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Wenn ab dem 1. April in ganz Italien Frauen und Männer in Rente gehen werden, die eigentlich dachten, dass sie noch knappe zehn Jahre lang arbeiten müssen, wird die Freude groß sein. In den Zeitungen werden Beispielrentner zu sehen sein, die glücklich über ihre unverhofft frühe Rente in die Kamera lachen, und die Regierung wird sich selbst für diese Unterstützung der eigenen Bürger auf die Schulter klopfen. Denn Kritik an der „Quote 100“ gab es bisher wenig – dafür italienweit bereits 13.792 Anträge (Stand 1. Februar): Endlich wird das Renteneintrittsalter gesenkt, statt angehoben – und wer kann schon dagegen sein, weniger lange arbeiten zu müssen?
Klar, auch mein Bauchgefühl flüstert: Vielleicht könnten meine Eltern tatsächlich bereits in Rente sein, wenn ich mal Kinder bekomme. Und vielleicht könnten sie sich dann so um sie kümmern, wie sich meine Oma um mich gekümmert hat, als ich klein war. Doch Politik sollte keine Reformen auf Basis eines Bauchgefühls umsetzen, sondern aufgrund von Fakten. Und die sprechen eine mehr als deutliche Sprache: Die Reform wird sich verheerend auswirken. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber in einigen Jahren, wenn wir junge Generation mitten im Arbeitsleben stecken und plötzlich die Babyboomer in Rente gehen.
Ein Blick auf die Fakten: Die Rente in Italien funktioniert nach dem Umlagensystem. Das bedeutet, knapp zusammengefasst, dass wir heute in einen Rententopf einzahlen und die jetzigen Rentner aus diesem Topf ihre Rente bekommen. Gehen wir einmal in Rente, wird die zukünftige erwerbstätige Bevölkerung wieder Rentenbeiträge einzahlen, die dann wiederum an uns ausbezahlt werden. Ein System, das auf Vertrauen und auf eine Bevölkerung aufbaut, die in ihrer Größenordnung relativ stabil bleibt. Momentan fehlt es an beidem: Die italienische Politik erweckt mit ihren ständigen Rentenreformen nicht den Eindruck, dass das ganze System in den nächsten Jahrzehnten bestehen bleibt. Nicht umsonst kenne ich niemanden, der Studienjahre zurückkauft: Dafür müsste man darauf vertrauen, dass diese Zahlungen, die bei einem fünfjährigen Studium um die 50.000 Euro betragen können, auch in 40 Jahren noch ausbezahlt werden.
Wer kann schon dagegen sein, weniger lange arbeiten zu müssen?
Doch das noch größere Problem stellt der demografische Wandel dar: Italien altert wie nur wenig andere Staaten in Europa. Mit einer Geburtenrate von 1,34 Kindern pro Frau im Jahr 2016 war Italien neben Portugal das Land mit der niedrigsten Geburtenrate der Welt. Zugleich werden die Italiener so alt wie die Bewohner fast keines anderen europäischen Landes: im Durchschnitt 83,7 Jahre. Zusammengefasst bedeutet das: Es gibt immer mehr Rentner und immer weniger Leute, die ihre Rente bezahlen werden. Um dieses Verhältnis beziffern zu können, gibt es den Alterslastenkoeffizienten. Er zeigt für Italien: Während heute auf 100 Erwerbstätige 34 Rentner kommen, werden bereits im Jahr 2050 auf 100 Erwerbstätige 63 Rentner kommen. Die Zahl der Personen, die mit diesem umlagenfinanzierten Rentensystem ausbezahlt werden müssen, wird sich also verdoppeln. Verdoppeln! Wie sollen wir das finanzieren? Bereits heute hat Italien mit 16,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes die zweithöchsten Rentenausgaben Europas.
Altersarmut ist bereits jetzt ein Problem – und dabei stehen uns die schwierigen Jahre noch bevor. Die ersten und die, die es deshalb möglicherweise am härtesten treffen wird, sind die sogenannten Babyboomer: Sie haben ihr Leben lang eingezahlt, werden bei ihrem Renteneintritt jedoch so viele sein, dass entweder die dann arbeitende Bevölkerung unglaublich hohe Beitragssätze zahlen muss oder die zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Mittel aufgeteilt werden müssen. Das heißt im Klartext: noch deutlich niedrigere Rentensätze als derzeit. In anderen Ländern, wie beispielsweise Deutschland, werden deshalb Rentenreformen umgesetzt, die eine Deckelung der Rentenbeiträge in den nächsten 20 Jahren sowie eine Deckelung der Rentenauszahlungen vorsehen, und, um dem Problem ein Stück weit entgegenzuwirken, langsam aber stetig das Renteneintrittsalter anheben.
Italien geht lieber den umgekehrten Weg: Es senkt das Renteneintrittsalter und deckelt die zukünftigen Ausgaben nicht. Das wäre den Wählern auch relativ schwierig beizubringen – wer geht schon gerne später in Rente.
Eigentlich reicht das bereits, um die Quote 100 nicht gerade als beste Reform der letzten Jahre zu rühmen. Doch da ist noch ein weiterer Punkt, der eigentlich zu etwas weniger Begeisterung beitragen sollte: In einem System, in dem die Lebensjahre mit den Rentenbeitragsjahren zusammengerechnet das Renteneintrittsalter bestimmen, wird nur eine Gruppe von Menschen belohnt: vollzeitarbeitende, gesunde Männer. Alle anderen werden länger arbeiten müssen, denn für sie gilt weiterhin das Fornero-Gesetz und somit ein Renteneintrittsalter von circa 67 Jahren: Personen mit Krankheiten, aufgrund derer sie nicht arbeiten konnten, Personen, die für eine Weile arbeitslos waren und in Teilzeit erwerbstätige Eltern profitieren nicht. Die Quote 100 sieht keine Begünstigung von Erziehungszeiten vor, das heißt im Klartext: Jeden Monat, den (zumeist immer noch) Mütter zu Hause verbringen, um ihre Kinder aufzuziehen, dürfen sie am Ende länger arbeiten. Wen wundert es da, dass in wenig anderen Ländern so wenig Kinder geboren werden. Genau jene, nämlich Familien, die den demografischen Wandel und den Crash des Rentensystems aufhalten könnten, werden von diesem System bestraft. Übrigens weiß das die Regierung auch ganz genau: Laut dem zuständigen Ministerium in Rom wird geschätzt, dass 75 Prozent der Personen, die die Quote 100 in Anspruch nehmen können, Männer sind.
Im Namen derer also, die diese Reform bezahlen müssen: Danke für nichts.
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