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Triggerwarnung:
Die folgenden Texte enthalten Schilderungen von sexualisierten Gewalthandlungen, die belastend und retraumatisierend wirken können.
Der Missbrauch an Kindern und Jugendlichen ist ein Verbrechen. Darüber zu sprechen ist trotzdem ein Tabu. Die Hemmschwelle für Betroffene ist hoch, die Missverständnisse rund ums Thema sind groß, bei den Anlaufstellen, den Therapieangeboten und den Präventionsmaßnahmen könnte noch vieles getan werden.
Die Autorin und Psychotherapeutin Veronika Oberbichler hat nach einem Aufruf des Dokumentarfilmers und Fotografen Georg Lembergh mit acht Betroffenen intensive Gespräche geführt. Das bei Edition Raetia erschienene Buch (200 Seiten, 29 Euro) gibt diese Gespräche wieder, eingebettet in kurze informative Sachtexte und begleitet von Schwarzweiß-Fotografien der Betroffenen von Georg Lembergh. Die Herausforderung für Text und Bild war, die Anonymität der Betroffenen zu waren. Alle Namen, Orte Berufe und andere personenbezogenen Angaben wurden verändert. Allein dies zeigt, wie schwer es immer noch fällt darüber offen zu sprechen. Genau dies soll das Buch bemerken: Das „Wir“ im Titel bezieht sich nicht nur auf die Betroffenen, sondern auf uns alle, auf die gesamte Gesellschaft: Wir alle müssen das Schweigen brechen, erst dann fällt es Betroffenen leichter, ihre Geschichte zu erzählen, und erst dann entsteht eine Sensibilität fürs Thema, damit im Verein, in der Nachbarschaft, in der Kirche und anderen Organisationen Maßnahmen ergriffen werden, um Missbrauch zu verhindern.
Die Gespräche im Buch sind berührend, erschütternd, aber auch ermutigend. Dabei zeigt sich, dass die Formen des Missbrauchs vielfältig sind, dass es unterschiedliche Schweregrade gibt, dass aber jeder Missbrauch Folgen hat und Spuren hinterlässt. Ein Beispiel hierfür ist Lisa, Studentin, 20 Jahre alt. Sie lebt mittlerweile in Deutschland. Der Missbrauch hat in der Beziehung stattgefunden, der Täter selbst minderjährig bzw. ein junger Erwachsener.
Lisa, was hat dich motiviert, dieses Interview zu geben?
Ich glaube, seitdem ich meinen Freund habe, also seit einem halben Jahr ungefähr, versuche ich noch aktiver das, was passiert ist, zu verarbeiten. Meine Psychologin hat mir von dem Buchprojekt erzählt. Sie hat mich gefragt, ob das etwas für mich wäre. Anfangs war ich skeptisch, ich hatte ja oft das Gefühl, dass mein Erlebnis vielleicht gar nicht so schlimm ist, wie ich es wahrgenommen habe … dass ich halt einfach Pech hatte. Der Gedanke, dass jemand meine Geschichte in einem Buch über Missbrauch veröffentlichen will, hilft mir. Es zeigt mir: „Das war schon wirklich so, ich kann mir vertrauen und mich ernst nehmen.“ Ich glaube, das gibt mir eine Art Daseinsberechtigung zurück.
Also, um es für dich selbst auch nochmals zu erklären, oder? Deshalb machst du mit.
Ja, auch deshalb.
Wie habt ihr euch denn kennengelernt?
Über Facebook sind wir zum Reden gekommen, genau zu dem Zeitpunkt, als ich total traurig war. Er hatte ein offenes Ohr für mich, hat mit mir geredet und mir zugehört. Und mein kleines, dummes Ich war so: „Wait, wait! Da hört mir jemand zu, aber so richtig! Und der interessiert sich für das, was ich sage.“ So haben wir uns dann kennengelernt, über diese Gespräche. Und ich, die sich da so erhört gefühlt hat … (Lisa stockt). Es ist echt unangenehm, darüber nachzudenken, dass das so gestartet ist. Es war vorherzusehen, wenn man jetzt so darüber nachdenkt, denn irgendwie ist das einfach so doof … Aber ja …
Wieso wars vorherzusehen? Das verstehe ich jetzt nicht …
Weil jemand, der verzweifelt nach jemandem sucht, der ihm zuhört, ein leichtes Opfer ist. Weil man dann auf jemanden anspringt, der so tut, als ob er zuhören würde.
Na ja … Der Startpunkt war also über Facebook?
Ja, doch es hat nicht lange gedauert und wir haben auch telefoniert.
Und wie alt warst du da?
14 war ich.
Und er?
15. Er ist in derselben Stadt zur Schule gegangen wie ich, deswegen haben wir uns dann auch bald getroffen. Ich weiß es noch genau. Es war ein Freitag, der 13. Das werde ich nie mehr vergessen. Durch irgendeinen Zufall sind wir beide nach der Schule länger geblieben und so hat es sich einfach ergeben. Ja, und da hat er auch schon … (Lisa wird wieder ernst). Das ist so unangenehm, wenn man darüber nach- denkt … Egal … An dem Tag hat er gleich Annäherungsversuche gemacht. Eigentlich typisch wie in Büchern, so richtig umworben, weißt du so … viel Aufmerksamkeit … du bist so toll und so schön … Komplimente halt. Wir sind an dem Tag dann auch zusammengekommen.
Wie habt ihr euch das ausgemacht, dieses Zusammenkommen?
Er hat ganz direkt gefragt, ob ich seine Freundin sein will.
Und du hast eingewilligt?
Ja. Ich hatte bis dahin noch niemandem von ihm erzählt, weil … Ich weiß nicht mal, warum ich das nicht getan habe. Es war dann für alle überraschend.
Ich weiß noch, das ist auf eine extrem erniedrigende Art und Weise passiert. Das fasse ich immer noch nicht. Diese komplette Erniedrigung, die ich in dem Moment empfunden habe.
Und dann seid ihr zusammengekommen und habt euch vermutlich öfter getroffen, oder wie war das?
Er war von einem anderen Ort als ich, also haben wir vereinbart, dass wir uns jeden Freitagnachmittag treffen. Ich bin zu ihm gefahren und kann mich noch gut erinnern, dass ich das Gefühl hatte: „Wow, das ist eine Person, die sich für mich interessiert, krass.“ Am zweiten Freitag ging dann alles sehr schnell … Also ich wusste, dass er keine Jungfrau mehr war. Und er wusste, dass ich Jungfrau war. Die Fronten waren geklärt. Wir waren bei ihm und haben uns geküsst, uns auch ausgezogen, und er hat ein Kondom aus seinem Nachtkästchen rausgeholt. Er hat es aufs Bett gelegt und gesagt: „Ja, wenn du es dann bist, dann nimmst du es.“ Ich weiß noch, wie ich dachte, okay, ich muss mich nur überwinden, das anzufassen. Mir war bewusst, dass es an diesem Nachmittag sein soll, mit ihm … Ich dachte mir, komm, jetzt tu es einfach, so läuft das halt. Und dann haben wirs halt irgendwann getan … Also, für mich war das nie wirklich eine Entscheidung, ob, sondern nur dass ich es halt jetzt tun sollte. Ich glaube nicht, dass … (Lisa stockt). Wenn er das nicht so gemacht hätte, ich glaube nicht, dass ich an dem Tag mein erstes Mal gehabt hätte. Da bin ich mir ziemlich sicher.
Das heißt, an dem zweiten Freitag, wo ihr euch getroffen habt, ist es praktisch zum ersten Geschlechtsverkehr gekommen? Kannst du dich noch erinnern, wie du das erlebt hast?
Ich weiß nicht mehr, wie der Sex da war.
Ich habe keine Ahnung mehr, wie sich das angefühlt hat, ob es irgendwie wehgetan hat oder so. Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er gleich danach geraucht hat und mich dann die ganze Zeit geneckt hat, so: „Ja, wie fühlt sichs jetzt an? Ist es jetzt ganz anders?“ Das hat mich gestört, das mochte ich nicht. Wir sind danach auch gleich irgendwohin gegangen, weil er mit seinen Kollegen Fußball gespielt hat. Ich bin dann alleine dagesessen, weil ich ja keinen gekannt habe. Das war nicht angenehm. Ich bin dagesessen, so, das wars …
Wie ist das weitergegangen?
Danach haben wir uns weiterhin gesehen, also jeden Freitag, und jedes Mal, wenn wir uns gesehen haben, hat es Sex gegeben. Ich weiß nicht mehr, ob es beim dritten, vierten, fünften Treffen war, als er meinte, ich könne mir aussuchen, ob ich ihm einen blase oder ob ich ihm einen runterhole. Also, nicht, ob ich das tun möchte, sondern: Du kannst dir aussuchen, was du tust. Also, über das hatte ich mir wirklich noch nie Gedanken gemacht … Ich meine, ich war 14! Das war bislang in meinem Weltbild noch nicht aufgetaucht. Und er meinte nur: „Sag einfach die Zahl Eins oder Zwei!“ Und er überlegt sich dann halt, was das eine und was das andere ist. So wie ein Zufallsgenerator. Es ist dann rausgekommen, dass ich ihm einen blasen soll.
Lisa stockt. Ich ermutige sie weiterzuerzählen, wenn es für sie passt.
Ich weiß noch, das ist auf eine extrem erniedrigende Art und Weise passiert. Das fasse ich immer noch nicht. Diese komplette Erniedrigung, die ich in dem Moment empfunden habe. Er ist praktisch auf der Couch gesessen und hat mich auf dem Boden knien lassen, also wirklich auch dieser komplette „Höhenunterschied“. Ich glaube, mit seiner Hand war er an meinem Kopf. Ich wusste ja nicht, was ich tun soll. Woher auch … Ich versteh nicht, was der für einen Sexualdrang gehabt hat, der Typ. Ich habe seitdem eine extreme Abneigung gegen diese Art von Sexualität, wirklich. Aber damals habe ich es so gar nicht einordnen können. Für mich war es dann einfach so und für ihn war klar, dass er alles mit mir machen kann. Deshalb hat es auch ab dem Tag geheißen, wenn wir uns sehen, gibt es nicht nur Sex, sondern ich habe ihm auch immer einen geblasen.
Praktisch hat er entschieden, was die Sexualität zwischen euch beinhaltet. Er hat das Programm vorgeschlagen oder verlangt.
Vorgegeben.
Und den Freundinnen hast du auch nichts erzählt?
So ein bisschen vielleicht, dass ichs getan hab oder so, aber nicht mehr. Es ist dann ja weitergegangen. Wir waren insgesamt sechs Monate oder so zusammen und ich habe blöderweise nicht oft Nein gesagt. Am Anfang hatte ich nicht verstanden, dass ich auf das, was er wollte, gar nicht Lust habe. Er aber hat ganz oft gesagt: „Ja schau, du hast ja Bock!“ Auch wenn mein Kopf gar keinen Bock hatte. Aber das war ihm egal, auch wenn mein Körper nicht mitgemacht hat. Das hat ihn extrem gestört und das hat dann dazu geführt, dass ich ihm öfter einen blasen musste. Einmal ist ein Kondom gerissen, irgendwann am Anfang, und ab da hat er beschlossen, dass er keines mehr verwenden will, weil es doch reißt. Er meinte, er wisse schon, wann er kommt, und er würde ihn dann einfach rausziehen. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, war das mit das Schlimmste, das er getan hat, weil das mir gegenüber so verantwortungslos war.
Und weil er auch nicht gefragt hat, ob das passt. Er hat das einfach so gemacht. Ich hatte nur viel Glück. Damals, als das Kondom gerissen war, hatte ich Schiss, dass ich schwanger bin, und habe einen Schwangerschaftstest gekauft. Mit 14!
Diese Erniedrigungen gab es also in vielen Bereichen, und diese Entwertung dir gegenüber.
Ja, voll. Ich habe einmal Nein gesagt, das wollte ich vorher schon erzählen. Einmal bei einer Sache habe ich von Anfang an Nein gesagt. Und zwar wollte er Analsex haben. Ich also: „Nein! Das will ich nicht!“ Und ich weiß nicht, ob er es absichtlich getan hat oder ob es nicht absichtlich war, jedenfalls hat er es getan. Und er hat auch nicht aufgehört, obwohl ich offensichtlich Schmerzen hatte. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich richtig geweint habe oder ob nur diese ein, zwei Schmerzenstränen gekommen sind, die halt kommen, wenn etwas voll weh tut. Jedenfalls hat er sein „Zeug“ getan. Das war dann der Zeitpunkt, wo ich mich einfach ausgeklinkt habe aus dem ganzen Geschehen. Also, wenn ich bei ihm war, dann war ich irgendwann einfach so: Ja lass ihn tun … ah, das wieder? Lass ihn einfach machen, dann hast du wieder Ruhe. So habe ich immer weitergemacht. Einmal war ich bei ihm, da hatte ich die Regel. Wenn man die Regel hat, ist man immer extrem verletzlich, da ist man viel emotionaler als sonst. Ich hatte sie nicht mehr stark,aber ich hatte sie auf jeden Fall noch. Und sogar da hatten wir, ich glaube, ein, zwei Mal Sex. Und ich musste ihm, logisch, auch einen blasen. Normalerweise sagte er, wenn ich die Regel hatte: „Ja, dann sehen wir uns ein anderes Mal.“ Da war ich froh, aber das war dann halt auch nicht immer so. Irgendwann habe ich angefangen ihn ein bisschen zu testen, also, ich habe gesagt: „Ich habe gerade nicht so Lust.“ Aber dann wurde er wütend und ich habe dann immer gleich gesagt: „Nein, nein, es passt. Geht schon gut.“ Denn einmal ist er richtig zornig geworden und hat so seine Hand ein wenig gehoben. Da dachte ich sofort: „Nein, du darfst nicht wütend sein.“ Das könnte echt schlecht enden für mich.
Das Buch:
Veronika Oberbichler, Georg Lembergh
Wir brechen das Schweigen
Betroffene sprechen über sexuellen Missbrauch
Euro 29,00 [I]; 32,00 [D/A]
ISBN: 978-88-7283-785-6
Das Buch ist auch als E-Book erhältlich.
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