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Wenn es gut läuft, ist jetzt ein Drittel um. Wenn es nicht ganz so gut läuft, die Hälfte. Wenn es scheiße läuft, weniger. Mit Anfang 30 sitzt man also da und es kommt einem in den Sinn, mal Bilanz zu ziehen. Zurückzudenken. Mit Anfang 30 scheint es nicht vermessen, auch mal zurückzuschauen. Manche schreiben ja schon Autobiografien mit Anfang 30. Manche schon mit Anfang 20. Grundsätzlich bin ich ja der Meinung, dass jedes Leben (jedes!) gut geschrieben einen wundervollen Roman hergibt. Man müsste sich nur überlegen, wer jeweils welche Biografie aufschreibt. Frank Schätzing, die des Typen, der zuerst Fußballprofi war, dann eine Bank überfallen hat, dann für den Geheimdienst gearbeitet hat und tausend Frauen ein Liebhaber war. Michel Houellebecq, die des scheinbar langweiligen Lebens des Fabrikarbeiters, in dessen Kopf so viel passiert.
Ich bin jetzt also Anfang 30. Ich will keine Biografie schreiben, ich schreibe ja noch nicht einmal Tagebuch, aber ich blicke jetzt mal zurück. Bislang hat man ja immer nur nach vorne geschaut. Hinten, da war noch nicht viel. Vorne, da wartete alles: Die nächsten Sommerferien. Der nächste Geburtstag, der schön in der Mitte der Sommerferien lag, so dass sich durch die Sehnsucht danach die Sommer schön in die Länge zogen. Das nächste Weihnachten. Endlich das Motorrad. Mein Vater wollte mit mir damals einen Deal machen: Wenn du auf ein Motorrad verzichtest, bekommst du mit 18 ein Auto. Ein schlauer Gedanke. Aber ein Erwachsenen-Gedanke. No deal for young men.
Man konnte es nicht erwarten, endlich die Matura gemacht zu haben. Man konnte es nicht erwarten, endlich nicht mehr vor sechs Uhr aufstehen zu müssen, um den Schulbus zu kriegen, der nach Bozen fuhr. Wenn ich irgendwann nicht mehr vor sechs Uhr aufstehen muss, so dachte ich damals, dann ist alles gut, dann ist das Leben lebenswert, egal, was ich mache, egal was passiert, egal wer ich bin. Ich habe die Tage rückwärts gezählt bis zu dem Tag. Ich konnte es nicht mehr erwarten, endlich in die Stadt zu ziehen. In irgendeine Stadt. Irgendwohin, wo einen nicht jeder kennt, dem man auf der Straße begegnet. Irgendwohin, wo man in der Masse verschwinden konnte. Man konnte es kaum erwarten, das Studium abzuschließen. Sein eigenes Geld zu verdienen. Jetzt sitze ich da. Irgendwie alles gut gelaufen bislang. Scheiße gebaut, ja. Geile Sachen erlebt. Viele geile Sachen. Genug, um irgendwann Enkelkindern davon zu erzählen. Auch wenn es die wahrscheinlich nicht interessieren wird.
Wenn man die Uhr noch einmal zurückdrehen könnte, was hätte man anders gemacht? Vieles. Vielleicht hätte man Meeresbiologie studieren sollen. Alles ist langweilig geworden auf dieser Welt, selbst im Weltraum scheint man schon gewesen zu sein, Google-Earth bringt mich überall hin. Nur die Tiefen des Meeres, die sind noch schwarz. Da unten lauern die Ungeheuer, die letzten Abenteuer. Hätte ich doch Meeresbiologie studiert. Aber: Man kann nichts mehr rückgängig machen. Das ist auch gut so. Nichts bereuen!
Ich wäre nicht hier, ich würde jetzt hier nicht in der Sonne sitzen, mit dem Leben, das ich jetzt lebe. Hätte ich auch nur einmal um den Bruchteil einer Sekunde mit der Wimper früher gezuckt, das eigene Leben wäre ganz anders verlaufen. Man ist dem Leben ausgeliefert. So viel ist sicher. Man hat einiges in der Hand. Man kann tun, man kann entscheiden, und doch ist da eine Kraft, die mitentscheidet, Schicksal, Zufall, Gott, was immer sie auch ist.
Ein Drittel, wenn es gut läuft, oder die Hälfte oder weniger?
Wenn nur nicht alles ständig so viel schneller laufen würde. Jedes Jahr, jeder Tag. Immer schneller. Und was kommt jetzt noch? Kinder, die dann erwachsen werden – und selber ist man dann alt. Wenn man Glück hatte. Enkelkinder, die man aufwachsen sieht. Wenn man Glück hat. Ein Drittel, wenn es gut läuft, oder die Hälfte oder weniger? Dann ist es vorbei. Ganz vorbei? Nein, das kann’s dann doch nicht gewesen sein.
Was wäre das für eine Enttäuschung. Nur dieses eine, kurze Leben. Nur dieser eine Wimpernschlag der Ewigkeit. Das glaube ich nicht. Es gibt so unendlich viele Möglichkeiten, was mit einem, nachdem es vorbei ist, passieren kann. Das Nichts ist nur eine davon. Warum sollte es ausgerechnet das Nichts sein? Nein, das Nichts ist nicht zu akzeptieren.
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