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Eines vorweg: Geschlecht in diesem Text meint nicht das soziale (gender), sondern das biologische Geschlecht (sex); also nicht die Geschlechtsidentität, sondern nur das, was man unter dem Mikroskop sieht. Männer und Frauen benennt der Einfachheit halber ausnahmsweise das biologische Erscheinungsbild. Wie sich eine Person fühlt, welche Geschlechtsidentität sie hat und wie sie sozialisiert wurde, ist nicht von der Biologie vorgegeben. Aber das ist eine andere Geschichte.
Begeben wir uns also auf die Suche nach dem Unterschied zwischen Mann und Frau und beginnen bei unserem Erbgut. Was Männer von Frauen unterscheidet ist ein einziges ihrer 46 Chromosomen. Die meisten Frauen haben zwei X-Chromosomen, die – wie alle anderen 45 – aussehen wie ein X. Die meisten Männer haben statt einem zweiten X-Chromosom ein Y-Chromosom, das – mit etwas Fantasie – aussieht wie ein Y. Auf dem Y-Chromosom befindet sich ein Gen mit dem Namen SRY (sex-determining region of Y). Wird SRY eingeschaltet, was irgendwann zwischen der 6. und 8. Schwangerschaftswoche passiert, setzt es eine Kaskade in Gang, die zur Entwicklung aller männlichen Merkmale des Körpers führt.
Heraus kommt eine Person, deren äußere Merkmale weiblich sind, laut Chromosomen ist sie aber ein Mann.
So weit, so normal. Dieses System ist aber bei Weitem nicht perfekt. Es kann zum Beispiel vorkommen, dass sich das SRY-Gen aus Versehen nicht einschaltet oder defekt ist. Heraus kommt eine Person, deren äußere Merkmale weiblich sind, laut Chromosomen ist sie aber ein Mann. Auch umgekehrt kann es passieren, dass das SRY-Gen bei der Entwicklung der Eizelle zufällig auf das X-Chromosom überspringt und heraus kommt ein Mann mit zwei X-Chromosomen. Zusätzlich gibt es auch Menschen mit drei Geschlechtschromosomen YYX oder YXX, nur einem oder sogar drei X-Chromosomen.
Chromosomen bestimmen also nicht mit Sicherheit das Geschlecht. Deshalb gehen wir einen Schritt weiter. Die Gene, die das Geschlecht bestimmen, codieren (mit einigen Zwischenschritten) am Ende Geschlechtshormone. Hormone wirken im Körper als Signale und geben allen Zellen im Körper spezielle Anweisungen. Die Geschlechtshormone – Androgene für Männer, Östrogene für Frauen – sind für die Entwicklung der Geschlechtsmerkmale zuständig. Wenn der Körper zu wenig von ihnen produziert, können die betroffenen Personen genetisch und chromosomal ein eindeutiges Geschlecht haben, aber hormonell nicht binär sein und ein dementsprechendes Erscheinungsbild haben.
Hormonell sind sie also weder Männer noch Frauen. Hormone wirken aber noch viel komplexer: In uns allen gibt es sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtshormone, die unterschiedliche Funktionen ausüben. Testosteron zum Beispiel ist bei Männern und Frauen wichtig für den Stoffwechsel, das Immunsystem und die Psyche. Wie hoch die Level der einzelnen Hormone in einer Person sind, ist aber sehr individuell und verläuft häufig nicht entlang der binären Geschlechtsgrenze. Manche Frauen haben einen höheren Testosteronspiegel als manche Männer und manche Männer haben einen höheren Östrogenspiegel als manche Frauen – ohne dass man es von außen sieht. Das Zwischenspiel von Hormonen, Zellen und Genen ist so komplex, dass es noch lange nicht vollständig verstanden ist; und es ist vor allem so individuell, dass man keine zwei Menschen mit dem gleichen Profil findet.
Intersex-Personen und deren Eltern wurden und werden leider oft sehr früh im Leben dazu gedrängt, ohne medizinischen Grund
Die Hormone bestimmen also auch nicht unser Geschlecht. Jetzt könnte man sagen: „Ok, was im Inneren passiert, ist vielleicht kompliziert, aber zählt nicht nur das, was in der Hose ist?“ Das ist ebenfalls nicht so einfach, denn es gibt Menschen, die keine oder beide Geschlechtsmerkmale ihr Eigen nennen, sogenannte Intersex-Personen. Das kann sowohl genetische als auch hormonelle Ursachen haben. Intersex-Personen und deren Eltern wurden und werden leider oft sehr früh im Leben dazu gedrängt, ohne medizinischen Grund ein Geschlecht „auszuwählen“ mit oft gravierenden Folgen für das weitere Leben der Betroffenen.
Je tiefer man in die Materie eintaucht, desto komplexer wird das biologische Geschlecht. Aber was bedeutet das für jede:n einzelne:n? Ohne es zu wissen könnte jede:r irgendwo in diesem Spektrum liegen. Vielleicht bin ich, die ich mich als Frau identifiziere, chromosomal ein Mann, weil mein SRY Gen defekt ist? Vielleicht ist Ihr Androgen-Rezeptor defekt und Sie haben trotz hohem Testosteronlevel und XY-Chromosom alle äußeren Merkmale einer Frau und können sogar Kinder bekommen? Oder vielleicht fühlen Sie sich keinem Geschlecht zugehörig und haben einen niedrigen Testosteron- oder Östrogenspiegel? Weltweit fallen etwa zwei bis drei Prozent aller Menschen in dieses Spektrum zwischen Mann und Frau, das sind in etwa gleich viele, wie Menschen mit roten Haaren. Das biologische Geschlecht ist nicht so sehr ein Spektrum wie das soziale, aber Menschen, die biologisch nicht in eine der beiden klassischen Kategorien fallen, sind auch keine vernachlässigbare Minderheit.
Es ist schon cool, dass auch bei so etwas Fundamentalem wie das Geschlecht die komplexe Maschinerie des Körpers und die Evolution mehr Raum lassen als nur zwei starre, monolithische Blöcke. Bevor man mit dem biologischen Geschlecht (sex) argumentiert, um das sozial konstruierte Geschlecht (gender) zu negieren, sei es manchen Kulturkrieger:innen geraten, ein Biologiebuch aufzuschlagen. Und bevor man nicht verstanden hat, dass die Realität manchmal komplexer ist als Mandele und Weibele, sollte man es sich zweimal überlegen, bevor man Menschen aufgrund ihres biologischen oder selbst gewählten Geschlechts diskriminiert.
Deep Dive
Podcast: Radiolab Presents: Gonads
Artikel: Sex Redefined: The Idea of 2 Sexes is Overly Simplistic
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