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„Für mich ist soziale Gerechtigkeit ein wichtiges Thema“, sagt Andrea Fleckinger. Nach dem Studium der Sozialen Arbeit hat sie im Frauenhausdienst Brixen gearbeitet, welcher Frauen in Gewaltsituationen berät und begleitet. Die Arbeit dort hat für sie eine persönliche Komponente: „Ich bin zwar nicht direkt von Gewalt betroffen, die Themen, mit denen ich mich in meiner Arbeit beschäftige, finden aber Resonanz in meinem privaten Leben – zum Beispiel in meiner Rolle als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft.“ Nach mehreren Jahren im Frauenhausdienst hegt Fleckinger den Wunsch, sich beruflich weiterzuentwickeln. Sie macht einen Master und ein Doktorat in Allgemeiner Pädagogik an der Freien Universität Bozen. Jetzt ist sie als Forscherin und Dozentin an der Universität Trient tätig und leitet die Studie TRACES – durchgeführt vonmedica mondiale, dem Forum Prävention, dem Frauenmuseum Meran und der Universität Trient.
BARFUSS: Womit befasst sich die Studie TRACES?
Andrea Fleckinger: Das Projekt versteht sich als direkte Anwendung der Istanbul Konvention (Anm. d. Red.: Die Istanbul-Konvention ist das in Italien ratifizierte Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) und hat zum Ziel, Ursachenforschung zum Thema sexualisierte Gewalt an Frauen zu leisten und gezielt auf die Dynamiken transgenerationaler Traumatisierung einzugehen. Unsere These ist, dass wir heute so viel sexualisierte Gewalt an Frauen erleben, weil wir uns nicht mit der Vergangenheit auseinandergesetzt haben.
Wo liegt der Fokus der Studie?
Wir blicken auf das Phänomen der sexualisierten Gewalt von einem soziologischen Standpunkt aus. Wie wird und wurde gesamtkulturell sexualisierte Gewalt ermöglicht? Denn es ist der gesamte Kontext, der die sexualisierte Gewalt erst möglich macht, beispielsweise durch das Schweigen des Dorfes, obwohl alle Bescheid wissen. Oder weil es Wertesysteme gibt, die sexualisierte Gewalt noch weiter forcieren. Ich denke da zum Beispiel an das Verhältnis der katholischen Kirche zur Sexualität. Der besondere Fokus der Studie liegt auf den Dynamiken transgenerationaler Traumatisierung. Wir wissen, dass nicht aufgearbeitete Traumata an die nächsten Generationen weitergegeben werden und so Folgen nicht nur für das Individuum, sondern für das gesamte Gesellschaftsgefüge haben.
Können Sie Beispiele nennen?
Vor wenigen Generationen war es in Südtirols Wertesystem noch verankert, dass jedes Jahr ein Kind geboren werden musste, sonst kam der Pfarrer nach dem Rechten sehen. So war es nicht möglich, seine Sexualität frei und selbstbestimmt zu leben. Ein weiteres Beispiel, das unser Rechtssystem widerspiegelt: Viele der älteren Interviewpartnerinnen erzählen uns, dass es selbstverständlich für sie war mitzumachen, wenn der Mann Sex wollte. Das wurde gar nicht in Frage gestellt. Denn es galt als eheliche Pflicht, dem Mann sexuell jederzeit zur Verfügung zu stehen. Diese Dinge haben dann auch Auswirkungen auf die nächsten Generationen.
Anm. d. Red.: 1981 in Italien wurde das „matrimonio riparatore“ abgeschafft. Bis dahin wurde Vergewaltigung nicht strafrechtlich verfolgt, wenn der Vergewaltiger sein Opfer geheiratet hat – nicht mal dann, wenn das Opfer minderjährig war.
1996 wurde Vergewaltigung zur Straftat gegen die Person. Bis dahin war es eine Straftat gegen den Anstand und die öffentliche Moral. Durch diese Änderung wurde es für die Opfer möglich als Geschädigte aufzutreten. Die strafrechtlichen Konsequenzen wurden verschärft. Erst diese Veränderung des gesetzlichen Rahmens machte es möglich, Vergewaltigung in der Ehe überhaupt anzuzeigen.
Es geht um die Verantwortungsübernahme der gesamten Gesellschaft.
Die Studie ist eine feministisch-partizipative Aktionsforschung. Was bedeutet das?
Die Methodologie der Studie hat drei Aspekte. Die feministische Perspektive bedeutet, dass wir ausgehend von den Geschlechter- und Machtverhältnissen in der Gesellschaft verstehen wollen, welche Faktoren sexualisierte Gewalt ermöglichen und begünstigen und was schützende Faktoren sind.
Weiters war es uns wichtig, sowohl die Teilnehmerinnen als auch die verschiedenen Stakeholder in die Studie miteinzubeziehen. So wurden die Teilnehmerinnen in die verschiedenen Studienphasen aktiv involviert – zum Beispiel gibt es am Ende dieser Studie eine Ausstellung im Frauenmuseum, an deren Gestaltung die Teilnehmerinnen aktiv beteiligt sind.
Außerdem wurden zu Beginn der Studie auch alle Stakeholder des Vinschgaus zu einer Präsentation eingeladen, zum Beispiel die Sanitätsdienste, Sozialdienste oder die Ordnungskräfte. Das sind wichtige Akteure, die Frauen vor sexualisierter Gewalt schützen und auch Betroffene von transgenerationaler Traumatisierung unterstützen können. Diese Studie soll schlussendlich einen konkreten Nutzen haben, nicht nur für die Teilnehmerinnen der Studie, sondern generell für Südtirol. Es geht um die Verantwortungsübernahme der gesamten Gesellschaft. Das sieht man auch schon an den besonderen Akteuren, die an der Studie mitwirken, wie medica mondiale, das Forum Prävention und das Frauenmuseum Meran. Dass Kulturinstitutionen an wissenschaftlicher Forschung beteiligt sind, ist ungewöhnlich und ein besonderer Reichtum der Studie. Ihnen kommt hier der Auftrag zu, die Ergebnisse der Forschung zurück in die Bevölkerung zu tragen. Das Forum Prävention arbeitet basierend auf den Studienergebnissen ein holistisches Präventionskonzept aus, das die Entwicklung hin zu einer sicheren und gewaltfreien Südtiroler Gesellschaft – weit über die Studiendauer hinaus – positiv begleiten kann.
Welche Rolle spielt die Kirche in der Studie?
Die Kirche, insbesondere das Thema Glaube, ist eines der zentralen Themen bei TRACES – jedoch ohne, dass dies vorab beabsichtigt war. Wir betrachten das Thema sexualisierte Gewalt und die Dynamiken der transgenerationalen Traumatisierung durch die soziologische Brille, das bedeutet, dass der Kontext für uns wichtig ist. Die Kirche ist einer der zentralen Punkte in der Gestaltung unserer Gesellschaft – sie spiegelt Werte und forciert ein bestimmtes Frauen- und Familienbild.
Gibt es Überschneidungen zwischen TRACES und der Studie zur sexualisierten Gewalt der Diözese Bozen-Brixen?
Es gibt auf jeden Fall auch Teilnehmerinnen unserer Studie, die sexualisierte Gewalt durch Vertreter der katholischen Kirche erfahren haben. Man könnte in dem Sinne von einer Ergänzung zu der Studie der Diözese Bozen-Brixen zur sexualisierter Gewalt sprechen. Unser Fokus liegt aber nicht auf der Aufarbeitung von einzelnen Vorfällen, sondern auf der transgenerationalen Weitergabe und der Frage, wie das Kontinuum der Gewalt unterbrochen werden kann.
Konnten Sie Unterschiede im Umgang mit sexualisierter Gewalt zwischen den Sprachgruppen erkennen?
Unsere 30 Teilnehmerinnen waren alle deutschsprachige Südtirolerinnen. Wir wären aber auch für Teilnehmerinnen aus anderen Sprachgruppen offen gewesen. Leider hat sich niemand gemeldet, deshalb haben wir dazu keine Daten. Aus meiner Erfahrung in der Arbeit im Frauenhausdienst würde ich aber sagen: Es gibt kaum Unterschiede zwischen den Sprachgruppen. Aber das ist nicht Teil der Studie TRACES gewesen. Was wir vermuten, ist ein Unterschied zwischen Stadt und Land. In dieser Studie hat uns der ländliche Kontext interessiert, gerne würden wir aber auch die Studie auf ganz Südtirol ausweiten.
Die Formen der sexualisierten Gewalt haben sich verändert.
Gibt es schon erste Ergebnisse?
Wir befinden uns jetzt in der Auswertungsphase. Von Ergebnissen zu sprechen wäre noch verfrüht, aber es gibt erste Eindrücke. Wir können sagen, dass das Thema sexualisierte Gewalt im Vinschgau sehr präsent ist – sei es bezogen auf die Vergangenheit, als auch auf die Gegenwart. Die Formen der sexualisierten Gewalt haben sich allerdings verändert. Heute gibt es nicht mehr diesen Gebärzwang, den ich vorhin angesprochen habe, aber unsere jüngeren Teilnehmerinnen berichten von Formen sexualisierter Gewalt über die sozialen Medien. Diese Gewalt zeigt sich beispielsweise in Form von Sexting, Cybergrooming oder Sextortion, um einige Formen zu nennen. Gemein ist, dass diese Formen der Belästigung junge Mädchen und Frauen verängstigen, beschämen und ein Gefühl der Bedrohung schaffen.
In unseren Interviews mit den Frauen versuchen wir auch gezielt das Umfeld zu verstehen: Wer hätte helfen können? Wer hat geholfen? Wer konnte es wissen und wie hat er/sie reagiert? Da zeigen sich Allianzen, die es Frauen oft unmöglich machen, Unterstützung zu holen. Diese Dynamiken zeigen sich in allen untersuchten Generationen – bis heute. Sexualisierte Gewalt ist nach wie vor ein großes Tabu und Täterpersonen werden oft geschützt. Aber es gibt auch öffentliches und politisches Interesse, dieses Thema anzugehen. Es ist nicht selbstverständlich, dass eine Studie wie TRACES eine Finanzierung durch die Provinz Bozen und die Stiftung Südtiroler Sparkasse bekommt. Zudem möchte ich darauf hinweisen, dass es parallel eine weitere Studie zu dem Thema sexualisierte Gewalt an der Universität Innsbruck gibt.
Mehr zu dem Thema sexualisierter Gewalt als gesamtgesellschaftliches Thema und den Aspekt der täterschützenden Gesellschaft findest du in dem Artikel „Die Spitze des Eisbergs“.
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