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Jetzt geht es nicht mehr um gute Organisation und Logistik, jetzt geht es darum, „einen Kulturkampf“, eine battaglia culturale, zu gewinnen. – Die Worte, die Landeshauptmann Arno Kompatscher im Interview mit dem Corriere della Sera bedient, sind martialisch. Einen Kulturkampf zwischen wem? Den Impfgegnern und den Impfbefürwortern? Falls das die Fronten sind, geht es längst nicht mehr darum, die Impfgegner zu bekehren. Gewinnen, das würde bedeuten, die Unentschiedenen zu überzeugen, erklärt der Landeshauptmann.
Auf dem Spiel steht vielleicht der kommende Winter oder, wenn sich die Delta-Variante weiterhin so aggressiv ausbreitet, vielleicht auch der Sommer. Bislang haben in Südtirol nur knapp die Hälfte der Impfberechtigten (49,3 Prozent) mindestens eine Dosis erhalten, ein knappes Drittel (31,8 Prozent) genießt den vollständigen Impfschutz. Damit bildet Südtirol im Vergleich zum nationalen Durchschnitt (55 Prozent mit Erstimpfung) das italienweite Schlusslicht. Und das ist ein Problem, denn wenn die Hälfte der Bevölkerung geimpft ist, reicht das noch bei weitem nicht, um zumindest annähernd eine Herdenimmunität herzustellen und eine neue Infektionswelle mit Überlastung des Sanitätssystems zu verhindern.
Dabei sah es bis vor einem Monat noch ganz gut aus. Ende Mai meldete die Sabes stolz, die 300.000ste Dosis sei soeben verabreicht worden. Mit regelrechten „Astra-Zeneca-Partys“ wurde überschüssiger Impfstoff auch für junge Leute attraktiv gemacht, die Aktion war ein großer Erfolg. Ab Anfang Juni brachen die täglichen Neuimpfungen im Vergleich zum nationalen Durchschnitt plötzlich stark ein. Und das liege laut Kompatscher nicht an mangelnder Organisation, sondern zunehmend am Unwillen der restlichen Bevölkerung, sich impfen zu lassen.
Damit wird ein Problem sichtbar, das die Politik bislang unterschätzt hat: die traditionell starke Impfgegnerschaft in der Südtiroler Bevölkerung, oder genauer: in der deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler Bevölkerung. Schon im Jahr 2017 zeigte eine Studie zur Einstellung Südtiroler Eltern zu den Pflichtimpfungen für Kinder den eklatanten Mentalitätsunterschied zwischen italienischsprachigen und deutsch- bzw- ladinischsprachigen Südtirolern und Südtirolerinnen. Während der Anteil der Skeptiker und Skeptikerinnen unter den italienischsprachigen Befragten 15 Prozent betrug – was im Vergleich zu anderen EU-Ländern wie Deutschland (10,5 Prozent) ohnehin schon hoch ist – betrug der Anteil unter den deutsch- und ladinischsprachigen Befragten beachtliche 35 Prozent.
Dass die Impfskeptiker ihren Ansichten auch Taten folgen lassen, zeigt die Studie ebenfalls. Von den Skeptikern und Skeptikerinnen ließen nur 25 Prozent ihre Kinder mit allen gesetzlich vorgeschriebenen Impfungen versehen. Unter den Impfbefürwortern waren es hingegen mindestens 90 Prozent. Dieselbe Reaktion – der Boykott – ist nun auch bei der Corona-Impfung zu beobachten.
Woher diese Verweigerungshaltung gerade unter deutsch- und ladinischsprachigen Südtirolern und Südtirolerinnen stammt, ist ein Rätsel. Dass eine trotzige Bergvolkmentalität dahintersteckt, darf aber zumindest vermutet werden. Schon zu Beginn der Pandemie äußerte sie sich in Stammtischsprüchen, die zwar nicht in offiziellen Statistiken, in der subjektiven Wahrnehmung des Verfassers aber immer wieder registriert wurden: „Schaug mi un: 90 Kilogramm Muskelkroft. Und vor so an Virus-Kackerle soll i Ongst hoben? I hon schun gonz ondre her ghob.“
Zur Verharmlosung des Virus und der falsch verstandenen Männlichkeit kommt in Südtirol – vor allem in ländlichen Gebieten – eine ausgeprägte Wissenschaftsfeindlichkeit hinzu. Die äußert sich nicht nur in abfälligen Äußerungen gegenüber den „weltfremden Studierten“, sondern eben auch in der Missachtung wissenschaftlicher Empfehlungen und geprüfter Fakten rund ums Impfen. Dann kapriziert man sich auf die wenigen Fälle, in denen es bei einer Impfung zu Komplikationen kam, und übersieht die Toten und Langzeitkranken, die das Virus selbst gefordert hat.
Aber auch die spezifische Geschichte der deutsch-ladinischen Minderheit könnte eine Rolle spielen. Durch die faschistische Unterdrückungserfahrung besteht hier eine zum Teil tief verankerte Skepsis gegenüber allen Vorgaben, die von oben kommen, vor allem seitens des italienischen Zentralstaats, dem man es einfach nicht zutraut, vernünftige Maßnahmen zu ergreifen.
Die Frage, was man gegen dieses spezifische Südtiroler Problem tun kann – oder mit Kompatschers Worten: wie man diesen Kulturkampf gewinnen kann – wurde bereits in der Studie zur Einstellung der Südtiroler Eltern zu den Pflichtimpfungen aufgeworfen. Jetzt, vier Jahre später und mitten in einer Pandemie, stellt sie sich umso mehr.
Unter allen Befragten, ob Impfskeptiker oder Impfbefürworter, herrschte eine große Unzufriedenheit mit der Aufklärungsarbeit zum Thema Impfungen.
Die Südtiroler Landesregierung setzt als Antwort weniger auf Argumente und vielmehr auf eine Strategie der Sanktionen. Wer sich nicht impfen lässt, bleibt, sofern er oder sie sich nicht regelmäßig testen lässt, vom öffentlichen Leben weitgehend ausgeschlossen. Das soll zumindest die Unentschlossenen dazu bewegen, sich bald impfen zu lassen und das lästige Testen endlich loszuwerden. Andere Länder greifen zudem zu Belohnungen, um ihren Bürgern und Bürgerinnen den Impftermin schmackhaft zu machen, Griechenland etwa will junge Impfwillige zwischen 18 und 25 Jahren mit einem Gutschein zu 150 Euro vergüten.
All diese Maßnahmen dürften dafür geeignet sein, um jene jungen Menschen, die keine Angst vor der Impfung, aber auch nicht vor Corona haben, zu einer Impfung zu bewegen. Aber was ist mit den echten Impfskeptiker und -skeptikerinnen? Lassen sie sich durch ein System von Strafe und Belohnung disziplinieren?
In der Studie von 2017 wurde nicht nur der Anteil der Impfskeptiker an der Südtiroler Elternschaft erhoben, sondern auch um eine Einschätzung der Aufklärungsarbeit durch das Gesundheitswesen gebeten. Dabei zeigte sich unter allen Befragten, ob Impfskeptiker oder Impfbefürworter, eine große Unzufriedenheit mit der Informationsarbeit zum Thema Impfungen. Unter allen Gruppen der befragten Eltern fühlte sich ein erheblicher Teil (35-45%) wenig bis gar nicht über die Vor- und Nachteile von Kinderimpfungen informiert. Bei der Corona-Impfung verhält es sich wohl ähnlich. Und wahrscheinlich ist genau das der Punkt, wo die Anstrengungen in diesem sogenannten „Kulturkampf“ ansetzen sollten.
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