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Eines Tages, als ich neu in Bruneck war, machte ich mich daran, zu Fuß einen Zebrastreifen zu überqueren. Ein Prachtstück von einem Zebrastreifen, kontraststark weiß auf dunklem Asphalt, mit eigener Flutlichtanlage und großflächigen Schildern für die Autofahrer. Ein Auto näherte sich. Ich nahm Blickkontakt auf und setzte den Fuß auf den Zebrastreifen. Der Fahrer beschleunigte und ging auf Kollisionskurs. Ich sprang zurück und reckte dem Arschloch den Mittelfinger hinterher. Ein völlig normaler Vorgang also, den in einer deutschen Großstadt die Beteiligten wahrscheinlich gleich wieder vergessen hätten.
Dann jedoch wurde es interessant. Der Fahrer hielt an. Oha, es wird hitzig, dachte ich. Irrtum. Der Fahrer war nicht wütend, sondern bestürzt, und er hatte eine Frage: Was mir denn einfiele, ihm einfach vors Auto zu laufen und ihn dann auch noch zu beleidigen? – Das hier sei ein Zebrastreifen, belehrte ich ihn, also einer jener Orte, an denen Fußgänger Vorfahrt haben. – Ja aber doch nicht, wenn er gerade mit seinem Auto gefahren kommt, wandte er ein, das würde ja heißen, dass er bremsen müsste. Ich sah ein, dass er sich nicht wie mancher deutsche Autofahrer wissentlich über die Verkehrsregeln hinweggesetzt hatte. Nein, er hatte ein anderes Verständnis von Zebrastreifen als ich. Sinngemäß: Hier dürfen Fußgänger queren, sofern gerade kein Auto kommt. Später googelte ich »Italien Zebrastreifen anhalten« und erfuhr, dass diese Auffassung auch von der italienischen Straßenverkehrsordnung gestützt wird – zumindest in der Fassung, die vermutlich meinem Konfliktpartner bei seiner Führerscheinprüfung vorlag. Bis 2010 verbot es der codice stradale den Autofahrern sogar, an Zebrastreifen zu stoppen, da dies den Verkehrsfluss hemmen könnte.
Seither gehe ich Zebrastreifen umsichtiger an und beobachte, dass man im traditionsbewussten Südtirol an der historischen Deutung des Zebrastreifens festhält. Selbst mit Kinderwagen kann man eine halbe Ewigkeit an einem Zebrastreifen stehen, bis ein Auto hält – und dann ist es meistens ein Tourist, der damit nichtsahnend riskiert, dass ihm einer hinten drauffährt. Aus Sicht der Einheimischen haben Zebrastreifen vor allem eine dekorative Funktion. Sozusagen Rallyestreifen für die Straße.
Ein grundlegend anderes Verständnis von Bodenmarkierungen zeigt sich auch beim Bahnfahren in Südtirol. Entlang jedes Bahnsteigs zieht sich die linea gialla, oder „Linia tschialla“, wie wir Deutschen sagen. Dazu sind die Bahnhöfe voll von großen Schildern, die sagen: „Es ist verboten, die gelbe Linie zu überschreiten.“ Für Sehbehinderte und Analphabeten wird der Text alle paar Minuten durchgesagt. Semantisch gesehen ist die italienische linea gialla das Gegenteil des deutschen Zebrastreifens.
Deutsche Bahnsteigkanten sind in der Regel unmarkiert. Bis vor kurzem gab es nur vergleichsweise dezente Durchsagen wie „Vorsicht bei der Einfahrt“, „Achtung beim Schließen der Türen“ oder „Zurückbleiben bitte“ – doch diese Aufforderung wird oft in geradezu italienischer Manier ausgelegt als „Noch schnell einsteigen“. Dieser Ungehorsam ist natürlich nicht hinnehmbar für deutsche Verkehrsbetriebe. Neuerdings ersetzen sie die Durchsagen durch Signaltöne und Blinklichter, was laut Hamburger Hochbahn obendrein bei jedem Halt ein paar Sekunden spart.
Die linea gialla bringt uns obrigkeitshörige Deutsche in eine fast ausweglose Situation. Wie soll ich jemals einen Zug besteigen, wenn ich die gelbe Linie nicht überschreiten darf? Ich fragte meine Südtiroler Freunde um Rat. „Einfach drüber und die Gänsehaut spüren“, antwortete einer auf Twitter, „es lebe die Anarchie!“ Au ja! In Deutschland dienen Bodenmarkierungen der Ordnung. Wie langweilig. In Südtirol versprechen sie ein Abenteuer.
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