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Sarah Meraner
Veröffentlicht
am 05.06.2023
LeuteMythos Mutterinstinkt

„Wir können das Patriarchat nicht smashen“

Veröffentlicht
am 05.06.2023
Journalistin und Autorin Evelyn Höllrigl Tschaikner ist Feministin durch und durch. Wie und warum die gebürtige Leifererin das klassische Bild der Mutter entmystifizieren und patriarchale Grundstrukturen abbauen will.
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Evelyn Höllrigl Tschaikner

Evelyn Höllrigl Tschaikner ist keine Mama, die alles perfekt auf die Reihe bekommt. Muss und will sie auch gar nicht. Sie ist auch keine, die den gesellschaftlichen Anforderungen einer selbstlosen Mutter gerecht werden will. Sie ist Journalistin und Buchautorin – und setzt sich für eine ehrliche Elternschaft ein, die nichts beschönigt, sondern mitten in der Realität fußt. Und sie kämpft für eine Befreiung der Frauen vom Narrativ der „guten, aufopfernden Mutter“

In ihrem neuen Buch „Mythos Mutterinstinkt“, das sie zusammen mit der freien Journalistin Annika Rösler geschrieben hat, geht es um den Begriff der „Muttertät“, einer Entwicklungsphase ähnlich der Pubertät, der den Zustand bezeichnet, in dem frau sich mit Beginn der Schwangerschaft befindet und die über mehrere Jahre andauern kann. Er beschreibt das Mutterwerden als eine Entwicklung, die auf verschiedenen Ebenen passiert und die mit ambivalenten Gefühlen verbunden ist. Das Buch beschäftigt sich auch und vor allem mit der modernen Hirnforschung, die sich die Frage stellt: Was passiert in den Gehirnen werdender Mütter und anderer Bezugspersonen? 

Je größer die Veränderungen im Gehirn einer Mutter außerdem sind, desto leichter fällt ihr die Bindung zu ihrem Kind.

Die niederländische Neurowissenschaftlerin Dr. Elseline Hoekzema lieferte 2016 bahnbrechende Ergebnisse und den neurowissenschaftlichen Beweis, warum sich Frauen in der Schwangerschaft und Geburt plötzlich so anders fühlen: Sie entdeckte, dass eine Schwangerschaft eine drastische Veränderung der Hirnstruktur zur Folge hat. Im Bereich der grauen Substanz kommt es zu einer Volumenverringerung, die, laut Hoekzema, keinen Verlust der Gehirnfunktion darstellt, sondern vielmehr eine neuronale Spezialisierung. Nicht mehr genutzte Verbindungen verschwinden und es wird gewissermaßen Platz gemacht für neue, um „die neuen und anspruchsvollen Herausforderungen, die mit Mutterschaft einhergehen, bestmöglich zu bewältigen.“ Das ist der Beweis für die Existenz der Muttertät. Je größer die Veränderungen im Gehirn einer Mutter außerdem sind – und die sind völlig individuell –, desto leichter fällt ihr die Bindung zu ihrem Kind. Aber: Die Muttertät ist nur ein klitzekleiner zeitlicher Vorsprung in der Sensibilisierung, denn Elternschaft muss – auch von den biologischen Müttern – erlernt werden. 

Dies ist nur ein kleiner inhaltlicher Sneak Peek, aber es dürfte klar sein: Die Neurowissenschaft widerlegt damit den jahrhundertealten Mythos vom Mutterinstinkt. Denn durch die Erkenntnis, dass Elternschaft erlernt werden muss, kann es nicht eine (rein weibliche) Veranlagung zum Muttern geben. Somit könnte die biologische und nicht-biologische Elternschaft komplett neu gedacht und gesehen werden. Hier knüpft Evelyn in ihrer Arbeit nun weiter an – eine Arbeit, die sie bereits vor sieben Jahren begonnen hat. Aber von vorne.

Von mütterlichen Selbstzweifeln zum Erfolgs-Blog
In Südtirol geboren und aufgewachsen zog es Evelyn Höllrigl Tschaikner nach ihrer Oberschulzeit 2006 nach Wien, wo sie Publizistik und Kommunikationswissenschaften studierte. Während ihres Studiums verliebt sie sich in die Stadt – und in ihren heutigen Mann Arnold. Nach dem Studium arbeitet sie als Journalistin, unter anderem für den österreichischen Musiksender „Go TV“ und das „Miss Magazin“. Die junge Frau genießt das Leben in der Großstadt, die Freiheit, das Fernsein von Zuhause und: Sie geht dem nach, was sie gerne tut. „Ich wollte schon immer schreiben, Freelancerin sein und bestenfalls auch mal Bücher schreiben.“ 

Mittlerweile ist Evelyn freie Journalistin, zweifache Autorin und Mama von drei Kindern. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, über ehrliche Elternschaft zu schreiben und Mütter zu entmystifizieren – Mütter, die alles können und alles können müssen. „Ich habe ständig diese einseitige Pinterest- und Instagram-Welt gesehen, in der alles immer so schön und rosig dargestellt wurde. Ich empfand meine eigene Schwangerschaft und auch meine Geburt 2016 aber völlig anders.“

Diese persönliche Wahrnehmung und auch die Tatsache, dass es ihr unglaublich schwer fiel, ihren damaligen Job aufzugeben und in Mutterschaft zu gehen, lässt sie aktiv werden: „Ich konnte nicht nichts tun, das fühlte sich für mich einfach falsch an.“ Also arbeitet die damals 29-Jährige weiterhin freiberuflich für die Miss und beginnt auf ihrem Blog Little Paper Plane über ihre Schwangerschaft und Mutterschaft zu schreiben. Der Blog wird schnell erfolgreich, bekommt rasch eine große Abonnentenzahl und erste Kooperationsanfragen kommen rein. Heute kreiert sie ihre kritischen Inhalte zur Elternschaft fast ausschließlich über ihrenInstagram-Channel. „Ich habe von Anfang an viele Rückmeldungen bekommen, die für mich auch sehr therapeutisch waren und mir gezeigt haben: Meine Gefühle sind ok, es geht nicht nur mir so.“ Die Wahlwienerin merkt: Je mehr sie über ihre persönliche Wahrnehmung und Erfahrungen spricht, je mehr sie enttabuisiert, desto mehr erzählen auch andere Frauen ihre Geschichte.

„Unter dem Post kamen Kommentare, wie: ‚Am Muttertag müssen solche Themen nicht besprochen werden‘ und ‚Mütter müssen geehrt werden‘ und ich dachte mir: Ja, ehre deine Mutter, bring ihr am Muttertag Blumen ans Bett und am nächsten Tag lässt du dir wieder deine Schmutzwäsche von ihr waschen – enjoy! Solche Kommentare sind für mich einfach Zeichen für mangelnde Aufklärung.“ 

Evelyn Höllrigl Tschaikner

Das System ins Wanken bringen

Auch wenn die Autorin sehr viel positive Resonanz bekommt – bei einer Followeranzahl von mittlerweile fast 20.000 und dem Status einer Influencerin, kommen auch immer wieder negative Kommentare. Jüngstes Beispiel: Evelyn postet einen kritischen Beitrag zum Muttertag, in dem sie statt Blumen die Abschaffung des patriarchal geprägten Muttermythos fordert und Themen wie die Selbstbestimmung im Falle einer ungewollten Schwangerschaft, alleinerziehende Mütter oder die Normalisierung von Nicht-Mutterschaft in den Mittelpunkt stellt. „Unter dem Post kamen Kommentare, wie: ‚Am Muttertag müssen solche Themen nicht besprochen werden‘ und ‚Mütter müssen geehrt werden‘ und ich dachte mir: Ja, ehre deine Mutter, bring ihr am Muttertag Blumen ans Bett und am nächsten Tag lässt du dir wieder deine Schmutzwäsche von ihr waschen – enjoy! Solche Kommentare sind für mich einfach Zeichen für mangelnde Aufklärung.“ 

Person, egal welchen Geschlechts, kann, wie die biologische Mutter, gleich gut Eltern sein.

Evelyn ist frech, laut und wird vielen auch mal unangenehm – weil sie verbalisiert, was viele Frauen, vor allem Mütter fühlen, und weil sie Themen aufgreift, die das allseits gewohnte patriarchal geprägte System ins Wanken bringen. Als Mama-Bloggerin bezeichnet sich Evelyn übrigens nicht – es geht ihr auch nicht darum, ihre Familie in den Mittelpunkt ihrer Social-Media-Tätigkeit zu stellen. Diese sei zwar auch vereinzelt sichtbar, stehe aber nicht im Fokus. „Ich bin einfach eine Frau, die auf Social-Media präsent ist. Ich glaube, dass viele damit ein Problem haben, wenn Frauen, vor allem Mütter, sich sichtbar machen und Klartext reden.“ Trotzdem ist sie der Meinung, dass frau als Feministin mehr durch Aufklärung erreicht, als durch ständigen Widerstand. Das Dilemma gemeinsam lösen, ist letztlich ihre Message. Darum soll auch das durch Literatur, fundierte Studien und Interviews mit Wissenschaftler:innen belegte Buch „Mythos Mutterinstinkt“ kein Fingerzeig sein. Sie und Co-Autorin Annika Rösler wollten sachliche Aufklärungsarbeit leisten und Denkanstöße geben: „Wir können das Patriarchat nicht smashen. Das wäre zwar cool, aber wir stecken so tief in dem System drin, dass wir nichts anderes tun können, als die patriarchalen Muster zu erkennen und sie Stück für Stück abzubauen.” Am Ende ist die Botschaft klar: Jede Person, egal welchen Geschlechts, kann, wie die biologische Mutter, gleich gut Eltern sein. Man nehme durch diesen Ansatz niemandem etwas, sagt die Autorin, und letztlich profitieren alle davon: die Kinder, die frei von Rollenbildern aufwachsen. Der Papa, der es gleich gut kann. Oder die Regenbogen- und Adoptiveltern, die genauso liebevoll und intuitiv sein können.

Der „Herr Magister“ und die „Mama“ – echt jetzt?
Immer wieder gerät die Wienerin in Situationen, die sie in ihrem Handeln bestärken. Letztens war sie in einer österreichischen TV-Show zu Gast und wurde bereits in der Programmvorschau als dreifache Mama bezeichnet, was an und für sich nicht schlimm wäre – wäre sie nicht als Autorin ihres Buches eingeladen worden. Ein weiterer Gast, der als elterliche Begleitung für seine Tochter dort war, sprich, als Vater, wurde während der Sendung mit „Herr Magister“ angesprochen, Evelyn hingegen wieder als Mama. „Ich bin auch eine Frau Magister und war eigentlich in meiner Rolle als Journalistin und zweifache Autorin dort. Nicht als Mama. Das ist vermutlich banal und fällt den meisten gar nicht auf. Aber auch das zeigt doch, wie tief wir im Patriarchat drin stecken und wie sehr wir Frauen nach wie vor um eine gleichgestellte Position kämpfen müssen, in allen Bereichen.“

“Natürlich bestärkt es mich zu sehen, wie unsere Arbeit bei meinen Kids Früchte trägt. Wenn sie mich zum Beispiel darauf aufmerksam machen, dass ich vergessen habe zu gendern. Egal wie anstrengend es ist, darauf kommt es an. Die Zukunft beginnt im Kinderzimmer.”

Evelyn Hölligls Tschaikner

„Mama, wir gehen zur Ärztin, nicht zum Arzt!“
Wohin Evelyn Hölligls Tschaikners Reise führt, weiß sie selbst noch nicht. Momentan laufe es für sie gut, beruflich wie privat sei sie happy, sagt sie. Und weil man ja eh nie weiß, was die Zukunft bringt, lässt sie einfach alles auf sich zukommen. Inzwischen arbeitet sie weiter wie bisher, trifft sich mit Freund*innen, hat Spaß an der Mode. Vermittelt ihren beiden Jungs, dass Gefühle total ok sind und ist stolz darauf, wie selbstbewusst ihre Tochter bereits durchs Leben geht. Genießt das Mama-Sein von ihren drei – wie sie ihre Kinder selbst bezeichnet – „Raketen“ und verzweifelt auch immer wieder mal daran. Schreibt darüber, über mütterliche Schuldgefühle und unbezahlte Care-Arbeit und wie Scheiße sie es findet, dass wir zu Schulzeiten nur dann etwas über Frauen gehört haben, wenn sie als Hexen verbrannt wurden. Evelyn eckt an und spricht gleichzeitig so vielen Frauen aus der Seele – und macht wegen beidem weiter. Sie schöpft Kraft aus Gesprächen mit anderen und will mit ihrer Arbeit erst dann aufhören, wenn sie keinen Biss mehr dafür hat. Der Erfolg und die positive Resonanz sind jedenfalls da. „Das ist mein Fuel. Solange der auch nur tröpfchenweise kommt, werde ich weitermachen. Und natürlich bestärkt es mich zu sehen, wie unsere Arbeit bei meinen Kids Früchte trägt. Wenn sie mich zum Beispiel darauf aufmerksam machen, dass ich vergessen habe zu gendern. Egal wie anstrengend es ist, darauf kommt es an. Die Zukunft beginnt im Kinderzimmer.”

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