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Die neue Studie der EURAC-Forscherin Verena Wisthaler zeigt, dass alle Parteien, die angeben, Südtirols deutsche oder ladinische Minderheit zu vertreten, sich Immigration gegenüber skeptisch äußern. Einwanderer werden als Herausforderung oder gar als Bedrohung gesehen. Wisthalers Vergleich der jeweiligen Parteiprogramme hat allerdings ergeben, dass es bei Minderheitenparteien auch anders geht. So kann man beispielsweise im Baskenland und in Schottland eine durchaus offenere Haltung gegenüber Immigration beobachten. Warum es solche Unterschiede gibt, erklärt Verena Wisthaler im Interview.
Werden deutsche und ladinische Südtiroler gegenüber Minderheiten aus dem Ausland, also Immigranten, bevorzugt?
Ob ich das so sagen würde, weiß ich nicht. Die fünf europäischen Regionen, die ich verglichen habe, sind Korsika, Baskenland, Wales, Schottland und Südtirol. Hier habe ich mir anhand der Parteiprogramme, Parteireden und Pressemitteilungen der letzten zwanzig Jahre jeweils angeschaut, wie die traditionellen Minderheitenparteien mit neuen „Minderheiten” umgehen. Allerdings deutet der Ausdruck „Minderheiten“ darauf hin, dass es sich um eine Gruppe handelt. Deswegen verwende ich stattdessen den Ausdruck „Immigranten“, da man es mit einer sehr heterogenen Ansammlung von Menschen zu tun hat. Es geht in meiner Forschung also nicht um die Haltung einer Bevölkerungsgruppe, sondern um die Haltung der Parteien. Und bei unseren Minderheitsparteien (SVP, BürgerUnion, Süd-Tiroler Freiheit und Freiheitliche) kann man feststellen, dass die Haltung zur Immigration keine positive ist.
In der Studie wird die negative Haltung beispielsweise daran festgemacht, dass man Immigration „kontrollieren“ will. Ist kontrollieren zu wollen etwa bereits ein Zeichen von Ablehnung?
Nein. Es hängt aber davon ab, welches Ziel man mit der Kontrolle erreichen will. Bei unseren Parteien erkennt man, dass Immigration als eine Herausforderung, wenn nicht sogar als Bedrohung gesehen wird, wie etwa bei den Freiheitlichen. Als Bedrohung nimmt man sie wahr, weil man beispielsweise Angst hat, dass die eigene Sprache und Kultur untergehen oder dass die eigene Minderheit gewisse Rechte verliert. Nicht zuletzt befürchtet man auch, dass finanzielle Ressourcen, die zuerst der eigenen Bevölkerungsgruppe zustanden, auch mit anderen geteilt werden müssen. Darum fordern alle vier genannten Parteien mehr Kompetenzen vom italienischen Staat, um die Einwanderung nach Südtirol zu kontrollieren.
Immigration kontrollieren zu wollen, schließt also nicht aus, dass man Immigration befürwortet?
Das schließt sich überhaupt nicht aus, denn die Schottische Nationalpartei und auch die Baskische Nationalpartei fordern auch mehr Kompetenzen vom Staat, um die Einwanderung zu regulieren. Allerdings mit anderen Zielen: Hier will man nicht beschränken, sondern Immigration sogar fördern. Man sieht darin keine Bedrohung, sondern eine Chance zur Modernisierung und Erneuerung der Gesellschaft und der Region.
Wie kommt es, dass Basken und Schotten einen so anderen Blickwinkel haben?
Oft handelt es sich dabei um eine ganz bewusste Parteistrategie. Man will zeigen, dass man anders ist als „die in London“ oder „die in Madrid“. Selbst stellt man sich als die guten Europäer dar, während in der Hauptstadt die „Bösen“ sitzen. Es gibt aber auch andere Erklärungen. In Schottland zum Beispiel leidet man unter einem beträchtlichen Mangel an Arbeitskräften, weshalb die regionalen Parteien versuchen, Leute aus dem Ausland anzuwerben, um die Wirtschaft aufrechtzuerhalten. Im Baskenland argumentiert man hingegen aus historischen Hintergründen heraus: Als ein Land, das unter Franco sehr mit der Unterdrückung der eigenen Kultur und mit der Beschneidung von Rechten gekämpft hat, will man nicht dieselben Fehler wiederholen.
Und hierzulande?
Was in Südtirol besonders ist und auch die Position zur Immigration beeinflusst, ist die institutionelle Trennung der Sprachgruppen. Das schlägt sich auch im Denken, nicht nur in der Politik, sondern in der gesamten Gesellschaft nieder. Es zeigt sich etwa in den Proporzregelungen in verschiedenen Bereichen, aber auch daran, wie die politische Macht zwischen den Sprachgruppen verteilt wird, zum Beispiel braucht eine deutsche Partei einen italienischen Koalitionspartner, um zu regieren. Daraus ergibt sich ein sehr starkes Gruppendenken: Wer ist wer, wie kann man die Gruppen mischen, und wer ist wie stark?
Denken andere Minderheitsparteien also weniger in Gruppen?
In den anderen Fällen, die ich untersucht habe, ist das Gruppendenken jedenfalls nicht institutionalisiert. Und das macht einen großen Unterschied. In Südtirol nehmen auch schon die Einwanderer dieses Gruppendenken auf. Man kann beispielsweise beobachten, dass vor etwa 20 Jahren Immigrantenfamilien ihre Kinder noch fast ausschließlich in italienische Schulen eingeschrieben haben; heute hingegen entscheiden sie sich viel häufiger auch für die deutschsprachige Schule. Das kann unter anderem damit zusammenhängen, dass Deutsch in Südtirol eine Prestigesprache darstellt und sie deswegen die Chancen im Berufsleben erhöht. Dieses Bewusstsein sickert zunehmend auch zu den Immigranten durch.
Inwiefern sind Minderheiten untereinander überhaupt solidarisch, wenn sie auf engem Raum zusammenleben?
Dazu gibt es zwei gegensätzliche Theorien und für beide findet man Fälle, mit denen man sie begründen kann. Die eine Theorie besagt, dass Minderheiten untereinander solidarischer sind, weil jede Minderheit selbst die Erfahrung von Assimilation und Unterdrückung gemacht hat und man deswegen diese Erfahrung nicht weitergeben will. Die andere Theorie geht davon aus, dass sich jede Minderheit auf ihre eigene „Überlebensstrategie“ konzentriert und deswegen nicht mit anderen Gruppen teilen will, vor allem hinsichtlich der finanziellen Ressourcen.
Gibt es auch unter den Einwanderern eine gewisse Gruppenhierarchie?
Ob sich beispielsweise die Sinti mehr von eingewanderten Albanern bedroht fühlen als von anderen Roma, kann ich nicht sagen. Auch hier kann ich die Frage wieder hinsichtlich meiner Forschung, also aus der Sicht der deutsch-ladinischen Parteien beantworten. Es ist nämlich sicher so, dass man mit Blick auf den Schutz der eigenen Minderheit jene Immigranten bevorzugt, deren Kultur leichter mit der deutschen und ladinischen vereinbar ist. Das träfe etwa auf Personen aus dem ehemaligen Habsburgerreich oder Personen mit katholischem Hintergrund zu.
Als Wissenschaftler muss man neutral bleiben. Das kann bei einem so kontroversen Thema zuweilen sicher auch schwierig sein.
Grundsätzlich hat jeder Mensch, egal ob Wissenschaftler, Politiker oder Journalist, eine eigene Meinung. Das ist dann aber eine persönliche Meinung und hat nichts mit Forschung zu tun, denn Forschung muss wissenschaftlich begründbar, belegbar und auch nachvollziehbar sein für Personen, die vielleicht eine andere Meinung haben. Ausschlaggebend ist auf jeden Fall das Interesse für ein Thema. Das jeweilige Interesse bestimmt dann auch, worüber genau ein Wissenschaftler forscht.
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