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Vor einiger Zeit stand ich in Zernez am Bahnhof und machte die folgende Beobachtung: Ein gelangweilt aussehender Mann mittleren Alters sah die Rhätische Bahn herankommen, sprang an den Bahnsteigrand, zückte sein Smartphone, hielt es sich mit dem gestreckten Arm vors Gesicht, verzog seinen Mund zu einem schnellen, zähnezeigenden Lächeln, knipste, ließ den Arm wieder sinken und sah dann wieder genauso gelangweilt aus wie zuvor.
Mir war natürlich klar, was da geschehen war. Als Tourist im Engadin wollte er ein Foto von sich und der bekannten „kleinen Roten“ schießen, um es in den sozialen Netzwerken zu posten, das eine oder andere Herzchen oder „Daumen hoch“ einzuheimsen oder ganz einfach, um ein Erinnerungsbild zu haben. Dennoch: Dieser Moment, in dem sein schlaffes, gelangweiltes Gesicht sich zu dem raschen Lächeln verzog, wirkte auf mich grotesk und geradezu verstörend. Irgendetwas stimmte nicht. Nur: was?
Ich merkte, dass es mit ein paar oberflächlichen Gedanken nicht getan war. Dabei wären solche massenhaft zur Verfügung gestanden. Das Phänomen des Selfie-Machens ist ja kein neues mehr, ganz im Gegenteil, es ist schon sehr viel darüber gesagt und geschrieben worden. Der Selfie-Stick gilt als ultimatives Attribut unserer narzisstischen Gesellschaft, die sich allüberall in Szene setzt. Wir wissen, was wir davon zu halten haben.
Ich hätte also eine Augenbraue heben und mir denken können: „Och, schon wieder so ein selbstverliebter Trottel, der sich für so wichtig hält, dass er jeden noch so nichtigen Moment seines leeren Lebens festhalten und ins Netz kotzen muss.“ Damit hätte ich ziemlich genau den Ton getroffen, der ansonsten im Bezug auf Selfies vorherrscht.
Irgendwie tat mir der Mann mit dem RhB-Selfie aber leid. Er tat mir leid, weil er da alleine am Bahnsteig stand und diesen Moment des Einfahrens der kleinen Roten doch so gerne mit anderen teilen wollte. Und ihm dabei nichts anderes übrig blieb, als sich selbst zu fotografieren. Narzisstisch? Eher tragisch. Niemanden zu haben, der einen in den wichtigen Momenten fotografiert, zeugt doch von großer Einsamkeit und Verlorenheit. Wie schön ist es, in alten Fotoalben der eigenen Kindheit zu blättern und all die Fotos zu sehen, die von den Eltern oder anderen freundlichen Gesinnten geschossen wurden. Ich plantschend in der Badewanne, die eigentlich ein Wäschekorb war. Ich beim Faschingsumzug als niedlicher Clown mit großer Schleife. Ich beim Karussellfahren. Ich auf dem Strand von Caorle.
Danke, Mama, ohne dich wären diese Momente für immer verloren gewesen (übersehen wir einfach mal, dass ich das Nacktfoto meines windpockigen Kleinkindkörpers jetzt nicht unbedingt gebraucht hätte). Fotografiert zu werden, beweist, dass man jemandem wichtig ist. Dass jemand da ist, der einen begleitet. Wie elend ist es doch, sich selbst fotografieren zu müssen. Wer Selfies herzeigt, zeigt damit doch auch: „Seht her, ich war da. Und niemand sonst war da, der mich hätte fotografieren können.“
Wobei das im Fall des Unbekannten am Bahnsteig natürlich nicht stimmt. Ich war ja zum Beispiel da. Er hätte mich fragen können, so wie man das einst einmal gemacht hat. Aber – und das leuchtete mir beim genaueren Überlegen sofort ein: Fremde zu fragen ist ja noch viel schlimmer. Erstens rennen die vielleicht mit der teuren Kamera weg. Zweitens wissen die dann nicht, wo sie drücken müssen, um das Foto zu schießen. Und drittens – das kann sicher jeder bestätigen, der sich schon mal von einem netten Passanten hat knipsen lassen: Die Bilder sind völlig unbrauchbar: statt mich vor dem Brunnen sieht man im rechten unteren Bildrand meinen verlorenen Kopf ohne Körper schweben, schräg links darüber den Brunnen, unscharf und ebenfalls unvollständig, kurz, ein Bild für den Papierkorb.
Es gibt also nur eine Alternative zum Selfie, und zwar: den guten Freund, der tatsächlich auch anständige Fotos hinkriegt.
Ich malte mir also aus, wie es gewesen wäre, hätte der Unbekannte einen Freund bei sich gehabt, der das Foto hätte schießen können. Und da fiel es mir auf: Es wäre wieder ein Selfie geworden.
Die früher klassische Aufteilung „Objekt vor der Kamera, Fotograf hinter der Kamera“ gilt nicht mehr. Der Fotograf stellt sich mit auf das Bild. Seht her, wir waren gemeinsam da.
Hätte mich das ebenso gestört wie das einsame Selfie des Unbekannten?
Wahrscheinlich nicht. Ich hätte gedacht, schau, wie nett, zwei Freunde, die ein Erinnerungsbild schießen. Mein Mann und ich machen es ja genauso, wenn wir irgendwo hinfahren und unser Hoffotograf grad seinen freien Tag hat. Ist das „Selfie zu zweit (oder in der Gruppe)“ also die sozial akzeptablere Variante? Ist es weniger pathetisch als das Single-Selfie eines einsamen Selbstdokumentierers? Ist es weniger narzisstisch? Oder ist überhaupt unsere ganze Vorstellung von Selfie-Narzissmus falsch? Ist vielleicht auch der Unbekannte mit seiner grotesken Grinsefratze kein widerlicher Selbstdarsteller, sondern einfach nur jemand, der weiß, dass er nicht so oft mit der Rhätischen Bahn fahren wird und sich daher später an diesen Moment erinnern möchte – ohne gelangweiltes Gesicht?
Als ich mir nach längerem Nachdenken mein Unbehagen bei meiner Beobachtung ins Gedächtnis rief, fiel mir auf: Was so grotesk an der Situation war, war gar nicht das Selfie-Machen an sich. Es war die Tatsache, dass ich dabei zuschaute. Als hätte ich etwas Verbotenes gesehen: Die Entstehung eines netten Erinnerungsbildes in seinem weniger netten Kontext. Der Moment vor dem Foto war kein besonders schöner und der Moment danach ebenso nicht. Das Foto selbst aber zeigt ein lachendes Gesicht. Eine Lüge – allerdings eine verständliche.
Ich habe an sich nichts dagegen, wenn man seine Reise-Erinnerungen ein bisschen verklärt. Aber ich war unfreiwillig Zeugin dieser Lüge geworden. Und das bereitete mir Missbehagen. Dabei weiß ich natürlich wie wir alle, dass Fotos per se lügen, egal ob Selfie oder nicht, das liegt in ihrer Natur. Wir wissen damit umzugehen. Aber den Moment der Lüge mitzuerleben – das ist etwas anderes.
Vielleicht liegt darin unser Hauptproblem mit den Selfie-Machern: Wir wollen ihnen nicht zuschauen. Wir wollen ihre Verrenkungen nicht sehen und ihre Fehlversuche. Ein Selfie ist etwas Intimes, das habe ich begriffen. Seine Entstehung sollte vom Mantel der Diskretion bedeckt sein. Es gehört sich daher nicht, dabei zuzuschauen. Wenn ich also das nächste Mal jemanden den Arm lang machen sehe – drehe ich mich dezent in eine andere Richtung.
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