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Schlaflose Nacht, nervenaufreibende Nervosität und ein Magen, der sich vor Aufregung fast umdreht. Was der Schriftsteller Karl Ove Knausgård mit solchen Symptomen beschreibt, ist nicht der Gemütszustand eines Soldaten vor dem Einlaufen ins Schlachtfeld. Was der norwegische Autor so charakterisiert, sind die eigenen Gefühle, kurz vor seinem ersten Unterrichtstag. Knausgård ist erst 18 Jahre alt, als er in ein nordnorwegisches Kaff geht, um Schüler zu unterrichten, die nur wenige Jahre jünger sind als er. Es geht ihm dabei nicht ums Unterrichten. Was er eigentlich will, ist nur etwas Geld, um nach einem Jahr seine große Reise in die Welt unternehmen zu können. Seine erste Unterrichtsstunde läuft wider Erwarten ganz gut, doch nach dem ersten Gefühl des Jubels findet Knausgård zurück in die Realität: „Verfluchter Mist, ich war Lehrer, gab es etwas Traurigeres?“ ̶ So schreibt Knausgård in seiner Autobiographie „Leben“.
Als ich im Januar dieses Jahres an einem humanistischen Gymnasium zu unterrichten anfing, ging es mir ähnlich. „Was zum Teufel soll ich eine Stunde lang reden?“, schoss es mir durch den Kopf. Wenn man dazu noch jemand ist, der Lakonie hochhält, lieber schreibt als redet und den roten Faden beim Vortragen gewöhnlich schon nach drei Minuten verliert, dann wird die Frage, was man vor den Schülern eine Stunde lang reden soll, ohne wie ein Hochstapler zu wirken, noch drängender. Dabei hatte ich noch Glück: Ich sollte bis zum Schulende Philosophie unterrichten, also ein Fach, in dem man die Diskussion gern mal abgeben kann; wo es mehr um Dialog geht als um Frontalunterricht.
„Es gibt wichtigere Dinge, die man nicht unterrichten kann. Selbsterkenntnis zum Beispiel. Politisches Bewusstsein. Mündigkeit.”
Doch der eigentliche Grund, warum es ein Glück war, gerade dieses Fach zu unterrichten, wurde mir erst gegen Ende meiner Lehrerzeit klar, zu einem Zeitpunkt, als das lange Reden schon zu harmloser Gewohnheit und das Vorbereiten der Stunden zu täglicher Routine geworden war. Philosophie gehört zu den Fächern, die einem am deutlichsten zeigen, worum es beim Unterrichten geht. Wahrscheinlich, weil es ein Fach ist, dessen Gegenstand man nicht im wahrsten Sinne des Wortes unterrichten bzw. beibringen kann. Sofern man von Philosophiegeschichte spricht, geht es noch um abfragbares Wissen. Aber Philosophie ist etwas anderes. Der Begriff kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet „Liebe zur Weisheit“. Weisheit? Die Intellektuellen der Menschheitsgeschichte stritten über Jahrtausende darüber, was das bedeuten soll. Die glaubhafteste Definition gab in meinen Augen Bertolt Brecht: „Weise am Weisen ist die Haltung“, sagt er.
Eine Haltung gegenüber dem Leben, sich selbst, der Welt. Doch wie soll man eine Haltung oder eine Einstellung unterrichten können? Grundvoraussetzung für Weisheit ist Wissen. Man muss die Dinge auf jeden Fall kennen, um ihnen gegenüber eine Haltung entwickeln zu können. Der Lehrplan kann also nicht ganz weggelegt werden. Für mein Fach bedeutete das: Die Schüler müssen die verschiedenen Philosophen und ihre Lehren einigermaßen kennen, um eine eigene philosophische Haltung entwickeln zu können. Aber das ist nicht genug. Es gibt wichtigere Dinge, die man nicht unterrichten kann. Selbsterkenntnis zum Beispiel. Politisches Bewusstsein. Mündigkeit.
Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, jene Zeit, als die westliche Welt sich noch in wachstums-beförderter Unbekümmertheit wiegen konnte, ist vorbei. Wir leben jetzt in Zeiten, in denen kleinbürgerliches Dahinvegetieren zur fatalen Fahrlässigkeit wird. Wenige Stichworte genügen, um die Tragweite der Ereignisse, denen wir in den kommenden Jahren und Jahrzehnten beiwohnen werden, zu skizzieren: Millionen Perspektivlose, die plötzlich die Mittel haben, nach Europa, in das aus ihrer Sicht gesegnete Land, aufzubrechen. Eine Wirtschaft, die immer magerere Wachstumszahlen vorzuweisen hat und deswegen ein neues System erfordert, das auch ohne das bisherige Wunderheilmittel des Wachstums auskommt. Die Überbevölkerung, also bald über zehn Milliarden Menschen, von denen jeder einzelne ernährt werden muss. Der demographische Wandel. Der Klimawandel. Und eine Menschheit, die bereits nach sieben Monaten alle Ressourcen aufgebraucht hat, die die Erde innerhalb eines Jahres erneuern könnte.
Heute ist ein ganz bestimmter Lehrer-Typ gefragt
Kurz gefasst: Die Menschen, vor allem in unseren Breiten, haben auf Kredit gelebt. Irgendwann müssen Schulden aber zurückbezahlt werden. Und dass es mit der Schuldentilgung die jetzt heranwachsende Generation treffen wird, ist sehr wahrscheinlich. Zugegeben, das klingt nach pessimistischer Schwarzmalerei. Leider ist diese Schwarzmalerei nur eine Anerkennung der Fakten. Doch gepaart mit dem Willen, der Zukunft handelnd und nicht unvorbereitet entgegenzutreten, wird diese Anerkennung der Fakten zum lebendigsten Optimismus. Die jungen Menschen von heute werden sich entscheiden müssen: Mauern aufbauen, um die Flüchtenden draußen zu halten; im Supermarkt weiterhin das billigste Produkt kaufen; die Wahlstimme an denjenigen mit den verlockendsten Versprechen geben. Oder solidarisch werden und handeln; anders konsumieren; die Wahlstimme an einen Unbequemen geben, der zuweilen auch lieber von Pflichten als von Wunschträumen spricht.
„Ob der Mensch hinterm Pult ein Junglehrer oder ein Altlehrer ist, ist keine Frage des Alters.”
Doch wer in der Schule nur Latein-Vokabeln und chemischen Formeln begegnet, ohne je über einen größeren Kontext nachgedacht zu haben, wird es schwer haben, den Anforderungen der Zeit und des eigenen Lebens gerecht zu werden. Deswegen ist es heute ein ganz bestimmter Lehrer-Typ, der gefragt ist: Ich würde ihn den „Junglehrer“ nennen. Kein Alteingesessener, der nach bewährter Routine seinen Zöglingen ein Bücher-Wissen einpflanzt. Sondern jemand, der sich der Zukunft und ihrer Herausforderungen bewusst ist und den Unterricht auch nach diesem Bewusstsein gestaltet.
Ob der Mensch hinterm Pult ein Junglehrer oder ein Altlehrer ist, ist keine Frage des Alters. Vielmehr eine Frage der Einstellung – oder der Haltung, wie Brecht sagen würde. Entscheidend ist, ob man die Zukunft vor Augen hat, das Leben – oder nur einen verstaubten Lehrplan. Als ich einmal Flüchtlingshelfer in die Klasse einlud, da sagte einer meiner Lehrerkollegen zu mir: „Jetzt lass endlich dieses Weltretten. Die ganze Mühe kannst du dir doch sparen“. Da war mir klar, dass es sich bei dem Kollegen zweifellos um einen Altlehrer handelte. Auch wenn das Haar um seine Schläfen noch nicht ergraut war.
Der Südtiroler Schriftsteller Norbert C. Kaser nannte das Unterrichten „Kinderformen“. Er hatte nicht unrecht. Man kann bei den Menschen in diesem Alter viel bewegen. Dementsprechend groß sind die Verantwortung und die Gefahr, die Kinder zu ver-formen. Und das wäre heute mehr denn je fatal.
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