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„Gibt es etwas in diesem Land, das wichtiger ist als Fußball?“, frage ich Jessica, das brasilianische Model, das an diesem letzten Februartag wie ich von Venedig nach São Paulo fliegt. Wie überflüssig diese Frage war, belehren mich die darauffolgenden Tage. Karneval, welch ein Ausnahmezustand! Vom Norden bis in den fast 5.000 Kilometer entfernten Süden, von den Metropolen bis zu den abgeschiedensten Dörfern gibt es in Brasilien zeitgleich nichts anderes, das zählt. Die Arbeit steht still. Und die Menschen tanzen.
Angekündigt wird dieses vier Tage dauernde Volksfest schon Wochen vorher durch eine zur Institution gewordene Figur, der Globeleza. Einen 30-Sekunden-Werbespot lang tanzt sich eine nackte Frau, den Körper mit grellen Farben bemalt, in die Wohnzimmer und Köpfe der Brasilianer, versetzt sie täglich mehrere Male in Karnevalsstimmung.
Sambatänzerinnen in Glitzerbikinis, hoffnungslos kitschig geschmückte Wagen und Trommelgeräusche sind Klänge und Bilder, die auch nach Europa dringen. Die Organisation und Ernsthaftigkeit, die hinter dem brasilianischen Karneval stecken, sind angesichts so viel Leichtigkeit schwer vorstellbar. In Rio de Janeiro und São Paulo sitzen die wichtigsten Sambaschulen, aber was heißt sitzen. Sie schwingen, schaukeln, schütteln ihren Körper das ganze Jahr über. Vor dem Karneval ist nach dem Karneval.
Jede Sambaschule wählt für ihre Präsentation ein Thema, das sie bis zur Perfektion durchzieht: im Tanz, im Lied, in den Kostümen, der Dekoration. Eine Jury verleiht Punkte für die einstündige Show, am Aschermittwoch verkündet sie die Siegerschule, live im Fernsehen und Radio. Und halb Brasilien schaut zu. Was also ist brasilianischer, Karneval oder Fußball? Zum Glück stellt hier niemand diese Frage, keiner der 192 Millionen Brasilianer muss sich entscheiden, jede Sambaschule unterstützt eine Fußballmannschaft, und wie im Fußball gilt auch für den Samba eine Einteilung in A- und B-Liga.
Die für mich wichtigere Frage lese ich in Stefan Zweigs „Brasilien. Land der Zukunft“. 1941 veröffentlicht, sind viele seiner Beobachtungen, mit wachen Augen und klarem Geist formuliert, immer noch gültig. „Ist es nicht Anmaßung, gleich auf den ersten Griff, mit nur einer mehrmonatlichen Reise ein Land, eine Welt kennen zu wollen, die sich selbst noch nicht einmal im Ausmaß kennt?“
Die nächsten 90 Tage werde ich Brasilien bereisen, in einer Zeit, die ereignis- und konfliktreicher nicht sein könnte. Nach 54 Jahren wird das lateinamerikanische Land wieder Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft sein. Aber die Proteste gegen die Spiele, die es in eine Schuldengrube stürzen wie so viele Länder vor ihm, häufen sich auch in der Fußballnation par excellence. Brasilien klettert seit Jahren beharrlich die Treppe hinauf, die es in den Club der Supermächte führen soll. Aber gleichzeitig ist die Selbstmordrate seiner Ureinwohner eine der höchsten der Welt, weil das Land, das sie über so viele Jahre bewirtschafteten, für Zuckerrohr- und Sojaplantagen, Brasiliens Topexportgüter, gebraucht wird. Seit Wochen füllen Favela-Jugendliche die Nachrichten, weil sie ihr Recht auf Gleichberechtigung fordern. Aber ihr oberstes Ziel, vor dem sie sich zu Tausenden versammeln, sind keine Universitäten, sondern Shoppingcenter.
Brasilien, dieses Monster, dieses Wunder. Der Blick auf die Landkarte flößt Angst ein, aber noch mehr regt er an. Und zuweilen transformiert er sich in eine Energie, die förmlich schreit: Raus aus der Komfortzone, hinein ins Abenteuer.
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