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Barbara Plagg
Veröffentlicht
am 01.03.2025
MeinungEqual Care Day 2025

Die Mutter aller Gaps: Gender Care Gap

Veröffentlicht
am 01.03.2025
Von armen Omas, von Vätern, die in der Statistik des Gender Reports vom Balken verschwinden und der Farce der „Realpolitik“: Barbara Plagg über unbezahlte Carearbeit, die das gesamte (patriarchale) System trägt. #equalcareday2025
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Sie soandelt.

Ich kenne eine Geschichte aus deiner Kindheit. Es ist ein sonniger Sonntag in Südtirol. Und sonniger Sonntag bedeutet auch in deiner Südtiroler Familie: Wandertag. Du sitzt schon im Kombi, alberst auf dem Rücksitz mit deinem Bruder rum oder ärgerst deine Schwester. Dein Papa sitzt hinterm Steuer, dreht „Frühschoppen mit Volksmusik“ auf, trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad und sagt: „Wieso soandeltn de denn schun wieder sovvlt? Wo ischse denn schun wieder?“

Ja, wo ist sie denn schon wieder? 
Sie ist noch im Haus. 

Packt noch schnell die Wechselwäsche ein und wirft ein paar Notfall-Cracker in ihren Rucksack, füllt noch beide Trinkflaschen (denkt dabei auch daran, die mit dem Einhorn zu nehmen, damit die Dreijährige später keinen Trotzanfall kriegt), packt ein paar Kotztütchen für die Rückbänkler ein (denkt dabei auch an die Taschentücher zum Saubermachen) und läuft noch schnell durch alle Zimmer, um zu kontrollieren, ob das Fenster zu und der Herd aus ist. Warum sie das erst jetzt macht? Weil sie vorher noch den Frühstückstisch abgeräumt und die Kinder angezogen hat. 

Sie soandelt nicht, sie arbeitet. Sie ist nicht langsam, sie ist schnell. 

Solltest du die Soandl-Geschichte nicht kennen und bei dir sonntags außerdem stets Papa den Pimps für den Berg belegt haben, kennst du dafür bestimmt andere Märchen, die dir das Patriarchat so erzählt hat: das Märchen vom müden Büro-Papa und der nimmermüden Teilzeit-Mama zum Beispiel, die abends die Kinder ins Bett bringt und dann noch abspült, während er vor „Derrick“ sitzt – weil sie den Nachmittag ja „nur die Kinder hatte“. Oder das Märchen von der fröhlichen Hausfrau, die Kochen, Waschen und Putzen motiviert und mühelos übernimmt – weil ihr die Liebe zum Staubsauger angeboren ist, während dem Papa das Hausarbeits-Gen ja leider komplett fehlt. Oder das Märchen vom Weihnachtsmann, vom Nikolaus, vom Osterhase, vom Heiligen Martin – obwohl es nicht die Männer und nicht das Karnickel waren, sondern die Mutti, die auch noch Geschenke besorgte, Eier bemalte, Laternen bastelte, Nester versteckte, den Adventskalender befüllte und das Festmahl zubereitete. Und ganz bestimmt kennst du auch das Märchen vom modernen Mann, der gefeiert wird, weil er er dann doch jedes dritte Schaltjahr einmal den Staubsauger in die Hand genommen, den Buggy geschoben oder sich sogar mal ein Tragetuch umgebunden hat  – wie fortschrittlich von ihm und wie gut für sie!

Arme Oma.

So gut für sie, dass sie heute so gut wie gar nichts mehr hat. Die wirtschaftliche Gesamtbilanz für ein weibliches Leben sind aktuell 946 Euro. So viel kriegt sie heute, obwohl sie damals im Schnitt vier bis fünf Stunden täglich Hausarbeit geleistet hat, NEBEN der Lohnarbeit. Er hingegen hat nur maximal halb so viel zuhause gebuckelt, steckt heute aber mehr als doppelt so viel, nämlich 1.761 Euro, in die Tasche (NISF/INPS 2024). Das hat sie davon, dass sie zig mal mehr unentbehrliche, körpernahe und schwere Arbeit geleistet hat als er. Arbeit, die unverzichtbar und unverschiebbar ist, weil das Leben aller Kinder davon abhängt. 

Nun können sich interessanterweise ja Linke wie Rechte, Alte wie Junge, Männer wie Frauen darauf einigen, dass die Armut unserer (Groß)Mütter eine armseliges Armutszeugnis für unsere Gesellschaft ist. Gleichzeitig können wir uns anscheinend auch alle darauf einigen, dass das halt aber nun mal so ist. Dass man das „realpolitisch“ nicht ändern kann mit diesen „staatlichen Rahmenbedingungen“. Weil, die haben ja auch einfach nicht eingezahlt, die Frauen, und waren „nur bei den Kindern zuhause“. Tja, Pech gehabt.

Gestern wie heute.

Wir fahren mit dem Kombi aus den 1990ern in die Gegenwart. Heute sagen immerhin ganze 99 Prozent aller Männer und Frauen in Südtirol, dass sich „beide für die Kinder engagieren sollten“ (Gender Report, ASTAT). Noch 2021 fanden nur 92 Prozent aller Südtirolerinnen und 89 Prozent aller Südtiroler, dass das so sein sollte. Es tut sich also etwas im Südtiroler Mindset! Das ist schön. Aber blättert man in den ASTAT-Statistiken etwas weiter zu den Einschätzungen der Mütter, „wer sich dann effektiv um die Kinder kümmert“, verschwindet Papa vom Balken. Kippt rechts vom Diagramm, der Prozentsatz ist so klein, dass nicht mal mehr die einstellige Zahl drauf Platz hat (siehe unten, Diagramm 1). Wer bleibt zuhause, wenn das Kind krank ist? Wer kocht den Brei? Wer zieht die Kinder an? Wer hilft den Kindern bei den Hausaufgaben? Wer steht in der Nacht auf, wenn das Kind weint? Wer redet mit den Kindern über ihre Probleme? Das erledigen alles die 18.000 Frauen, die auch 2025 noch zuhause sind, weil sie wegen der Kinderbetreuung nicht arbeiten gehen können. Das erledigen die ca. 1.000 Frauen pro Jahr, die vor dem ersten Geburtstag ihres Kindes kündigen. Das erledigen die 45 Prozent der Frauen in Teilzeitarbeit – von den Männern sind übrigens nur sieben Prozent in Teilzeit. 

Das erledigen alles die Frauen, die nicht arbeiten, obwohl sie mehr arbeiten. Du weißt schon. Weil nach der Arbeit ist vor der Arbeit. Und nach dem Büro, der Schule, dem Krankenhaus oder der Praxis packen sie Sporttaschen, fahren die Kinder, betreuen Hausaufgaben, koordinieren Sehtest, falten Wäsche und arbeiten nachts noch die liegengebliebenen E-Mails ab. Das alles hätte frau vielleicht noch halbwegs elegant geschafft, wenn sie sich Fulltime drum kümmern könnte, weil er als Alleinverdiener das ganze Geld für die Familie nach Hause schafft – aber mit den heutigen Lebenshaltungskosten und den irren Wohnungspreisen kommt faktisch keine Südtiroler Familie mit nur mehr einem Einkommen aus. Wo Väter übrigens noch am besten abliefern: beim Abliefern. Bei „Die Kinder in den Kindergarten/Schule bringen“ kommen sie nach Einschätzungen der Mütter immerhin auf ganze sechs Prozent.

Da fehlt was.

Er bringt das Kind – aber wer hat an die Arztbestätigung gedacht? Wer an die gesunde Jause? Und wer hat gestern ins digitale Register geschaut und weiß heute, dass das Kind leere Eierkartons zum Basteln mitnehmen soll? Sie war es. Was nämlich all diese Sorgearbeit-Statistiken, die so schon ziemlich beschissen für Frauen aussehen, noch gar nicht mal erfassen, ist die ganze unsichtbare Carearbeit. Der ganze sogenannte „Mental Load“. Die Frage ist nämlich nicht nur, wer das Essen zubereitet. Die Frage ist auch, wer hat sich überlegt, was gekocht wird, wer schaut, dass es abwechslungsreich ist, wer organisiert das Einkaufen, wer plant das Kochen im Tagesablauf mit ein? Weil die ganzen Stunden an Organisieren, Koordinieren und Delegieren in keiner Statistik vorkommen – weder im Gender Report noch in der Zeitverwendungserhebung der BRD, sehen wir in all diesen Statistiken immer nur einen Teil des Ganzen. Die reale Belastung der Frauen ist noch viel höher. Der Mental Load ist die Grauzone, die die Situation für Frauen noch deutlich schwärzer aussehen lässt. Und das Grundproblem dabei ist, dass beides, sichtbare wie unsichtbare Sorgearbeit, nach wie vor als „privates Problem“ und als „keine richtige Arbeit“ gilt.

Mama illegal.

Dabei gibt es natürlich auch richtig bezahlte Sorgearbeit in unserem System. Und auch diese Sorgearbeit – kleiner Exkurs – leisten weit über 80 Prozent Frauen in den Krankenhäusern, Pflegeheimen, Kindertagesstätten und privaten Pflegediensten. Und exkursieren wir angesichts des politischen Rechtsrucks kurz noch etwas weiter: Wer Geld hat, kann Sorgearbeit einkaufen und lässt die Moldavierin sein Klo putzen, die Rumänin den Opa pflegen und die Polin auf seine Kids schauen. 8,2 Prozent des BIP wurden 2020 in Südtirol am Fiskus vorbeigeschummelt. Wie viele Putzfrauen, wie viele Badante, wie viele Babysitter buckeln wohl in dieser Schattenwirtschaft für uns? „Care Chain“ nennt sich das Phänomen, dass der Herbert in Sarntal eine Badante hat, aber dem Andrei in Moldawien dafür die Mama fehlt. Angesichts des privaten Reproduktiondefizits und Pflegenotstandes sollten sich die Rechten ihre Remigrationsfantasien vielleicht nochmal gut überlegen. Und bedenken, dass es keine Lösung ist, dass Menschen nur dann zu uns kommen dürfen, wenn wir Sorgearbeit einkaufen müssen, weil wir uns selbst sie in unserem überalterten Lohnarbeit-System nicht mehr leisten können. Das behebt auch nicht die Ursache des Problems, es ist nur eine externe Auslagerung von Verantwortung, die außerdem würdelos ist und Ungleichheiten verfestigt. Wir sehen: Unbezahlte und unterbezahlte Pflegearbeit verfestigt soziale Ungleichheiten. Das Private ist eben nie nur privat, sondern immer auch politisch.

Die Mutter aller Gaps.
Der Slogan ist so alt wie die Tatsache, dass das Private deswegen politisch ist, weil die Carearbeit, die wir im Privaten verrichten, die Grundlage unseres Wirtschaftssystems ist. Und sie ist nicht nur die Grundlage unseres Wirtschaftssystems, sie ist auch die Gretchenfrage der gesamten Genderfrage. Denn der Gender Care Gap ist die Urmutter aller anderen Gaps: des Gender Pay Gaps (Frauen verdienen weniger), des Gender Pension Gaps (Frauen bekommen weniger Rente), des Gender Employment Gaps (Frauen sind weniger erwerbstätig), des Gender Leisure Gaps (Frauen haben weniger Freizeit), des Gender Opportunity Gap (Frauen haben weniger Zeit für Networking und Fortbildungen), den Gender Career Gap (Frauen sitzen weniger oft in Führungspositionen), des Gender Health Gap (Frauen haben durch die Doppelbelastung bezahlte Arbeit/unbezahlte Sorgearbeit gesundheitliche Nachteile), des Gender Sleep Gap (Frauen übernehmen häufiger die Baby-Nachtschichten) und so weiter und so fort. All die Gaps gäbe es nicht, wenn es den Sorgearbeits-Gap nicht gäbe.

„Realpolitik“.

Und ohne Sorgearbeit gäbe es keine Wirtschaftstätigkeit. Wie praktisch ist es nun für Vati Staat, dass Mutti die Basis für das gesamte Wirtschaftssystem schafft, ohne dass dafür Kosten in der Volkswirtschaft bilanziert werden müssen, weil weder Lohn- noch Rentenansprüche entstehen! Die patriarchale Rollenaufteilung stabilisiert das gesamte System zugunsten der Männer, weil es die unbezahlte Arbeit zuverlässig und unentgeltlich an uns Frauen auslagert. Und so wird auch weiterhin das höfliche, arbeitsame und leistungsbereite Humankapital in ehrenamtlicher Erziehungs- und Bildungsarbeit von uns Frauen herangezogen. Warum sollte sich da etwas ändern, wenn das doch so patriarchal praktisch ist, nicht wahr?

Und so haben wir immer noch arme Großmütter, überlastete Mütter und junge Frauen und Männer, die keinen Bock mehr auf Kinder haben. Denn selbst wenn sich das Mindset der Menschen langsam ändert – wir erinnern uns: 99 Prozent aller Südtiroler:innen finden, dass sich beide um das Kind kümmern sollen – fehlen strukturelle Möglichkeiten wie Kinderbetreuungsplätze und finanzielle Absicherungsstrategien. Denn Mindset allein reicht nicht, wenn Möglichkeiten fehlen.

Aber da kann man blöderweise einfach nichts machen, sagen unsere Politiker:innen, denn da seien sie „Realpolitiker:innen“. Das Unwort dieser rechtslastigen Legislaturperiode, das heißt so viel wie: „Es geht halt einfach nicht anders und ihr, das Volk, checkt das einfach nicht.“ Dabei ginge es anders. Das zeigen uns nämlich andere Länder. Schaut man sich den europäischen Gender Employment Gap an (Diagramm 2), sehen wir beispielsweise das „realpolitische“ Italien in bester Gesellschaft mit dem realpolitischen Rumänien und Griechenland ganz vorne bei niedriger Gesamtbeschäftigung und hohem Gender Employment Gap. Finnland, Lettland, Norwegen, Schweden, Deutschland schaffen in ihrer jeweiligen Realpolitik hingegen interessanterweise Lösungen, die funktionieren. Der große Gender Care Gap ist kein Zeichen von Realpolitik, sondern von Versagen. Und dass wir alle eine so exakt bezifferte Diskriminierung in Form von Lebenszeit, Geld und Chancen hinnehmen, ist eine kollektive Verantwortungslosigkeit.

Nein.
Sie soandelt nicht, sie versorgt die Gesellschaft.
Sie macht nicht ihre Privatsache, sie trägt damit das Wirtschaftssystem.
Sie ist stinksauer.
Und will nicht mehr.

Dieser Text von Barbara Plagg ist im Zuge ihres Vortrags für den „Aktionstag für mehr Sichtbarkeit der Sorge-, Pflege- und Erziehungsarbeit in Südtirol“ von Forum Prävention anlässlich des Equal Care Day entstanden.

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