Sehr geehrte Damen und Herren der (Südtiroler) Medien, eine junge Frau, Celine Frei Matzohl, wurde ermordet. Der Schmerz der Angehörigen, der Freundinnen und Freunde ist für Außenstehende kaum zu erahnen. In diesen Momenten der Krise und des Verlusts haben die Medien die Gelegenheit, sich als konstruktive Kraft zu zeigen, die zur Sensibilisierung, Aufklärung und zur Prävention beiträgt. Leider passiert nach Femiziden regelmäßig das Gegenteil.
Wir appellieren daher an Ihre journalistische Integrität und bitten Sie, die Würde der Verstorbenen zu wahren und die Angehörigen zu schützen. Damit dies gelingen kann, bitten wir Sie, in der Berichterstattung folgende Punkte zu beherzigen:
- Richtiges Framing: Bitte achten Sie auf Ihre Wortwahl. Wenn Sie etwa von „Beziehungsdrama“, „Eifersuchtsdrama“ oder „Liebesdrama“ schreiben, machen Sie aus Femiziden schicksalshafte Einzelfälle, erzeugen Verständnis für den Täter und unterstellen „Liebe“, wo es sich um gezielte Tötungen aufgrund von Macht- und Kontrollverlust handelt.
- Die Alleinschuld trägt der Mörder: Berichterstattung, die implizit oder explizit den Opfern eine Teilschuld zuschreibt, ist nicht nur vollständig unangemessen, sondern sorgt auch dafür, dass andere Betroffene sich schämen und Gewalt nicht zur Anzeige bringen.
- Sprache schafft Realität: Sie schreiben keine Zusammenfassung eines True-Crime-Podcast, sondern über das Katastrophalste, was einem Menschen und seiner Familie zustoßen kann. Der Artikel 5-bis aus dem Berufskodex der Journalist*innenkammer verbietet voyeuristische Details, stereotype Aussagen, respektlose Sprache, spekulative Mutmaßungen und weist darauf hin, dass im Sinne und zum Schutz der Angehörigen berichtet werden soll.
- Say her name: Keine „Nummer 3“, keine „Nummer 71“ ist verstorben, sondern eine junge Frau namens Celine Frei Matzohl. Celine, die in ihrer Einzigartigkeit für immer unersetzbar bleiben wird. Es ist wichtig, auf strukturelle Zusammenhänge zu verweisen, aber es ist zentral, dabei nicht aus den Augen zu verlieren, dass hier eine Tochter, eine Schwester, eine Enkelin, eine Freundin, eine Kollegin ihr Leben lassen musste.
- Vor der eigenen Tür kehren: Femizide gibt es überall. In allen Kulturen und auch bei uns. Das wichtigste Merkmal, das sich alle Täter teilen, ist allein, dass sie nahestehend sind (64% Partner; 20% Ex; 8% Verwandte; 5% Bekannte; Täterprofil ASTAT 2019).
- Eure Leser von heute sind die Täter von morgen: Femizide sind zielgerichtete Tötungen, die in der Regel geplant und nicht Folge einer impulsiven Reaktion sind. Ihren Ursprung finden sie im subjektiven Erleben eines vermeintlichen Missstandes (z.B. die Frau will sich trennen), der in der Folge zu intensiven Gewaltfantasien und Gewalt führt. In der Berichterstattung dieser Umstände gelingt den wenigsten Medien eine sachlich-distanzierte Darstellung, im Gegenteil, es wird mit einer Flut aus Bildern und Texten über Täter und Tat berichtet. Bei Gewalttaten wie Amokläufen und auch geplanten Einzeltötungen ist diese multimediale Präsenz oft ein Kernziel der (narzisstischen) Täter. Schlimmer noch, mit täterzentrierter Berichterstattung wird nicht nur der Narzissmus des Mörders bedient, sondern bei der Zielgruppe instabil toxischer Männer kann eine solche Berichterstattung Einfluss auf das Entstehen von Nachahmungsgedanken und -taten haben. Auffällige Häufungen von Gewalttaten sind seit Langem bekannt, sei es bei Einzeltötungen, Amokläufen oder Suiziden. Es zeigte sich — und ist gewiss auch Ihnen bekannt —, dass die extensive, täter- und tatzentrierte Darstellung für Nachahmungstäter eine wichtige Rolle spielt. Eine sozial eingebettete Person mit ausreichend ausgebildeten Problemlösestrategien wird zwar kaum wegen undifferenzierter und voyeuristischer Berichterstattung die Nachahmung als Lösung eigener Probleme ansehen, doch die katastrophale Häufung von Femiziden zeigt, dass es offensichtlich VIEL ZU VIELE Männer mit nicht ausreichend ausgebildeten Problemlösestrategien gibt, die sich potenziell davon beeinflussen lassen. Lassen Sie uns bitte zusammenhalten und alles in unserer Macht stehende tun, um keine weiteren Täter zu „inspirieren“. Stellen wir dafür den Schutz der Opfer, der Angehörigen und die Würde der Personen in den Vordergrund.
- Geben wir ihm kein Gesicht: Diese Täter sind Abschaum. Ächten wir sie. Geben wir ihnen keinen Raum, der über sachliche, distanzierte, differenzierte Inhalte hinausgeht. Neben der Tatsache, dass Sie mit der Veröffentlichung von Täterfotos willfährig den Narzissmus des Mörders bedienen, verletzen Sie mit jedem veröffentlichtem Foto die Angehörigen, die wieder und wieder das Angesicht des Mörders sehen müssen. Bitte lassen Sie das. Das Gesicht des Mörders verdient den Platz in Ihrer Zeitung nicht.
- Kein Tätermaterial: Täterfantasien, die von ihm selbst auf den Socials veröffentlicht wurden, gehören ausschließlich in die Akten der Ermittelnden und nicht zur Veröffentlichung. Der Verzicht auf die Nutzung des vom Täter selbst angefertigten Materials, das er selbst in die Öffentlichkeit zu bringen suchte, ist bei sämtlichen Gewalttaten wichtig.
- Den Tathergang nicht aufzeigen: Das sollte sich von allein verstehen. Bitte hören Sie auf, detailliert von Tatwaffe(n) und den Verletzungen der Frauen zu berichten.
- Weiterdenken: Wenn Ihre Aufgabe das Aufdecken ist, dann haben Sie hier Potenzial, das weit über den Tatmoment hinausgeht: Welche Präventionsmaßnahmen gibt es in Südtirol? In Italien? Warum reichen sie nicht? Werden die Angehörigen nach der Tat unterstützt? Wie hat die Polizei reagiert? Wie werden die Angehörigen im Prozess behandelt, wie gut schützt das Justizsystem Frauen und ihre Familien?
- Lackmustest für Lackaffen: Einigen Politiker*innen ist nichts zu schäbig, um die eigene Agenda voranzubringen, insbesondere im Hinblick auf die bevorstehenden Landtagswahlen. Fehlt der politische Anstand, liegt es umso mehr in der Verantwortung der Medien, diesen Instrumentalisierungen keinen Raum zu geben. Drucken Sie politische Trittbrettfahrerei bei Femiziden bitte nicht ab! Am allerwenigsten von männlichen Politikern oder rechten Parteien, die sich ansonsten kein bisschen für Gleichberechtigung und Frauenrechte einsetzen (im Gegenteil!). Bitte lassen Sie sich und Ihre Zeitung nicht instrumentalisieren! Wenn Sie das Wort jemandem geben wollen, dann jenen, die sich mit dem Thema befassen und differenziert dazu Stellung nehmen können (z.B. Frauenhausdienste).
- Moderieren oder sperren: Bitte lassen Sie den Mob nicht unkontrolliert unter Ihren Artikeln kommentieren. Die Angehörigen und Freund*innen lesen das. Wenn Sie die Kommentare nicht moderieren können, sollten Sie die Kommentarfunktion nach Femiziden zum Schutz der Würde und der Familie ganz sperren.
- Schützen Sie die betroffene Familie: Der Kontrollverlust und Schmerz der betroffenen Familien ist unermesslich. Schützen Sie die Familie, respektieren Sie bitte ihre Privatsphäre und überfallen Sie sie nicht. Eine sanftere Art der Kontaktaufnahme kann über einen Brief, E-Mail oder über die Anwält*innen versucht werden. Der Wunsch, sich nicht zu äußern, ist zu respektieren.
- Heute Celine, für immer Gerechtigkeit: Celine Frei Matzohl ist ermordet worden. Niemals hätte das passieren dürfen. Heute geht es um Celine. Unsere Gedanken sind bei der Familie, unser aller Herzen sind schwer von Trauer, vom Schock und vom Entsetzen. Und von der Wut, der Angst und der Ohnmacht ob der Gewissheit, dass Celine nicht die Letzte sein wird. Zu viele Frauen müssen durch die Hand eines Mannes sterben. Helfen Sie in Ihrer Verantwortung als Medium mit, tun Sie alles, was in Ihrer Macht steht, um Frauen zu schützen. Nicht nur heute, nicht nur kurz nach einem Femizid, sondern immer. Nutzen Sie Ihre Reichweite, zeigen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst, achten Sie auf Ihre Inhalte, schulen Sie Ihre Mitarbeiter*innen, zeigen Sie sich kompromisslos gegenüber toxischer Männlichkeit und Gewaltbereitschaft, schaffen Sie Platz für Lösungsstrategien und mediale Schutzräume für Frauen.
Wir konnten Celine Frei Matzohl nicht vor ihrem Stalker schützen. Das Mindeste, das wir jetzt noch tun können, ist ihre Würde im Tod zu wahren, ihre Angehörigen zu schützen und dafür zu sorgen, dass der Täter keine Aufmerksamkeit, sondern seine Strafe bekommt — die dem Verlust niemals gerecht werden kann.
Bitte helfen Sie mit. Ihre Entscheidungen haben einen erheblichen Einfluss auf die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft Femizide verarbeitet, darauf reagiert und zu verhindern versucht.
Für die SUSIs,
Barbara Plagg
Anna Rauch
Heidi Flarer
Claudia Oberrauch
Cristina Murgia
‣ Weitere Informationen finden Sie im „FEM-UnitED-Projekt“: Leitlinien für Medienschaffende
‣ Zur Erinnerung, der Artikel 5-bis|Rispetto delle differenze di genere: Nei casi di femminicidio, violenza, molestie, discriminazioni e fatti di cronaca, che coinvolgono aspetti legati all’orientamento e all’identità sessuale, il giornalista: a) presta attenzione a evitare stereotipi di genere, espressioni e immagini lesive della dignità della persona; b) si attiene a un linguaggio rispettoso, corretto e consapevole. Si attiene all’essenzialità della notizia e alla continenza. Presta attenzione a non alimentare la spettacolarizzazione della violenza. Non usa espressioni, termini e immagini che sminuiscano la gravità del fatto commesso; c) assicura, valutato l’interesse pubblico alla notizia, una narrazione rispettosa anche dei familiari delle persone coinvolte.
Kleine Übersicht
- Keine vereinfachenden Erklärungen (z.B. „Liebesdrama“) und Motive (z.B. Eifersucht) anbieten.
- Auf die Wortwahl achten.
- Den verstorbenen Frauen keine Teilschuld geben.
- Weg vom Fokus auf Täter und Tathergang hin zu den Folgen der Tat, dem Schutz der Angehörigen, der Prävention von weiteren Femiziden.
- Keine voyeuristischen Details veröffentlichen.
- Keine spekulativen, mutmaßlichen Informationen veröffentlichen (Quellen und Relevanz prüfen, Nachahmungseffekt im Hinterkopf behalten).
- Ebenso wie bei Suiziden, Amokläufen und anderen Gewalttaten den Nachahmungseffektbedenken und sich stringent an die Regeln der Berichterstattung und den Artikel 5-bis halten, um dies zu verhindern.
- Auf die strukturellen Hintergründe von Femiziden verweisen, dabei aber nicht aus den Augen verlieren, dass es sich bei der Verstorbenen nicht um eine Zahl, eine Nummer, eine beliebige Frau handelt, sondern um eine Tochter, eine Enkelin, eine Schwester, eine Freundin, eine Arbeitskollegin, die in ihrer Einzigartigkeit unersetzbar ist und deren Verlust für die Angehörigen und Freundinnen unermesslich ist.
- KeineFotos vom Täter veröffentlichen (schon gar nicht neben Fotos der Verstorbenen).
- Auswege aufzeigen für Frauen (z.B. Kontakte und Möglichkeiten von Hilfsangebote).
- Auswege aufzeigen für Männer (z.B. Darstellung von spezifischen Hilfsangeboten und Geschichten von Menschen, die ihre Gewaltfantasien überwinden konnten)
- Konsequent und über das Jahr hindurch gegen Gewalt an Frauen und gegen die Bagatellisierung von Übergriffen berichten und für eine kompromisslose Ahndung und Bestrafung der Täter einstehen.
- Sich nicht politisch instrumentalisieren lassen.