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Bis vor wenigen Jahren war ein Kind auf die Welt zu bringen, ein bisschen wie Russisch Roulette zu spielen. Erst mit der modernen Medizin, vor allem durch die verbreitete Anwendung des Kaiserschnitts und durch verbesserte hygienische Bedingungen, sank die Zahl der Todesfälle Anfang des 20. Jahrhunderts drastisch. Schätzungen gehen davon aus, dass im 18. und 19. Jahrhundert fünf bis 20 von 100 Geburten mit dem Tod der Mutter endeten. Die Säuglingssterblichkeit war noch höher. Wie kann es sein, dass sich ein solches Risiko in unserer Evolution gehalten hat und die Geburt mit der Zeit nicht einfacher geworden ist?
Das Dilemma
Durch die Evolution verschwinden große Nachteile und Risiken für eine Art normalerweise nach und nach von alleine. Frauen*, die leichtere Geburten mit weniger Komplikationen haben, können mehr Kinder bekommen, die diese Eigenschaften weiter vererben. Eine einfache Geburt wäre also theoretisch ein evolutionärer Vorteil. Bei der menschlichen Geburt aber sprechen Forscher:innen von einem evolutionären Dilemma. Vorteilhafte Eigenschaften, die uns in der Evolution helfen, bringen manchmal auch Nachteile mit sich. Die Vorteile im „Geburtsdilemma“ sind der aufrechte Gang und unsere Intelligenz, was aber bei der Geburt zwei große Nachteile bedingt: einerseits ein erhöhtes Risiko, die Geburt nicht zu überleben und noch dazu gewaltige Schmerzen. Diese sind für die Evolution leider kein entscheidender Faktor – nicht zuletzt weil unser Gehirn normalerweise dafür sorgt, sie schnell zu vergessen (das gilt aber wohl leider nur für Frauen*, die ein insgesamt positives Geburtserlebnis hatten).
Das fatale Duo
Das Problem mit der Intelligenz ist klar: Weil wir ein großes Gehirn haben, ist unser Kopf größer als bei den meisten anderen Säugetieren. Groß ist prinzipiell immer schlecht, wenn es darum geht, etwas aus seinem Inneren herauszubekommen. Wie im Bild gut zu sehen ist, hat die Evolution beim Verhältnis Säuglingskopf–Mutterbecken nur wenig Spielraum gelassen. Der Kopf passt gerade so durch die Beckenöffnung durch. Bei Schimpansen, unseren nächsten Verwandten, gibt es etwa viel mehr Platz.
Warum aber ist in der Evolution unser Becken nicht breiter geworden? Hier kommt der zweite Teil des Dilemmas ins Spiel: der aufrechte Gang. Weil wir uns in der Senkrechten bewegen, ist das Becken im Vergleich zu unseren vierbeinigen Verwandten um ca. 90 Grad gekippt. Die Öffnung, durch die das Baby herauskommt, zeigt senkrecht nach unten. Damit beim Gehen nicht unsere Organe herausplumpsen, hält eine komplexe Muskelstruktur das Becken nach unten geschlossen. Während der Geburt dehnt sich dieser Beckenboden ganz einfach auf – und mit ganz einfach meine ich unter unvorstellbaren Schmerzen. Nach der Geburt braucht der Beckenboden eine Weile, bis er seine alte Stabilität wieder zurückerlangt hat (Beckenbodentraining lässt grüßen). Wenn sich das Becken verbreitern würde, könnten die Muskeln des Beckenbodens unsere Organe nicht mehr halten. Und weil die Evolution immer nur in kleinen Schritten funktioniert, sind größere Veränderungen unserer Beckenanatomie auch sehr unwahrscheinlich. Das Verhältnis zwischen engen Becken und großem Kopf ist also der beste Kompromiss in einer schlechten Ausgangslage. Weil der aufrechte Gang und das große Gehirn ein größerer Vorteil ist als das höhere Risiko und die Schmerzen, müssen wir jetzt bei der Geburt also die Zähne zusammenbeißen.
Wären wir weniger sozial, hätten wir einen kleineren Kopf und damit auch ein kleineres Problem beim Kinderkriegen.
Evolution hat viele Faktoren
Es gibt noch einen weiteren Faktor, der vermutlich zur schweren Geburt beigetragen hat und auch dieser hat mit unserer Intelligenz zu tun. Menschenbabys kommen im Vergleich zu anderen Säugetieren sehr unterentwickelt auf die Welt. Es würde eine Schwangerschaftsdauer von 18–21 Monaten brauchen, damit das Neugeborene die gleichen Fähigkeiten hätte wie ein neugeborener Schimpanse. Kein Säugetier – mit Ausnahme der ultracoolen Wale – kümmert sich außerdem so lange und intensiv um seinen Nachwuchs wie wir. Diese enorme Abhängigkeit bedeutet, dass wir als Eltern und Gemeinschaft viel Zeit und Energie in die Pflege und den Schutz unserer Kinder investieren müssen. Es gibt die Theorie, dass wir nur durch dieses soziale Netzwerk so intelligent werden konnten. Wären wir also weniger sozial, hätten wir einen kleineren Kopf und damit auch ein kleineres Problem beim Kinderkriegen.
Was sich die Natur sonst noch so überlegt hat
Unsere vierbeinigen Verwandten haben zwar kein Problem mit ihrem Beckenboden, aber – auch wenn wir es nicht genau messen können –, kann man annehmen, dass die Geburt für die meisten Tiere trotzdem schmerzhaft ist. Es gibt Tierbabys, die mit vergleichbar großen Köpfchen – in Relation zur Beckengröße – auf die Welt kommen, etwa Totenkopfäffchen. Die weitaus schlimmste Geburt haben Hyänen wegen ihrer besonderen Anatomie. Ihre Klitoris formt einen sogenannten „Pseudopenis“, durch den das – auch noch überdurchschnittlich große – Hyänenbaby durchmuss. Die Sterblichkeitsrate bei Hyänen ist deshalb mit über 20 % noch viel größer als bei Menschen.
Aber es geht auch einfacher: Fledermäuse, die entweder kopfüber von der Decke hängen oder horizontal fliegen, haben genau gegenteilige Voraussetzungen zu unserem Geburtsdilemma. Ihr Beckenboden muss fast keinen Druck aushalten, daher konnte ihr Becken sehr breit werden. Baby-Fledermäuse sind deshalb auch die Rekordhalter beim Verhältnis von Geburtsgewicht zu Muttergewicht, das durchschnittlich 20 % beträgt. Bei einer 60 kg schweren Frau wäre das ein 12-kg-Baby.
Am einfachsten haben es definitiv die Kängurus. Ihre Babys sind ungefähr so groß wie eine Bohne, wenn sie auf die Welt kommen und reifen in einem Jahr im Beutel ihrer Mutter heran. Kängurus haben die Schwangerschat quasi „outgesourct“.
Deep Dive:
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