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Ich hörte ihre Geschichte zum ersten Mal noch zu Mittelschulzeiten, im Erdkundeunterricht. Unser Lehrer diktierte einen Text über die Prinzessin aus Nahost, die Europa hieß. Der Legende nach spielte sie eines Tages mit ihren Gefährtinnen am Strand, pflückte Blumen, und tänzelte und kicherte dabei wahrscheinlich herum, so wie es sich für holde Maiden eben ziemt. Dann bemerkte sie in einer Stierherde einen wunderschönen, weißen Stier. Das Tier war zutraulich, also wagte sich Europa näher an ihn heran, streichelte ihn und begann, seine Hörner mit Blumen zu schmücken. Dann wurde sie etwas übermütig und kletterte auf den Rücken des Stiers. Und der preschte plötzlich mit der Prinzessin auf dem Rücken in die Wellen des Mittelmeers und brachte sie nach Kreta, wo sie ihm drei Söhne gebar, einer davon war der spätere König Minos. Soweit die Legende, der ich im Geschichts- und Lateinunterricht am Gymnasium wieder begegnete.
Ich bin keine Expertin für griechische Mythologie und präsentiere hier auch keine neu entdeckte Geschichte der Allgemeinheit. Ich möchte an diesem Europatag nur dazu einladen, den Europa-Mythos neu zu entdecken und kritisch zu betrachten. Die Zeit scheint reif, weil Debatten über sexuellen Missbrauch und Ausbeutung einigermaßen im öffentlichen Diskurs angekommen zu sein scheinen.
Heute, Jahre nach den oben genannten Schulstunden, lese ich die Sage von Europa als eine Geschichte von männlichen Privilegien, Betrug, Entführung und sexueller Ausbeutung. Zeus hatte eine Gattin, Hera, die meistens als hysterisch-eifersüchtige-rachsüchtige alte Schachtel dargestellt wird. Den Oberpatriarchen gelüstete es aber regelmäßig nach Abwechslung und als Gott und Mann nahm er sich, was er wollte. Um Hera zu hintergehen oder um besser an seine Objekte der Begierde zu kommen, bedurfte es manchmal eines Tricks. So “erschien er Europa als Stier“. In anderen Worten: Er täuschte Europa absichtlich und gezielt, und verbarg sein wahres Wesen, um etwas ganz Bestimmtes von ihr zu bekommen.
Sie hat doch mitgemacht, es gefiel ihr doch, se l’è cercata!
Dass Europa sich dem Stier annäherte, ihn liebkoste und sich auf ihn setzte, wurde anscheinend von Zeus und den meisten von denen, die den Mythos überliefert haben, als Einverständnis gedeutet. So wie heute ein Küsschen oder Zwinkern, oder ein Lächeln (!) zu oft als Einverständnis zu jeglichen unlimitierten und allumfassenden sexuellen Handlungen interpretiert wird. Sie hat doch mitgemacht, es gefiel ihr doch, se l’è cercata! Ja, Europa fand den Stier süß, aber sie dachte eben, es wäre ein Stier. Abgesehen davon ist es keine Einwilligung zu einem Wellenritt übers Meer, zum Sex und zur Zeugung von Kindern auf einer fremden Insel, wenn man sich auf den Rücken eines Stiers setzt.
Wir können nicht wissen, ob Europa geschrien, um sich geschlagen oder Zeus getreten hat, nachdem sie verstanden hatte, was da vor sich ging. Und das ist auch gar nicht wichtig, denn auch Stille oder Passivität sind keine Zustimmung. Und dann, auf Kreta, wurde Europa wahrscheinlich vergewaltigt. Das Saftigste in der Geschichte wird ja manchmal übersprungen. „Er brachte sie auf die Insel Kreta und sie gebar ihm drei Söhne“. Dazwischen muss schon noch was anderes passiert sein. Einer Quelle nach passierte es unter einem immergrünen Baum. In einer Zusammenfassung des Mythos aus dem 21. Jahrhundert heißt es schon expliziter: „Sie hatte eine Affäre mit Zeus“. Zugegeben, vielleicht fand Europa den Zeus ja auch wirklich attraktiv, als er in seiner echten (?), jedenfalls in einer anderen Gestalt vor ihr stand, und vielleicht wollte sie dann auch wirklich Sex mit ihm haben. Aber das im Zweifelsfall einfach anzunehmen, wissend, welches patriarchalisch-sexistische Erbe wir seit der Antike mit uns herumtragen, das scheint mit nicht zu rechtfertigen zu sein. Vielleicht verlieben sich auch einige der Frauen in Kirgisistan, wo der Brautraub immer noch praktiziert wird, ja auch in ihre Entführer. Heißen wir diesen Brauch deshalb gut?
Als Zeus genug von Europa hatte, ließ er sie auf Kreta. Wer weiß schon, ob es ihr dort gefiel? Immerhin drei Abschiedsgeschenke bekam sie von ihm: einen immer treffenden Speer, den schnellsten Hund der Welt und einen Bronzemann, der täglich dreimal um die Insel lief, um Eindringlinge zu verjagen. Da scheinen großzügige Schweigeschecks von zeitgenössischen Triebtätern vielleicht sogar brauchbarer. Zum Glück fand Europa einen anderen Typen, der bereit war, sie zu heiraten, und ihre drei Söhne mit aufzunehmen. Das Sorgerecht und die Sorgepflicht gingen wohl damals wie heute quasi automatisch auf die Mutter über, die hat sowas ja im Blut als Frau.
„Die Entführung der Europa durch den Gott Zeus auf die Insel Kreta wurde in der Antike als eine friedliche Entführung verstanden.”
Über die Jahrhunderte wurde die Szene „Europa mit dem Stier“ immer wieder in der Kunst verewigt. Auf den meisten Abbildungen wird die Szene am Strand als unbeschwert, unschuldig oder glamourös dargestellt. Nach meiner Kenntnis gibt es keine Bilder vom späteren Leben der Europa, oder von einer verwirrten, verletzten verzweifelten Europa mit Heimweh. Tizians und Rembrandts „Raub der Europa“ sind zwei löbliche Ausnahmen und zeigen beide chaotische, dunkle Szenen mit einer erschrockenen und sich windenden Europa, sowie alarmierte zurückgelassene Gefährtinnen an der Küste.
Interessanterweise sind die Titel vieler Abbildungen schon etwas expliziter: Es ist die Rede von “Raub” und “Entführung” auf Deutsch, “ratto” (Raub, Menschenraub) auf Italienisch oder “rape” (veraltet: Entführung, heute: Vergewaltigung) auf Englisch. Wobei „Raub“ auch problematisch ist, weil das Wort auf ein Objekt hinweist, einen Besitz, der jemandem weggenommen wird, statt einen Menschen.
Trotz der starken Ausdrücke in den Titeln einiger Werke scheint der Europa-Mythos kaum problematisiert zu werden. Ich erinnere mich nicht daran, als Schülerin im Unterricht auch nur ein kritisches Wort über die Legende gehört zu haben. Auch in vertrauenswürdigen, etablierten Quellen wie der Encyclopedia Britannica wird ein Gewaltakt nicht einmal angedeutet. Und es sträuben sich mir die Haare, wenn ich auf der Webseite der Konrad Adenauer-Stiftung, einer ehrbaren Institution, lesen muss, wie die Perspektive der Frau Europa vollständig unbeachtet bleibt wird, und der Geschichte sogar eine noble Moral angedichtet wird: „Die Entführung der Europa durch den Gott Zeus auf die Insel Kreta wurde [in der Antike] als eine friedliche Entführung verstanden. Also kein Konflikt, sondern eine Vereinigung zweier Kontinente. Somit wäre der Mythos vom „Raub der Europa“ als Vereinigung verschiedener Völker zu verstehen. […] mehr noch, im Mythos verbinden sich Himmel, Meer und Erde und die Götter mit den Menschen! Eine wunderbare Vorstellung.“ Eine wunderbare Vorstellung?
Mythen können uns viel über die Kultur sagen, der sie entstammen und in der sie zelebriert werden.
Nun könnte man natürlich fragen, wozu diese ganze Diskussion über verletzte Rechte und Gefühle jahrtausendealter Mythenfiguren eigentlich gut war? Es gibt schließlich – wie immer – so viele „wichtigere Dinge“, mit denen wir uns beschäftigen könnten, so wie Hunger, Krieg, Corona. Trotzdem verdienen auch andere Themen einen Teil unserer Aufmerksamkeit. Außerdem ist es irrelevant, ob es sich um einen Mythos oder ein historisches Ereignis handelt, oder wie lange eine Geschichte her ist. Bedeutende Geschichten werden nicht einfach aus der kollektiven Erinnerung gelöscht, und Mythen wachsen nicht auf Bäumen. Sie werden von Menschen gesponnen, übernommen, interpretiert und weitererzählt, und sie können uns viel über die Kultur sagen, der sie entstammen und in der sie zelebriert werden.
Und wenn wir Mythen als Kulturgut ehren und weiterhin von ihnen lernen wollen, dürfen wir sie nicht verstauben lassen. Wir müssen sie immer wieder neu beleuchten und hinterfragen. Dass der Europa-Mythos meist als eine nette Gründungsgeschichte gesehen wird, sagt uns etwa, dass sie von Männern geprägt wurde und eine weibliche Perspektive gar nicht beachtet wurde. Sehr lange scheint sich niemand gefragt zu haben, wie es der weiblichen Protagonistin wohl ging und was sie zu sagen gehabt hätte. Wie sollen wir eine weniger sexistische und gerechtere Gesellschaft schaffen, wenn wir den Mythos so dastehen lassen?
Eine “wunderbare Vorstellung” ist für mich, dass wir uns an diesem Europatag an die (unfreiwillige) Migrantin aus dem Nahen Osten erinnern, die über eine griechische Insel nach Europa kam. Und dass wir uns gut anschauen, was wir da in unserem Geschichtskulturkoffer genau mit uns mittragen.
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