommen würde, dass alles wunderbar läuft und großes Kompliment an die Familienpolitik. Wenn rauskommt, dass es keine Probleme gibt, gibt’s dafür immer zwei Erklärungen: Entweder es gibt tatsächlich keine, oder sie wurden schlicht nicht erfasst. Und Nicht-Erfassen kann man entweder über Auslassungen oder über Items, die so missverständlich formuliert sind, dass sie zu unkontrollierten und verzerrten Ergebnissen führen.
Man könnte etwa Südtiroler:innen zwischen 18 und 64 Jahren befragen, ob sie den Personalschlüssel in den Altersheimen, die Gehälter der Politiker:innen oder den Mensadienst im Sommerkindergarten supi finden.
Wenn etwa die Mutter in Brixen bei „ganztags“ an 14:15 Uhr denkt (ja, das ist ernsthaft „ganztags“ in unserem Kindergarten, erzählen Sie das mal Ihren bundesdeutschen Freund:innen!), die Mutter in Bozen an 16:00 Uhr, weiß am Ende keiner, woran die jetzt dachten, als sie ihr Kreuzerl setzten. Insgesamt weiß man aber auch sonst nicht viel über die Erhebung, weil die zuständigen Politiker:innen in die Presseaussendung nur die paar schmeichelhaften Prozente zusammen mit der Aussage gepackt haben, dass eigentlich alles supi läuft, aber die detaillierten Ergebnisse, Zahlen und Analysen nicht einsehbar und nur für „interne Zwecke“ bestimmt sind. Tja.
Neben Lücken und Lapsus fällt der Fragebogen aber vor allem durch seine unskalierten Antwortoptionen auf, was deswegen bemerkenswert ist, weil es aufzeigt, dass den Verantwortlichen ganze zwei Optionen als Betreuungsmodelle eingefallen sind: „vormittags“ oder „ganztags“. Ansonsten gab’s noch die Option „keinen Bedarf“. Dass der tatsächliche Bedarf in der heutigen Arbeitsrealität für faktisch alle Eltern irgendwo in der flexiblen Mitte liegt und man eben nicht sein Kind kategorisch „vormittags“ oder „ganztags“ von Montag bis Freitag irgendwo unterbringen möchte, sondern montags mal bis 16:00 Uhr bräuchte, Dienstags und Mittwochs nur bis 14:00 Uhr und das Kind Donnerstags ganz zuhause lassen möchte, ist irgendwie noch nicht bis oben durchgesickert. Und dass neben der reinen Zeitabfrage vor allem die Qualität und der Inhalt der Betreuung eine entscheidende Rolle spielt, weil Eltern sich in der Regel lieber selbst eine schlechte Lebensqualität, als ihren Kindern eine schlechte Betreuung zumuten, darauf ist auch noch niemand gekommen.
Rund 18.000 Frauen sind aus Familiengründen nicht erwerbstätig und der große Rest der restlichen Eltern wurschtelt sich irgendwie mit Teilzeit durch und blendet die langfristigen Folgen der unbezahlten und nicht abgesicherten Carearbeit aus.
Diese offensichtlichen Probleme, die von einigen Elternvertretungen auch aufgezeigt wurden, wären spätestens beim Pretest aufgefallen, aber man machte keinen, weil musste halt alles schnell gehen und zweitens solle man nicht immer so undankbar sein als Mutter, schrieb eine der Mitarbeiterinnen der Studie bei den SUSIs. Soso, schnell, schnell. Ja, ja, in Zeiten, wo Bär und Guest Card die ganze Aufmerksamkeit beanspruchen, bleibt für Familienpolitisches halt nicht mehr viel übrig. Apropos nicht mehr viel übrigbleiben: Viele Frauen haben tatsächlich keinen Betreuungsbedarf und kein Problem mit der Vereinbarkeit! Sie haben nämlich im ersten Lebensjahr des Kindes „freiwillig“ gekündigt und deswegen jetzt kein Betreuungsproblem mehr, sondern nur ein Geldproblem. Rund 18.000 Frauen sind aus Familiengründen nicht erwerbstätig und der große Rest der restlichen Eltern wurschtelt sich irgendwie mit Teilzeit durch und blendet die langfristigen Folgen der unbezahlten und nicht abgesicherten Carearbeit aus. Und es sei hier nochmal unterstrichen: Eltern sollen auch nicht Voll- oder Teilzeit arbeiten müssen, sie sollen können, wenn sie wollen, und insgesamt eben die Wahl haben, weil sie für Carearbeit entlohnt werden!
Aber noch `ne gute Nachricht zum Schluss: Jährlich kommen 70.000 Kinder zwischen 3 und 15 Jahren in Sommerprojekten unter, lässt die Provinz offiziell verlauten! Und das ist bemerkenswert, weil das sind mehr Kinder, als wir in diesem Alter überhaupt in Südtirol haben! Ein Wunder! Wenn es nämlich im Schnitt 5100 Geburten pro Jahr in Südtirol gibt und wenn nicht noch tausende Kinder, die nicht hier geboren sind, auf mysteriöse Weise zuwandern und unsere Sommercamps unterwandern, dann gibt es Pi mal Daumen ungefähr 60.000-65.000 Kinder in Südtirol zwischen 3 und 15 Jahren. Selbst wenn alle Kinder geschlossen in die Sommerbetreuung gehen würden wäre die Zahl hochgradig hetzig, was aber niemanden aufzufallen scheint. Dass die Zahl überhaupt zustande kommt, liegt letztlich wohl daran, dass man dasselbe Kind zweimal, dreimal, viermal, fünfmal zählte, so oft es halt an einem Sommerprojekt (das manchmal nur ein paar Tage geht) teilnahm. Mein Söhnchen geht heuer beispielsweise für drei durch. Tja, für eine ausreichende Bewertung in Mathe würd’s nicht reichen, für eine hervorragende Note in Südtiroler Sozialpolitik langt’s!
Drei von vier Eltern mit 6-13-jährigen Kindern haben Schwierigkeiten in der Organisation der Kinderbetreuung.
Apropos Mathe, schaut man sich die eingangs erwähnte Familienstudie ein bisschen genauer an, wird sie zum guten Beispiel für schlechte Berichterstattung. Weil während die Wissenschaftler:innen – in diesem Fall die ASTAT – ordentliche Arbeit leisten und selbst oft auf Missstände hinweisen, verzerrt die Art und Weise, wie Ergebnisse von findigen Politiker:innen und faulen Journalist:innen selektiv kolportiert werden, häufig die Optik der Ergebnisse. Scrollt man im Studienbericht nämlich ein bisschen nach unten und fragt nicht die zwanzigjährige Studentin ohne Baby, sondern die teilzeitarbeitende Mami mit zwei Kindern, ist das Ergebnis beschämend. Drei von vier Eltern mit 6-13-jährigen Kindern haben Schwierigkeiten in der Organisation der Kinderbetreuung. Drei von vier bedeutet: eigentlich alle. Ohne Oma geht bei den meisten gar nix (71%), weit mehr als die Hälfte der Betroffenen wünscht sich mehr Betreuungsdienste für ihre Kinder und kommt mit dem aktuellen Angebot kaum über die Runden. So schlecht, dass ganze 18% wegen der unmöglichen Vereinbarkeit von Arbeit und Familie überhaupt keine (weiteren) Kinder mehr machen wollen und die, die trotzdem noch wollen würden, können leider nicht, weil sie keinen leistbaren Wohnraum finden. Passend dazu sinkt die Geburtenrate weiter und der Anteil der Ehepaare mit Kinder ist in den letzten drei Jahrzehnten von 46% auf 25% gesunken.
„Eine hochwertige, zugängliche und erschwingliche Kinderbetreuung ist für die Erwerbsbeteiligung von Frauen von entscheidender Bedeutung“, sagt die EU und hat 2022 die sogenannten „Barcelona-Ziele“ erhöht: 45 Prozent der Kinder unter drei Jahren sollten 2030 an frühkindlicher Betreuung, Bildung und Erziehung teilnehmen können, so die Empfehlung. Südtirol verfehlte schon das alte Ziel von 33 Prozent. Um belastbare Daten für diesen Missstand zu bekommen, bräuchte man noch nicht mal jemanden zu befragen, es würde tatsächlich reichen, die Anzahl der Kinder unter drei Jahren mit den verfügbaren Betreuungsplätzen und der weiblichen Arbeitslosen- und Teilzeitquote in Relation zu setzen. Und dabei halt mal richtig zu zählen.
Die Vereinbarkeit ist die größte Lüge der modernen Kleinfamilie, die keine Großfamilie und kein Dorf im Rücken hat, die keine finanzielle Absicherung fürs Kindergroßziehen kriegt und deswegen arbeiten gehen muss, aber für die – trotz Arbeitstätigkeit beider Elternteile – das Wohlstandsversprechen nicht mehr gilt.
Also lassen Sie sich nichts von vermeintlichen Studienergebnissen einreden, die komischerweise hierzulande bei sehr viel weniger verfügbaren Ressourcen und unendlichen Sommerferien anscheinend besser sein sollen als in Ländern und Regionen mit flexibleren Modellen. Das ist Humbug. Sie sind nicht allein mit dem Schweiß, dem Stress und dem Scheißgefühl, nix und niemanden mehr so richtig gerecht zu werden. Es geht allen so. Die Vereinbarkeit ist die größte Lüge der modernen Kleinfamilie, die keine Großfamilie und kein Dorf im Rücken hat, die keine finanzielle Absicherung fürs Kindergroßziehen kriegt und deswegen arbeiten gehen muss, aber für die – trotz Arbeitstätigkeit beider Elternteile – das Wohlstandsversprechen nicht mehr gilt.
Es gilt der Leistungsdruck, es gilt, dass nur Lohnarbeit, aber nicht Sorgearbeit, Hausarbeit und Muttersein zählt, und es gilt, so zu tun, als sei alles supi. Nix ist supi. Und nein, es liegt nicht an Ihnen und Ihrer Unfähigkeit, sich zu klonen, sondern an den strukturellen Rahmenbedingungen, der mangelnden Verfügbarkeit von Kinderbetreuungsstrukturen, der fehlenden Flexibilität der vorhandenen Strukturen und dem absolut dramatischen und skandalösen Vergütungsvakuum von Sorgearbeit. Und dass sich diese ganze Problematik zusammen mit ihren direkten und schwerwiegenden Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, der Abwanderung und der Überalterung der Gesellschaft einfach nicht in den Griff kriegen lässt, liegt am fehlenden politischen Verständnis dafür, den Bedarf der Eltern ehrlich zu erheben und endlich zu beheben.
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support