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Es fällt mir schwer, die letzten Stunden der Geburt genau zu rekonstruieren. Irgendwie ist es so, als hätte ich in dieser Zeit neben mir gestanden, als hätte eine andere Macht die Herrschaft über meinen Körper übernommen und mich kurzerhand ausgeladen. So als hätte ich die folgenden Szenen von außen beobachtet. Die Stimmung in unserer Wohnküche ist sehr ruhig und irgendwie voller positiver Spannung, als ich zwischen einer Wehe und der nächsten Dampf ablassen muss: „Verdammt, ich kann wirklich niemandem erzählen, wie krass eine Geburt wirklich ist!“ In immer kürzer werdenden Abständen holen mich die Wehen mittlerweile ein und zwingen mich dazu, in den kurzen Pausen mit geschlossenen Augen, gesenktem Kopf und tiefen Atemzügen meine letzte Kraft zu mobilisieren. Zum Glück ermutigt mich Astrid jetzt doch mal nach dem Köpfchen zu greifen. Und dann fühle ich zum ersten Mal die weiche Kopfhaut von Herzmensch.
Ein Energiekick durchzieht meinen ganzen Körper. Ich weiß, dass das Ende nun wirklich in greifbarer Nähe ist und ungeahnte Restkräfte scheinen in meinem Körper zu erwachen. Alles, was ich will, ist Herzmensch in meinen Armen zu halten und dieser Tortur endlich ein Ende zu setzen. Ich bin so fokussiert wie selten in meinem Leben und folge ganz genau den Anweisungen von Astrid. Meine Hand halte ich ganz behutsam über dem Köpfchen und plötzlich fühle ich ein Büschel Haare. Ich muss laut auflachen. „Da sind Haare“, schreie ich kurz vor der nächsten Wehe und Jakob muss grinsen. Dann zieht sich mein ganzer Körper schon wieder zusammen. Ohne dass ich es will, schiebt sich der Kopf von alleine nach draußen und drückt mit voller Wucht gegen meinen Damm. Das fühlt sich in etwas so an, als würde es mich von innen zerreißen. Obwohl ich bisher gedacht habe, dass schreiende Gebärende eine völlig übertriebene Darstellung sind, liege ich nun selbst da und gröle wie ein Tenor vor mich hin.
Plötzlich zu dritt
Mit der nächsten Wehe scheint das Köpfchen schon fast draußen zu sein, da rutscht es wieder nach hinten. „Oh nein, Astrid, der Kopf ist wieder reingerutscht!“, schreie ich schockiert und Astrid beruhigt mich. Das diene lediglich der Vorbereitung des Gewebes. Komm schon Herzmensch, ich kann nicht mehr, denke ich, und schon überkommt mich die nächste Wehe. Alles geht ganz schnell und fühlt sich nun so an wie im Zeitraffer. Noch vier Mal schiebt sich der Kopf immer wieder raus und rein. Ich spüre durch meine Haut bereits die volle Größe dieses Sturschädels und frage mich, wie zum Teufel der da unten rauskommen soll. Die nächste Wehe zeigt es mir. Ich versuche so tief wie möglich auszuatmen und nicht zu pressen, da zieht sich mein ganzer Körper zusammen und mit einem Ruck ist der Kopf zwischen meinen Beinen zu spüren. „Ich sehe den Kopf, komm schon Schatz, du schaffst das“, meint Jakob und bringt sich in Position, um Herzmensch in seinen Händen zu empfangen. Dann fühle ich, wie sich der kleine Körper ganz langsam in mir dreht und die nächste Wehe sich anbahnt. Um zu beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn der Körper eines Kindes aus einem herausschießt, fehlen mir die Worte. Und von nun an fehlen mir irgendwie auch die zusammenhängenden Szenen.
„Ich schwebe auf Wolke sieben und habe nur noch Augen für diesen kleinen Menschen.”
In meinem Kopf kann ich nur noch einzelne Bilder rekonstruieren. Wie Jakob mir Herzmensch auf die Brust legt. Wie ich über diese dunkelbraunen Haare streiche und mich dieses perfekte, kleine Menschchen mit seinen blauen Augen das erste Mal anblinzelt. Ein Moment, der so surreal scheint, so voll von Emotionen, dass man ihn kaum zu beschreiben vermag. Und dann sagt Jakob plötzlich ganz überrascht: „Oh, i sig a Pimperle.“ Es ist ein kleiner Junge, der hier nach fast 24 Stunden Geburt um 23.38 Uhr nun seelenruhig in meinen Armen liegt und mich in einem Wimpernschlag zu einer Mama gemacht hat. Wenn ich Jakob kurz vorher noch geschworen habe, dass das unser erstes und letztes Kind sein wird, habe ich nun schon allen Schmerz und alles Leid der letzten zehn Monate und vor allem der letzten 24 Stunden vergessen. Ich schwebe auf Wolke sieben und habe nur noch Augen für diesen kleinen Menschen. Jakob und die Hebammen haben in der Zwischenzeit einen Weg aus Handtüchern zum Schlafzimmer vorbereitet und helfen mir behutsam aus der Wanne. Die ersten Schritte mit Herzmensch auf meinem Arm und der Plazenta in meinem Bauch wandere ich in Richtung Bett. Alles fühlt sich so warm und kuschelig an. Die Hebammen ziehen sich zurück und lassen uns für einen Moment alleine. „Wir sind nun eine Familie“, meint Jakob, streicht Herzmensch über den Kopf und verdrückt ein paar Freudentränen, „unglaublich.“
Immer wieder eine Hausgeburt
Den kleinen Mann scheint die romantische Stimmung wenig zu scheren, er hat Hunger und lässt uns zum ersten Mal die volle Kraft seiner Stimme hören. Bis er es schafft, den Busen richtig in seinem Mund zu verstauen, dauert es ein wenig, doch der Lärm macht mir gar nichts aus. Ich bin einfach nur noch verzaubert von diesem kleinen Wesen. Ein letztes Mal muss ich jedoch noch die Zähne zusammenbeißen, als die Hebammen mir aus dem Bett helfen, um die Plazenta aus meinem Körper zu kriegen. Ein letztes Mal pressen in der Hocke und schon schwappt die blutige Nachgeburt aus mir heraus. Sofort fühle ich mich so leicht wie eine Feder und realisiere erst kurz später, dass Herzmensch und ich nach zehn Monaten Zweisamkeit nun das erste Mal wirklich getrennt sind. Astrid kontrolliert die Vollständigkeit des blutigen Batzens und erklärt mir gleichzeitig die Zusammensetzung des sogenannten Mutterkuchens. Weil die Nabelschnur noch warm ist und leicht pulsiert, bleibt sie an Herzmensch dran. So kann er die letzten darin enthaltenen Nährstoffe in aller Ruhe auch noch in sich aufnehmen. Während Jakob in der Zweisamkeit mit dem Kleinen realisiert, dass er Vater geworden ist, wandere ich mit Astrid langsam in Richtung Dusche, um mir die harte Arbeit des vergangenen Tages vom Leib zu waschen und bin erstaunt darüber, wie fit ich mich schon wieder fühle. Dann wird Herzmensch gewogen, vermessen und von Jakob durch einen präzisen Schnitt von seinem Mutterkuchen getrennt. Trotz Knoten in der Nabelschnur schafft er es auf fast 3,8 Kilogramm und stolze 52 Zentimeter Länge. Seine neun Zentimeter langen Füße hat er vermutlich von mir. Die Hebammen wirken am Ende der Geburt so erschöpft und glücklich wie ich und ziehen sich zum Aufräumen zurück. Jakob und ich bleiben eng gekuschelt im Bett liegen, bestaunen unseren kleinen Herzmenschen und sind sprachlos. Wie kann so ein perfektes Wesen nur in einem heranwachsen, ohne dass man etwas dafür tun muss? Und wie kann es gesund und munter aus mir herauskommen? Einfach unglaublich! Die Hausgeburt ist eine Erfahrung in meinem Leben, die ich niemals missen möchte. Entgegen all der Zweifel unserer verängstigten Mitmenschen haben Jakob und ich dieses Abenteuer gemeinsam mit unseren Hebammen gewagt.
„Und Herzmensch konnte seinen Weg in diese Welt auf die natürlichste Weise, die es gibt, beschreiten.”
Keine einzige Sekunde habe ich daran gezweifelt, dass alles gut gehen wird. Schließlich hätte ich meinen kleinen Sohn nirgendwo sonst lieber auf die Welt gebracht als in meinem Zuhause. Dem Ort, an dem ich mich sicher und geborgen fühle und in völligem Vertrauen in jeder Situation entspannt loslassen kann. Hier konnte jeder Abschnitt dieser Geburt die Zeit einnehmen, die er braucht, um zu reifen. Unterstützt von geduldigen und liebevollen Menschen, die wahnsinnig feinfühlig jeden Augenblick dieser Geburt richtig gedeutet und begleitet haben und das Vertrauen so noch einmal größer haben werden lassen. Und Herzmensch konnte seinen Weg in diese Welt auf die natürlichste Weise, die es gibt, beschreiten. In seinem Tempo, mit seinen Kräften, direkt in die Hände seines Vaters, direkt in sein Zuhause. Direkt in die Düfte, Bakterien, Viren und Geräusche, die er bereits seit vierzig Wochen durch meine Bauchdecke kennengelernt hat.
Willkommen zuhause, kleiner Schatz!
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