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Triggerwarnung: Im folgenden Beitrag geht es um sexualisierte Gewalt und die Nennung expliziter Beispiele sexueller Übergriffe.
Wussten Sie es schon, meine Damen? Sie dürfen jetzt nicht nur keine Miniröcke, Hot Pants oder tiefe Ausschnitte mehr tragen, damit sie nicht betatscht oder vergewaltigt werden … Es ist seit einem italienischen Gerichtsurteil letzte Woche auch völlig legitim, wenn irgendein Wildfremder Ihnen mal ungefragt die Hand in die Hose steckt – solange er es nicht länger als zehn Sekunden macht! Richtig gehört! Seien Sie nicht so verklemmt – der Grabscher ist ja auch gar nicht ernst gemeint! Also, einfach mal locker sehen das Ganze. Und am besten lächeln Sie dabei auch noch, denn empörte oder wütende Frauen sehen die Herrschaften nämlich gar nicht gerne, vor allem nicht dann, wenn sie damit beschäftigt sind, Sie sooo lustig an Brüsten, Po und Vagina zu berühren!
Wenn es elf Sekunden sind, okaaay, dann vielleicht, aber nur vielleicht, könnten Sie es mal mit einer Klage versuchen. Aber dann, liebe Frauen, brauchen Sie auch noch eine Riesenportion Glück, dass Sie nicht irgendwelche frauenfeindliche Männer vor sich sitzen haben.
Warum wir Feminismus brauchen? Warum wir noch immer nach Gleichberechtigung schreien? Das Patriarchat sei nur eine Erfindung hysterischer Frauen?
Was passiert ist?
Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Sie es noch nicht mitbekommen haben: Der 66-jährige Schulwart Antonio A. wurde von einem italienischen Gericht freigesprochen, nachdem er eine 17-jährige Schülerin eines Gymnasiums in Rom im April 2022 sexuell belästigt hatte. Er hatte sich ihr damals von hinten an der Treppe genähert, an ihrer Hose gezerrt und in die Unterwäsche gefasst. „Cara, sto scherzando!“, soll er gesagt haben. Und genau so sahen es auch die Richter, denen der Schulwart seine Tat ebenso als Scherz geschildert hatte. Die Staatsanwaltschaft forderte eine Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren, die Richter sprachen „Hausmeister Grabsche“ frei: Es habe sich um ein „seltsames Manöver ohne sexuelle Begierde gehandelt, das nicht länger als 10 Sekunden gedauert habe.“
WTF.
Die Empörung und der Aufruhr in Italien und darüber hinaus sind groß. In den Sozialen Medien kursieren derzeit unter den Hashtags #10secondi und #palpatabreve Videos, die aufzeigen, wie lange 10 Sekunden dauern können.
Auch BARFUSS-Kollegin Barbara Plagg hat ein solches Video gedreht.
Nie ein Kavaliersdelikt
Nicht, dass es etwas Neues wäre, aber hier nochmal Schwarz auf Weiß: Sexualisierte Gewalt umfasst jegliches einseitige und unerwünschte Verhalten mit sexuellem Bezug, das die betroffene Person – egal ob Frau oder Mann – in ihrer Würde herabsetzt. In jedem Fallist sie ein grenzüberschreitendes Verhalten. Dazu gehören laut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg unter anderem:
Wir haben bei unseren BARFUSS-Leser:innen eine kleine Instagram-Umfrage zum Thema gestartet und gefragt, ob sie jemals sexualiserte Gewalt erlebt haben:
Hast du schon mal sexualisierte Gewalt erlebt?
54 Stimmen (79 %,) JA (Anmerkung der Redaktion: vor allem Frauen)
14 Stimmen (21 %) NEIN (Anmerkung der Redaktion: vor allem Männer)
Kennst du Frauen oder Männer, die schon mal Opfer sexualisierter Gewalt wurden?
62 Stimmen (86 %) JA
10 Stimmen (14 %) NEIN
Um zu verdeutlichen, wie unglaublich es ist, was Frauen sich tagein tagaus gefallen lassen müssen, erlauben wir uns, alle eingesandten Antworten folgender Frage in voller Länge aufzulisten, auch wenn – oder gerade weil – sich viele wiederholen.
Welche Art der sexualisierten Gewalt hast du erlebt?
So.
Und dann fragt wirklich noch jemand, warum wir Feminismus brauchen? Warum wir noch immer nach Gleichberechtigung schreien? Das Patriarchat sei nur eine Erfindung hysterischer Frauen? Shut the fuck up, ohne Scheiß jetzt! Ich kann es nicht mehr hören. Sorry, aber: Mir kommt echt das große Kotzen. Das Patriarchat braucht einen dermaßen dicken Arschtritt, da war ich mit meinem Tritt, den ich damals dem einen Kerl im Club verpasst habe, nachdem er mir einfach mal so zwischen die Beine gegriffen hat, vermutlich noch viel zu feinfühlig.
Ein gesellschaftliches Versagen – wieder einmal
Für Betroffene ist es so schon schwierig genug, über ihre Erfahrungen zu sprechen – geschweige denn, sie zur Anklage zu bringen. Sexualisierte Gewalt ist eine traumatische Erfahrung, die tiefe emotionale Wunden hinterlässt. Scham und Schuldgefühle, die Angst vor Stigmatisierung und Vorurteilen, das Verdrängen traumatischer Erinnerungen sowie der Mangel an unterstützenden Systemen sind Gründe dafür, dass Opfer häufig lieber schweigen.
Unterstützende Systeme, damit ist nicht nur das nahe Umfeld gemeint, sondern vor allem auch eine richterliche Exekutive, die im Fall der 17-Jährigen Schülerin komplett, aber komplett versagt hat. Wie zur Hölle sollen solche Fälle Opfer dazu ermutigen, sich gegen das Unrecht, das ihnen angetan wurde, aufzulehnen?
Alles nur „scherzi“
Wenn uns jüngste Fälle von sexualisierter Gewalt eines gezeigt haben, dann ist es leider eines: Das Bagatellisieren von sexuellen Strafhandlungen sowie Victim Blaming, also die Täter-Opfer-Umkehr, bei der die Schuld des Täters für eine Straftat dem Opfer zugeschrieben wird, sind so allgegenwärtig, wie die Tatsache, dass fast jede dritte Frau in Italien zwischen 16 und 70 Jahren schon mal Opfer von Gewalt oder sexualisierter Gewalt wurde. Und Sie wissen ja, wie das mit Statistiken ist … Dunkelziffer und so.
Kehrt man diesen Gedanken außerdem um, dann bedeutet das auch, dass es auch mindestens genauso viele Männer gibt, die (sexualisierte) Gewalt ausüben – erschreckend, oder? Und so was von gar kein „scherzo“, liebe Antonios.
Selber schuld?
Ach und weil wir schon mal beim Thema sind: Nein, die weiblichen Fans von Rammstein sind nicht „blöd“, weil sie zur Aftershow-Party hinter die Bühne gehen. „Wos moanen de, wos sem passiert?“ Na, dass sie damit automatisch ein Vergewaltigungs-OK unterzeichnen, K.o.-Tropfen verabreicht bekommen und in einem Kämmerchen missbraucht werden, wohl eher nicht. Aussagen wie: „Als Frau sollte man wissen, dass man nachts nicht alleine nach Hause geht“ und dass man bei einem „kurzen Rock halt damit rechnen muss, angefasst zu werden“ und ein tiefes Dekolleté einen „blöden Spruch ja provoziert“, sind ebenso ein gequirlter Bullshit wie das römische Richterurteil: Ach, nur zehn Sekunden hat der kleine Grapscher gedauert? Und er war gar nicht ernst gemeint? Na, dann: Freispruch für alle ehemaligen und zukünftigen Täter!
Nochmal zum Mitschreiben, für alle Nicht-zum-Fummeln-berechtigten-Antonios, misogynen Richter und Co: Sexualisierte Gewalt ist niemals nur ein Bagatelldelikt. Kein Kleidungsstück, kein Hintern, keine Situation dieser Welt ist eine Einladung zum Anfassen. Es gibt kein „man weiß ja, was passiert“, kein „zu kurz“, „zu wenig“ oder „es war ja nur“ – der Körper einer Frau gehört niemals einem Mann. Weder für zehn Sekunden, noch für eine einzige. Und die Täter gehören immer, immer bestraft. Ebenso all jene, die solche Übergriffe als Lappalie abtun und dadurch dafür sorgen, dass sexuelle Übergriffe weiterhin gerechtfertigt werden.
Es ist zum Schämen. Und ja, wie es aussieht, kommt der Ausspruch „Educate your son“ bei vielen Männern leider um einige Jahrzehnte zu spät. Wie beim „lustigen“ Hausmeister und den „kompetenten“ Richtern aus Rom, die dessen Humor vollends teilen. Ob ihre Töchter und Enkelinnen den Witz auch so lustig fanden? Wohl kaum. Nicht mal eine Sekunde lang. Geschweige denn zehn.
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