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Der Tag, der das Leben von Anja Stecher ändern sollte, war ein sonniger. Die Nachricht, die sie von einer Hilfsorganisation erreichte, umso trüber: Eine Frau war verstorben. Mama Tumeso, die Mutter der siebenjährigen Alessia, der zehnjährigen Tumeso und der Zwillingsbuben Michael und Gabriel, erst sechs Monate alt. Anja hatte die Familie wenige Monate zuvor bei ihrer ersten Reise nach Tansania kennengelernt. Das war 2016. Damals kam die Krankenschwester zusammen mit der Initiative „Irma hilft“ zum ersten Mal in das Land, das bekannt ist für seine atemberaubende Natur, seine wilden Tiere und den Kilimandscharo, aber auch für seine Armut und seine unzureichende Gesundheitsversorgung. In Tansania kommen noch fast alle Kinder zu Hause zur Welt. Es gibt wenige Krankenstationen, die teilweise sehr weit von den Dörfern entfernt sind. Viele Kinder sind nicht registriert, es gibt häufig Totgeburten. Viele Frauen sterben bei der Geburt oder kurz danach – so wie Mama Tumeso.
Für Anja, damals noch Pflegedienstleiterin der Marienklinik in Bozen, war nach dieser Nachricht klar: Sie möchte, nein, sie muss den Waisenkindern helfen. Und so stieg die gebürtige Vinschgerin im Juni 2017 zum zweiten Mal ins Flugzeug nach Tansania. Für Anja, die selbst Mama von zwei Kindern ist, der Beginn eines Lebens in zwei Welten.
Asante
Während ihres zweiten Aufenthaltes wuchs in der heute 50-Jährigen das Gefühl, dass sie etwas bewegen kann und sie spürte: „Ich gehöre hierher.“ Also gründete sie den Verein Asante, was „Danke“ auf Suaheli bedeutet, suchte eine Ziehmutter für die Waisenkinder und sammelte Spenden für ihren Lebensunterhalt.
Das erste Projekt war der Bau eines Ziegelhauses für die vier Waisen. Doch die Mädchen, heute 14 und 17 Jahre alt, bevorzugten eine traditionelle afrikanische Lehmhütte. „Wir dachten, wir müssen ihnen zeigen, wie es geht, aber das war falsch“, weiß Anja heute und lacht. Den anfänglichen Fehler nimmt sie mit Humor. Sie hat daraus gelernt und plant seitdem nichts mehr im Alleingang. Heute kommen die Menschen mit Wünschen gezielt zu ihr. Sind es persönliche oder kleine private Anliegen, erfüllt sie Anja als Privatperson. Sind sie etwas Sinnvolles für die Gemeinschaft, die Stadt oder das Dorf, übernimmt Asante.
„Ein Herzensding“
Seit 2002 müssen in Tansania keine Schulgebühren mehr gezahlt werden, das heißt: Mehr Kinder besuchen die Schule. Folglich gibt es zu wenige Schulplätze, die Klassenräume sind zu klein und es herrscht Lehrer:innenmangel. Der Verein unterstützt Kinder finanziell, damit sie eine Privatschule besuchen können. Bisher konnte der Verein eine Radiologie-Abteilung für die Missionsstelle der Klosterschwestern Suor Rosminiane bauen, einen Tiefbrunnen für ein Waisenhaus sowie sogenannte Dispensary – wie die Krankenstationen in Tansania genannt werden. Ein Projekt, das sogar von der Provinz Südtirol finanziell unterstützt wurde. Die Dispensary gleichen den Sprengeln hierzulande. Es handelt sich dabei um Ambulatorien, in denen man geimpft werden kann, Blut abgenommen wird und wo Kinder zur Gewichtskontrolle hingebracht werden. Auch Frauen können für eine sichere Geburt hierher kommen.
„Der Verein ist mein Herzensding“, sagt Anja und nimmt dafür einiges in Kauf: betteln, anklopfen, Aktionen starten. Es sei aufwändig, mühselig und manchmal anstrengend, die Spendenbereitschaft – vor allem seit Covid-19 – immer geringer. Zuweilen stößt selbst die Powerfrau an ihre Grenzen und ihre positiven Gedanken weichen dem Gedanken: „Warum tu ich das?“ Aber aufgeben war noch nie eine Option. Anjas Motto lautete stets: „Auf geht’s, weiter geht’s.“ Spätestens, wenn sie wieder vor Ort ist und in Gesichter der Dankbarkeit und Freude blickt, wisse sie, warum. Dann mache alles Sinn.
Kündigung nach 24 Jahren
Nach der Covidpandemie 2021 war Anja mit ihren Kräften am Ende und hat nach 24 Jahren in der Marienklinik in Bozen gekündigt: „Ich hatte einfach die Schnauze voll.“ Ohne Sicherheit und ohne Plan, was danach kommen würde, ging die Krankenschwester für drei Monate nach Tansania. Dort lebte sie nicht wie sonst bei den Missionsschwestern oder in einer Lodge, sondern direkt im Dorf der Massai – einem Hirtenvolk, dem nur etwa drei Prozent der Bevölkerung Tansanias angehören. Sie begleitete die Männer beim Kühe-Holen auf den Weiden und beim Melken, die Frauen beim Beschaffen von Holz und Wasser sowie beim Perlenbänder-Knüpfen, sie spielte mit den Kindern und lernte ein bisschen Suaheli. Es ist eine große Gemeinschaft, der Alltag gelassen, der Umgang respektvoll und hilfsbereit. Ein Kontrast zum Leben in einer der Städte Afrikas und vor allem zum Leben in Südtirol.
Die Zeit beim Massai-Volk prägte Anja, die nun seit drei Jahren als Koordinatorin in der Palliativstation der Stiftung St. Elisabeth in Martinsbrunn arbeitet, nachhaltig. Seit ihrer Rückkehr begleitet sie dort Menschen auf ihrem letzten Lebensweg. „Viele denken, es ist nur traurig, aber es herrscht so eine positive Energie, so viel Dankbarkeit. Es ist friedlich und ruhig“, sagt Anja und meint gleichermaßen ihre Arbeit in der Palliativstation als auch in Afrika.
Mutterrolle in Afrika
Anja ist die Art von Menschen, für die im Wörterbuch die Bezeichnung Frohnatur steht. Sie strahlt Lebensfreude und Positivität aus, wird von ihren Arbeitskolleginnen immer wieder gefragt, woher sie ihre positive Energie nimmt. „Das bin einfach ich“, antwortet sie ihnen dann.
Mittlerweile reist sie zweimal im Jahr für mehrere Wochen nach Afrika, aber auch privat packt sie gerne ihr „Kofferle“. Am Wochenende fährt die Krankenschwester oft für drei Tage nach Venedig zu ihrem Freund, mit dem sie eine glückliche Fernbeziehung führt, ein paar Tage nach Sizilien, Neapel oder in die Toskana. Diese kleinen Auszeiten geben ihr wieder Energie für den Alltag. Ihre Sommerurlaube verbringt sie in Afrika. Im Sommer finden in Tansania alle traditionellen Feste statt: die Feiern für die Reife der Mädchen, die Beschneidungen der Buben, Hochzeiten … Dieses Jahr ist auch die 14-Jährige Ziehtochter Alessia Teil der Mädchenfeier. Anja übernimmt ihre Mutterrolle. Sie wird zur Gastgeberin und alles mitmachen, was dazugehört.
In drei Monaten steigt die Vinschgerin also wieder in ein Flugzeug und macht sich auf in ihre zweite Welt. Nicht im Namen des Vereins Asante, sondern wieder als Anja – denn nicht nur zwischen Südtirol und Afrika, sondern auch in Afrika selbst lebt die Powerfrau in zwei verschiedenen Welten.
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