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Ja, die Wut ist da. Darüber, dass einige wohlhabende Männer1 über unsere Zukunft entscheiden dürfen. Und Wut darüber, dass es den Entscheidungsträger:innen dieser Welt scheißegal zu sein scheint, dass uns eine Zukunft geprägt von Überschwemmungen und Dürren, Wasserknappheit, Lebensmittelmangel und daraus resultierenden Konflikten und Kriegen erwartet.
Wann hast du, liebe:r Leser:in, das letzte Mal mit Freundinnen oder Freunden, mit Familienmitgliedern, mit Bekannten oder Arbeitskolleg:innen über die Klimakatastrophe gesprochen? Wenn das schon länger her ist, bist du damit nicht allein. Das Phänomen nennt sich Climate Silence: Wir sprechen nicht über die Ursache, auch wenn sie sich vor unseren Augen ausbreitet. Der Begriff, dessen Name nicht genannt werden darf, nennt sich Klimakrise, oder noch präziser: Klimakatastrophe. Verursacht durch das Verbrennen von Kohle, Öl und Gas.
Daten der Yale-University2 zeigen, dass sieben von zehn Menschen nie oder selten über die Klimakrise sprechen. Hier sind nicht nur jene Personen angeführt, die die Diskussion entfachen, sondern auch jene, die vielleicht auch gegen ihren Willen in so eine Diskussion hingezogen werden.
Politik- und Medienversagen in der Klimakrise
Auch die Medien versagen im großen Stil an der Klimakommunikation. Am vergangenen, vom Hochwasser geprägten Wochenende haben die Tagesschau um 20 Uhr und die „heute“-Nachrichten im deutschen Fernsehen nicht ein einziges Mal die Klimakrise als Ursache der Überschwemmungen genannt. Auch die Südtiroler Tagesschau zeigt herzzerreißende Bilder von Menschen, die tränenüberströmt vor ihren zerstörten Häusern stehen. Doch auf die Klimakrise weist uns auch die Tagesschau auf RAI Südtirol nicht hin – kein einziges Mal. Kein:e Klima-Expert:in wird herangezogen, um die Katastrophe einzuordnen, obwohl wir beispielsweise mit Georg Kaser einen der bekanntesten Klimaforscher bei uns hätten. An Expert:innen würde es uns also nicht fehlen. Doch die RAI Südtirol stellt sich lieber in den Chor des Medienversagens ein, trägt so zum Schweigen über die Ursache der offensichtlichen Katastrophe bei und zögert damit den Ausstieg aus den fossilen Energien noch weiter hinaus.
Auch die lokale Politik schweigt und verschließt die Augen vor der bevorstehenden Katastrophe. Von den Parteien der extremen Rechten braucht man sich bislang zur Klimapolitik von vornherein nichts zu erwarten. In Südtirol sitzt mit Anna Scarafoni eine gestandene Wissenschaftsleugnerin für die Regierungspartei Fratelli D’Italia im Landtag. Sie erklärt die Klimakrise durch ominöse „influenze di tipo elettromagnetico“ zwischen den Planeten.3
Was ist mit der Partei „der Mitte“, die diese Koalition ermöglicht hat? Arno Kompatscher teilte sein Leid über die Überschwemmungen auf Instagram, doch auch unser Landeshauptmann wird plötzlich kleinlaut, wenn es um die Ursache der Katastrophe geht: Er verliert dazu kein einziges Wort. Auch von den Parteien links der SVP kommen wenig Signale zu den Überschwemmungen, obwohl das hier eine Chance wäre, sich zu dem zu schwammig formulierten, ohne konkrete Zielsetzungen und vor allem nicht bindenden Klimaplan Südtirols zu positionieren und die Wähler:innen wie erwachsene Menschen zu behandeln, ihnen die Situation zuzumuten und wirkliche Lösungen anzubieten. Hier reiht sich die Südtiroler Politik in ein Phänomen ein, das vor einigen Monaten in einem der renommiertesten Fachjournale, dem „Nature Climate Change” beschrieben wurde: Extremwetterereignisse haben fast keine Auswirkungen auf die politische Kommunikation von Parteien zu Umwelt- und Klimathemen4. Belege für diese Studie ziehen sich über den gesamten deutschsprachigen Raum.
Südtirol bleibt keine Insel der Seligen
Wir müssen uns darüber informieren, was auf dem Spiel steht. Wir dürfen nicht mehr verdrängen, dass die kommenden Jahre über unser Wohlergehen entscheiden. Darüber, ob das Leid, die Gewalt und der Tod, wie wir ihn am vergangenen Wochenende an unseren Bildschirmen gesehen haben, zur Normalität wird.
Denken wir an die tausenden Menschen, die evakuiert wurden, die zehntausenden Haushalte und zig Krankenhäuser ohne Stromversorgung und die mindestens 23 toten Menschen, die in diesen Tagen die Rechnung für unser Schweigen präsentiert bekommen haben. Das passiert in Mitteleuropa. Gleichzeitig mussten gerade über tausend (!) Menschen in Zentral- und Westafrika sterben. Du wusstest davon nichts? Wusstest du von den 11.000 Menschen, die bei der Flutkatastrophe 2023 in Lybien5 sterben mussten? Von den 250.000 Kindern, die im Jahr 2021 in Ostafrika6 verhungern mussten, aufgrund extremer Dürre und Überschwemmungen?7 Erschreckende Zahlen, und doch ist es gut möglich, dass du noch nie davon gehört hast. Die Artikel dazu sind rar, unsere Medienlandschaft schweigt. All diese Menschen sind Opfer dieses tödlichen Schweigens. Ein Schweigen der G-20-Staaten, die für über 80 Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich sind.8
Wir brauchen unseren Kindern nicht die Verantwortung aufdrücken und darauf hoffen, dass sie es dann schon richten werden, wenn sie groß sind: Sobald sie Entscheidungen treffen können, wird es bereits entschieden sein, ob wir die schlimmsten Folgen der Klimakatastrophe noch aufhalten können.
Unser Schweigen tötet. Wir dürfen nicht mehr verdrängen. Wir dürfen uns nicht mehr so verhalten, als wäre alles ganz normal. Als würden wir nicht in fünfzehn bis zwanzig Jahren die Zwei-Grad-Marke krachend einreißen und damit riskieren, dass sich unsere Welt durch Klima-Kipp-Punkte dominoartig weiter erhitzt. Wir dürfen unseren Kindern nicht mehr vorspielen9, dass sie in einer friedlichen Welt aufwachsen können, wenn wir nicht sofort aus dem Markt fossiler Brennstoffe aussteigen. Wir brauchen unseren Kindern auch nicht die Verantwortung aufdrücken und darauf hoffen, dass sie es dann schon richten werden, wenn sie groß sind: Sobald sie Entscheidungen treffen können, wird es bereits entschieden sein, ob wir die schlimmsten Folgen der Klimakatastrophe noch aufhalten können. Der Weltklimarat IPCC gibt uns noch dieses Jahrzehnt für eine klimapolitische Veränderung10, die die schlimmsten Szenarien verhindern kann: zusammenbrechende Nahrungsmittelketten durch Dürren und Überschwemmungen. Wasserknappheit, Waldbrände, stärkere Ausbreitung von Pandemien und Krankheiten, höhere Wahrscheinlichkeit für militärische Konflikte und Krieg. Unterernährung und erzwungene Migration für Millionen bis Milliarden von Menschen.
Und wir brauchen nicht zu meinen, dass Südtirol eine Insel der Seligen bleiben wird. Auch uns werden die Folgen treffen. Irgendwo werden die unzähligen flüchtenden Menschen eine Heimat finden müssen, die nicht von Fluten, Dürren, unsicherer Landwirtschaft und Wasserknappheit heimgesucht wird. Wie mit Geflüchteten heute an unseren Außengrenzen umgegangen wird, wissen wir bereits. Wollen wir uns wirklich mit der Entscheidung befassen müssen, ob auf die Geflüchteten an den Außengrenzen geschossen wird oder die Massen an Menschen, die die „Flüchtlingskrise“ 2015/16 um ein Vielfaches übersteigen werden, ins Land zu lassen, während wir auch hier um unsere Ernährungssicherheit bangen werden müssen?
Kognitive Dissonanz
Ich frage mich oft, wie wir es schaffen, sich so liebevoll um unsere Kinder zu kümmern und gleichzeitig die Realität so stark zu verdrängen. Die Erklärung heißt „kognitive Dissonanz“. Das psychologische Konzept lässt sich so erklären: In unserem Gehirn entsteht ein Spannungszustand zwischen dem, was wir über die Klimakrise wissen und unserem Handeln.
Die einfache Lösung ist: das Ignorieren der Tatsachen, Verdrängung, Ablenkung, Kleinreden des eigenen Verhaltens, Vergleiche („aber China, die USA, Saudi Arabien …“), die Relativierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, Entwertung bis Aggression gegen den Überbringern der Nachricht, bis hin zum Trotz oder zur Leugnung, wie wir sie bis in die höchsten politischen Ämter sehen. All diese Ausreden finden wir nicht nur bei Politiker:innen, sondern auch bei Medienmacher:innen, Wirtschaftsschaffende und wir finden sie auch bei uns selbst. Die optimale Lösung um diese Spannung aufzuheben wäre hingegen: Verhaltensänderung. Auf einer individuellen, aber viel wichtiger noch: auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene.
Damit das Verdrängte nicht zur Wirklichkeit wird, müssen wir uns der Realität stellen: Die Politik versagt in der Klimakrise. Die Medien ebenso. Und die Folgen spüren wir bereits heute. Jetzt liegt es an uns, an der Bevölkerung. Wir sollten uns folgende Fragen stellen: Wollen wir ein gutes Leben haben, genug zu essen und zu trinken, die Möglichkeit auf einen sicheren Arbeitsplatz, ein Umfeld, in dem wir uns wohl fühlen? Wollen wir endlich Verantwortung und Solidarität zeigen für das, was wir angerichtet haben? Für die Menschen aus dem globalen Süden, für unsere Eltern und Großeltern, die jedes Jahr stärker von der Hitze betroffen sind. Für unsere Kinder und unsere Enkelkinder. Oder lassen wir uns wie die Rinder zur Schlachtbank führen?
Wir müssen reden. Und wir müssen vor allem: handeln. Es reicht nicht, perfekt über die Klimakrise Bescheid zu wissen und ab und an andere Menschen am Wissen teilhaben zu lassen. Wenn wir die Klimakatastrophe eindämmen wollen, dann müssen wir uns organisieren. Wir müssen uns gemeinsam informieren, austauschen und besprechen. Sendungen, Videos und Filme über die Klimakrise anschauen, lesen und uns Podcasts anhören.
Menschen wie du und ich müssen aufstehen und aktiv werden und uns mit aller Kraft für eine Zukunft einsetzen, in der wir leben möchten.
Eltern müssen sich zusammentun und von den Entscheidungsträger:innen endlich ordentliche Klimapolitik fordern. Für die eigene Zukunft, für ihre Kinder und dafür, dass diese eines Tages womöglich auch einen Kinderwunsch haben. Gewerkschaften müssen sich vereinen und dafür sorgen, dass ihre Branchen in klimataugliche Technologien investiert und die Politik verbindliche Bedingungen für eine klimataugliche Zukunft fährt. Menschen wie du und ich müssen aufstehen und aktiv werden und uns mit aller Kraft für eine Zukunft einsetzen, in der wir leben möchten. So können Gemeinschaften entstehen, in denen wir uns sinnvoll fühlen. Wir machen etwas für die Zukunft. Wir machen etwas für unsere Nachkommen. Wir brechen aus der Schneise der Zerstörung, die wir schon seit Jahrzehnten kommen sehen und die wir in diesem Jahr so offensichtlich wie noch nie zuvor spüren. Immer mehr Menschen wird bewusst, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher. Wir müssen das fossile Zeitalter hinter uns lassen und so schnell wie möglich Infrastruktur für erneuerbare Energien bauen. Wir müssen die Politik dazu bringen, schnell genug umzudenken.
Wir haben viele Vorbilder, auf die wir uns berufen können: Die Bürgerrechtsbewegung hat schwarzen Menschen die gleichen Rechte wie Weißen erkämpft, die Suffragetten haben das Frauenwahlrecht errungen, Gewerkschaften haben den Acht-Stunden-Tag zur Normalität gemacht und in Serbien haben Bürgerrechtsbewegungen im Jahr 2000 den blutrünstigen Diktator Milosevic gestürzt. Ein schneller Wandel ist möglich, das hat uns auch Corona gezeigt. Nur wird dieser Wandel nicht von der Politik oder den Medien ausgehen, sondern er wird von unten kommen, von den einfachen Menschen.
Wir haben die Wahl. Du hast die Wahl.
I always wondered why somebody doesn’t do something about that. Then I realized I was somebody.
Lily TomlinText: Jakob Dellago
Deep Dive:
Quellen:
1 Männer, die die Welt verbrennen, Der entscheidende Kampf um die Zukunft der Menschheit. Von Christian Stöcker. Erschienen 2024 bei Ullstein. https://www.ullstein.de/werke/maenner-die-die-welt-verbrennen/hardcover/9783550202827
2https://climatecommunication.yale.edu/publications/climate-spiral-silence-america/
3 https://youtu.be/tCJA47-iM4g?si=cTUkDul83eFoB6yA&t=550
4https://www.nature.com/articles/s41558-024-02024-z
5https://www.nytimes.com/2024/09/15/world/africa/floods-africa.html
6https://www.bbc.com/news/live/world-africa-66805748
7https://www.savethechildren.de/news/ostafrika-eine-viertelmillion-kinder-2021-an-hunger-gestorben/
8https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Thema/umwelt-energie/ umwelt/G20_CO2.html
9 https://www.pik-potsdam.de/~stefan/Publications/Kipppunkte%20im%20Klimasystem%20- %20Update%202019.pdf
10https://www.deutschlandfunk.de/weltklimarat-klimawandel-erderwaermung-ipcc-100.html
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