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Ein Aufschrei ging durch halb Europa, als am Abend des 9. Februar das Ergebnis des Schweizer Volksentscheids bekannt gegeben wurde und die Mehrheit der Eidgenossen Ja zur Masseneinwanderungsinitiative gesagt hat. Gerade mal 20.000 Stimmen schenkten den Befürwortern den Sieg, die der Personenfreizügigkeit den Kampf angesagt haben. Im italienischsprachigen Tessin hingegen war das Ergebnis eindeutiger. Dort stimmten fast 70 Prozent für die Initiative, in manchen Orten wurden sogar nordkoreanische Mehrheiten von über 90 Prozent erreicht. Die Reaktion eines Kantons, der sich von italienischen Grenzgängern überrannt fühlt. Denn jeden Morgen strömen 60.000 italienische Pendler bei Chiasso oder Ponte Tresa über die Grenze, um sich in der reichen Schweiz ihr Brot zu verdienen. Vor zehn Jahren waren es nur halb so viele. An diese Zeit erinnert sich auch Ugo Menotti, damals war es noch einfach, von sich daheim in Mesenzana bei Varese über die Grenze zu seinem Arbeitsplatz in Bedano zu kommen. Für die 35 Kilometer brauchte er knappe 40 Minuten. Heute steigt er jeden Morgen um fünf Uhr aus den Federn und fährt eine halbe Stunde später im weißen Firmentransporter in die Tischlerei, in der er seit 27 Jahren arbeitet. „Wenn ich um sechs Uhr starten würde, dann würde ich ganze zwei Stunden brauchen“, erzählt der etwas über fünfzig Jährige, während er am Steuer sitzt und es draußen langsam anfängt zu dämmern. „Die Staus sind in den letzten Jahren immer schlimmer geworden, denn durch die Krise bei uns in der Lombardei haben immer mehr Italiener einen Job in der Schweiz gesucht.“
Einerseits die Krise und andererseits die höheren Löhne auf der anderen Seite der Staatsgrenze haben immer mehr Italiener zu Grenzgängern gemacht. Im Tessin verdienen sie durchschnittlich das Doppelte, wenn nicht das Dreifache als in ihrer Heimat. Da nimmt man die zwei Stunden im Stau oder das frühe Aufstehen gerne in Kauf. Doch die Tessiner machen die Pendler aus dem Süden für Lohndumping verantwortlich, denn die italienischen Arbeiter akzeptieren niedrigere Löhne, weniger Rechte und weniger Absicherung. Für einen Schweizer Unternehmer rechnet es sich, Arbeitskräfte aus der Lombardei anzustellen. Die Lega Ticinese, treibende Kraft der Zuwanderungsinitiative, sieht die eigene Jugend zur Auswanderung gezwungen – Tessiner zuerst – so das Motto. Sie fordern Kontingente und neue Regeln gegen die Personenfreizügigkeit.
Als Ugo am Montagmorgen nach der Volksabstimmung über die Grenze fuhr, tat er dies mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Die Angst, nun seinen Job im Ticino aus politischen Gründen zu verlieren, fuhr mit ihm mit. „Wenn mein Chef gezwungen werden sollte, in Zukunft nur noch ein bestimmtes Kontingent an Grenzgängern anstellen zu dürfen, dann könnte es für mich eng werden. Ich bin ja nicht mehr der Jüngste und so könnte die Firma einen jüngeren Italiener bevorzugen.“ Noch verhandeln die Kantone, wie es in Zukunft mit den Grenzgängern weitergehen soll. Doch seit dem Volksentscheid ist für Ugo die Unsicherheit über die Zukunft ein neuer Wegbegleiter geworden, wenn er wieder einmal im Stau zwischen Italien und der Schweiz steht.
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